DIE WAHRHEIT IST UNGETEILT
von
Ernest Hello
Vorbemerkung:
Am 15. April jährte sich der 100. Todestag von Ernest Hello, jenes
großen Dichters, der von seinen zeitgenössischen Landsleuten fast
übersehen, zusammen mit Leon Bloy den Grundstein für die Erneuerung des
religiösen Denkens in Frankreich legte. Hello war überzeugt, daß es
"auf Erden nur ein Problem" gibt: "Es ist das Problem der Anbetung"
Gottes.
Hello war am 4. November 1828 zu Lorient in Frankreich geboren worden.
Er studierte Jura, doch nach erfolgreich absolviertem Examen entsagte
er aus Gewissensgründen der angestrebten Advokatenlaufbahn, da die
Advokatenkammer inzwischen beschlossen hatte, ein Anwalt könne auch
schlechte Angelegenheiten führen. Auf dem elterlichen Landgut seiner
Eltern widmete sich dieser "Pilger des Absoluten" fortan ausschließlich
der religiösen Schriftstellerei. Dort starb er auch am 15.4.1885.
Zu den wichtigsten Werken, die auch ins Deutsche übertragen wurden,
zählen die "Heiligengestalten", "Worte Gottes", "Welt ohne Gott", "Der
Mensch", "Mensch und Mysterium" und "Seltsame Geschichten". Es erübrigt
sich fast zu sagen, daß in einer Zeit, die Gott haßt, religiöse Bücher
wie die von Hello nicht mehr verlegt werden.
Eberhard Heller
***
Ein kleines Mädchen sagte unlängst zu ihrer Klavierlehrerin: "Warum
geben Sie mir schlechte Noten?" - "Weil du schlecht geübt hast." -
"Dann müssen Sie mir gute geben. Papa hat mir gesagt, daß man Böses mit
Gutem vergelten muß."
Das ist ein hübsches Wort im Munde eines kleinen Mädchens, aber es hat
noch einen anderen, wertvolleren und selteneren Vorzug: es macht
nachdenklich. Es entführt den Gedanken in sehr entfernte Gegenden. Und
von dem kleinen, ungelehrigen Mädchen schweift der Geist zu den Weisen,
die die Welt lehren. Und wir finden die Worte des Kindes wieder auf den
Lippen jener Sophisten, welche verlangen, daß man aus Herzensgüte,
ihrem Widerstreben zu Liebe, einen Teil der Wahrheit aufgibt. Auf
diesen Lippen klingt das Wort weniger heiter, aber wenn es an
Heiterkeit verliert, so verliert es nichts an Bestimmtheit.
Es sind nun neunzehnhundert Jahre, seitdem die andersgläubige
Philosophie der katholischen Kirche dasselbe sagt, was das kleine
Mädchen seiner Klavierlehrerin sagte. Das kleine Mädchen und die
andersgläubige Philosophie berufen sich beide auf die gleiche Liebe,
und zwar tun sie es auf die gleiche Art, mit dem gleichen Anspruch und
im Namen der gleichen Logik.
Einer der in der Welt und besonders in unserer Zeit am stärksten
verbreiteten Sophismen besteht in der Verwechslung der persönlichen
Liebe mit dem Zugeständnis in Glaubensdingen: "Das Evangelium ist eine
Religion des Friedens und der Liebe, so gebt uns die Erlaubnis, davon
wegzuschneiden, was uns mißfällt. Um der Liebe zur Eintracht willen:
gebt diese Unfehlbarkeit in Glaubensdingen auf, die uns oeizt, wir
werden euch in die Arme sinken, sobald ihr in die unseren gesunken
seid." Das ist, als hörte man einen Kranken zu einem Arzt sagen: "Sie
sind doch ein guter Mensch, schonen Sie bitte den Krebs, der mich
zernagt. Er will nicht von mir ablassen, und ich meinerseits will
niemanden entgegensein, nicht einmal diesem Ding, das Hunger hat und
mich frißt. Wir wollen sein Bestreben nicht unterbinden, vielleicht
will das Ungeheuer zum Menschen werden. Könnten Sie so grausam sein,
ihm sein Brot zu entreißen?"
Von der dunklen Nacht begünstigt, hat sich Verwirrung in den Bereichen
des Menschengeistes ausgebreitet. Zuerst ist die Wahrheit
zurückgewiesen worden, dann der Begriff der Wahrheit. Nachdem der
Menschengeist der Lehre entsagt hatte, hat er sogar die Bedeutung
dieses Wortes vergessen. Nachdem er das Unwandelbare verworfen hatte,
hat er das Bewußtsein der Unwandelbarkeit verloren. Nachdem er die
Prinzipien aufgegeben hatte, hat er vergessen, was ein Prinzip ist, und
wollte in den Bereich der Gefälligkeit lenken, was als absolute
Bedingung absolute Härte voraussetzt. Wie nach einem Kriege die
kriegführenden Parteien, vom Staub und vom Blut müde, einander diese
oder jene Festung abtreten, so verlangt nach dem Geisterkriege die
andersgläubige Philosophie von der Kirche, diese oder jene Wahrheit
aufzugeben, und verspricht, wenn dies geschehen ist, ein faulen
Frieden. Aber die Kirche, streng wie die Liebe und hart wie die
Wahrheit, singt das Credo. Das ist ihre Antwort. Sie kann nicht
antworten ohne zu singen, denn sie kann nicht streiten ohne zu lieben.
Ihre Antwort ist ewig, ihr Gesang ist unbeugsam, entsprechend den
Gesetzen des ihm eigenen Organismus, unbeugsam wie die Mathematik, aus
der er hervorgeht.
Aber hier steht der christliche Apologet vor einer furchtbaren Klippe:
vor der Versuchung, in gewissen Dingen nachzugeben mit der Absicht, in
der Hoffnung, gewisse Leute anzuziehen. Die Versuchung, gefällig zu
sein in den Prinzipien, kann den Apologeten beschleichen. Er fürchtet
zu reizen, er möchte mildern und er wird zaghaft.
Er will, zum Beispiel, nicht mehr von den Höhen des Gedankens und der
Liebe sprechen, noch von den seltenen Gipfeln, auf denen ein paar Adler
von edler Rasse ihr Nest gebaut haben, denn diese Dinge würden die
kleingewordenen Menschen erschrecken. Der zaghafte Apologet gibt seiner
Schwäche den Namen Liebe, und indem er einer Minderung des Christentums
zustimmt, redet er sich selbst ein, dies geminderte Christentum werde
größeren Erfolg haben, und, kleiner geworden, besser aufgenommen
werden. Ohne auf jemanden anzuspielen und ohne die guten Absichten zu
leugnen, die sich hinter diesem Irrtum bergen können, haben wir das
Recht und die Pflicht, den Irrtum zu zeigen, wie er ist.
Das durch Nachgiebigkeiten lau gewordene Christentum wird keine Flammen
mehr entzünden. Jede Wahrheit ist nur mächtig in ihrer Ganzheit. Das
Christentum kann nur in seiner Fülle angenommen werden. Jedes
Zugeständnis macht es nicht etwa annehmbarer, sondern bringt die
unmittelbar entgegengesetzte Wirkung hervor. Denn das göttliche
Prinzip, auf dem es begründet ist, verdankt seine ganze Macht seiner
Unversehrtheit.
Der Apologet, der zaghaft wird, kann ehrlichen Herzens glauben, daß er
damit das Christentum anziehend macht für die Menschen. In Wirklichkeit
macht er sich, seine eigene Person anziehend. Die Menschen nähern sich
ihm und entfernen sich von dem Prinzip, in dessen Namen er spricht. Was
er für seinen Erfolg hält, ist der größte Mißerfolg. Denn der größte
Mißerfolg eines Menschen, der sich äußert, besteht darin, daß man an
ihn denkt, daß er seine Person annehmbar macht statt der Sache, die er
vertritt. Die Menge ist ein kleines Mädchen. Wenn ihr Lehrer ihr gute
Noten gibt, obwohl sie aus dem Takt gerät, so klatscht sie freilich der
Person des Lehrers Beifall, aber sie gerät immer mehr aus dem Takt.
Das Christentum ist unteilbar. Der kühne Verteidiger, der es darstellt,
wie es ist, in seiner herben Fülle, mag mißfallen, aber er macht
Eindruck, und er wird vielleicht eines Tages selbst erstaunt sein, wenn
er aus dem Samen, den er gestreut hat, den Baum wachsen sieht. Die
Einigung kann kein Abstieg sein, sie kann nur ein Aufstieg sein. Sie
wird niemals erreicht werden durch die Verarmung derer, die mehr
besitzen, sondern durch die Bereicherung derer, die weniger besitzen.
Sie ist unmöglich in der Minderung, sie ist wirklich und stark in der
Fülle der Wahrheit. (...)
Der Mensch nimmt die Belehrung durch den Menschen hin. Physik, Chemie,
Medizin, Mathematik, Physiologie, all das wird vorgetragen, ohne daß
sich eine Seele darüber aufregt. Der technische Teil der Kunst und der
Literatur wird sogar mit erstaunlicher Gelehrigkeit angenommen. Die
Kritik wiederholt unausgesetzt jahrhundertealte Irrtümer, mit denen man
sich so leicht abfindet und die so tief eingewurzelt sind, daß man sie
für unüberwindlich halten sollte. Aber die Grunddogmen der Religion und
der Gesellschaft können sich nicht zeigen, ohne daß der Mensch schreit.
Wäre die Gesellschaft nicht etwas Göttliches, so würde man sie nicht
verwünschen. Man kann die Revolution als den Haß gegen die menschliche
Gesellschaft definieren. Aber das Phänomen dieses Hasses ist nur durch
das Eingreifen Gottes in das soziale Geschehen zu erklären. Weil die
Revolution eine religiöse Leidenschaft ist, hat sie die Energie
besessen, das zu tun, was sie seit hundert Jahren getan hat. Wäre sie
eine menschliche Leidenschaft gewesen, sie wäre tot, ohne weiter von
sich reden zu machen, oder sie wäre nicht einmal geboren.
Das achtzehnte Jahrhundert hat über das Christentum gespottet. Das
neunzehnte spricht oft mit Achtung von ihm. Das achtzehnte Jahrhundert
wollte die Religion abschaffen, das neunzehnte erklärte, daß es ihrer
bedürfe. Indessen, in einem Punkte sind das achtzehnte und das
neunzehnte Jahrhundert einig: im Haß gegen die Übernatur. Das
neunzehnte Jahrhundert tritt anscheinend für eine unbestimmte
Absurdität ein, für eine Religion ohne Dogmen, die unterschiedslos
Bejahungen und Verneinungen billigt und auch die Halbheiten, die
dazwischen liegen. Für eine Religion, der Freunde und Feinde gleich
lieb sind und die nichts bejaht, ohne ihren Gläubigen zu erlauben, das
zu leugnen, was sie bejaht. Diese Religion hätte einige Aussicht, den
Menschen zu gefallen, denn sie wäre ja ihr Kind.
(aus. "Mensch und Mysterium" Heidelberg 1959, S.347-354) |