DER BEVÖLKERUNGSRÜCKGANG
ALS SOZIALE ERRUNGENSCHAFT
von
Univ.Prof. Dr. Robert Hepp
Über die demographische Lage der Bundesrepublik braucht man kein Wort
mehr zu verlieren. Selbst unser sonniger Bundeskanzler hat sie - sogar
vor der Frauenvereinigung seiner Partei - wiederholt als
"katastrophal" bezeichnet. Mit einer Geburtenrate, die seit Anfang der
siebziger Jahre auf dem Niveau angelangt ist, das bisher nicht einmal
in den schlimmsten Kriegszeiten erreicht worden ist, und mit 1,3
Geburten pro Frau (ZGZ) - etwa 2,2 wären zur Erhaltung des erreichten
Bevölkerungsstandes erforderlich - verringeit sich die Bevölkerung der
Bundesrepublik derzeit alljährlich um etwa 2oo.ooo Deutsche. Nur durch
die Anwesenheit der Ausländer wird die Tatsache verdeckt, daß wir in
den letzten 15 Jahren um etwa 3 Millionen abgenommen haben. Nach den
Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes werden bei einer
Fortdauer des "generativen Verhaltens", wie es sich seit den siebiziger
Jahren eingespielt hat - und die Prämisse einer konstanten
Fruchtbarkeit ist die einzige "Unbekannte", die in diese Berechnungen
einging! - im Jahre 2o2o noch 43 Millionen und im Jahr 2o3o ganze 38
Millionen Deutsche übrig sein, von denen am Ende 28% über 65, 35% über
6o und etwa die Hälfte über 5o Jahre alt sein werden. Auf eine Geburt
werden dann drei Beerdigungen entfallen!
Man muß kein Pessimist sein, um sich unter solchen Umständen die
deutsche Zukunft in den schwärzesten Farben vorzustellen. Man braucht
nur den Problemkatalog über die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs
auf die verschiedenen Bereiche von Staat und Gesellschaft zu studieren,
den die interministerielle "Arbeitsgruppe für Bevölkerungsfragen" dem
Bundestag vorgelegt hat (Bundestagsdrucksache 10-863 vom 5.1.1984), um
die "Umstellungsschwierigkeiten" zu ahnen, die mit dem
Bevölkerungsrückgang langfristig auf uns zukommen würden. Ganz
abgesehen von der direkten Beeinträchtigung der politischen Position
der Bundesrepublik in Europa und in der Welt, wären die Folgen für die
Wirtschaftsentwicklung und den Arbeitsmarkt, für die Alters-Sicherung
und das Gesundheitswesen, für den Bildungsbereich und andere Zweige der
Da-Seinsvorsorge, für die gesamte Regional- und Infrastruktur und nicht
zuletzt auch für den Fiskus so verheerend, daß es selbst der um
"Entdramatisierung" bemühten Regierungskommission nient recht gelingen
wollte, die drohende Gefahr zu bagatellisieren.
In einigen Bereichen sind die Probleme so gravierend, daß sie sogar von
den Parlamentariern gesichtet worden sind, die sonst nicht über den
Tellerrand einer Legislaturperiode hinauszuschauen pflegen. So wird
aufgrund des Geburtenrückgangs die Zahl der Wehrdienstfähigen von
366.9oo im Jahr 1983 auf 181.2oo im Jahr 1997 zurückgehen. Ohne
"Sondermaßnahmen" (Verlängerung des Wehrdienstes, Verringerung der
Ausnahmen von Wehrpflicht, Einsatz von Frauen bei der Bundeswehr,
Erhöhung des Anteils der Längerdienenden usw.) wäre bereits in den
neunziger Jahren der "Friedensumfang" der Bundeswehr von 495.000 und
der "Verteidigungsumfang "von 1.250.000 Soldaten nicht mehr zu halten.
Schon bei einem "Friedensumfang" von 430.000 Mann wäre die Bundeswehr
auf einen Überraschungsfall nicht mehr eingestellt. Bei einer Reduction
auf 4oo.ooo Soldaten müßte das Heer auf 13 der 38 präsenten Brigaden
verzichten, die Luftwaffe einzelne fliegende Kampfverbände auflösen,
und bei der Marine würden zwischen 3o und 2o% der Seekriegsmittel für
die Nordsee und Ostsee entfallen. An eine "Vorneverteidigung" wäre
nicht mehr zu denken. Die "atomare Schwelle" müßte gesenkt werden. Da
aus den künftigen Jahrgangsstärken auch mit "Sondermaßnahmen" nicht
einmal eine Streitkraft von 3oo.ooo Mann zusammengebracht werden kann,
muß sich die Bundesrepublik nach 1995 auf die anderen Natoverbündeten
oder gar auf ihre "friedenspolitische Glaubwürdigkeit" verlassen, falls
sie das Altersheim Bundesrepublik nicht mit türkischen
Nato-Janitscharen schützen oder auf jede Verteidigung verzichten will.
Angesichts der heftigen Debatten über Notmaßnahmen, mit denen man die
Probleme kurzfristig "in den Griff bekommen" will, flagen sich
hellsichtige Beobachter, warum man denn unbedingt bis 1995 durchhalten
wolle, "wenn das Ende ohnehin feststeht". (Karl Feldmeyer)
Ein anderes Feld, auf dem die politischen Pragmatiker sich selbst und
ihre Klientel mit kurzfristig wirksamen Notlösungen über die
langfristigen Konsequenzen des Geburtenrückgangs hinwegtäuschen, ist
das System der gesetzlichen Altersversicherung, das nicht von ungefähr
ins Zentrum des öffentlichen Interesse gerückt ist. Es versteht sich
von selbst, daß das bisher praktizierte "Umlageverfahren" bei einer
ständig abnehmenden und alternden Bevölkerung nicht mehr funktionieren
kann. Dieses staatstragende System, das nicht nur den "obersten Wert"
der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die "Sicherheit",
repräsentiert, sondern die soziale Grundlage seiner politischen
Verfassung bildet, ist praktisch schon heute ruiniert, da die Mehrheit
der Kinderlosen und der Kinderarmen - paradoxerweise gerade im
Vertrauen auf die Sicherheit dieses Systems - den "Generationsvertrag"
gekündigt hat.
Aber das große Debakel steht erst noch bevor. Wenn - was nach den
Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes in etwa 4o Jahren der
Fall sein wird - nicht mehr 38, sondern mehr als 7o Alte über 60 Jahre
auf loo Personen im erwerbsfähigen Alter kommen, werden sich alle
"bevölkerungsdynamischen Rentenformeln", nach denen sich die
Beitragszahler und die Rentenempfänger zu gleichen Teilen an der
Finanzierung des Defizits beteiligen sollen, als Bluff erweisen.
Niemand kann im Ernst daran glauben, daß eine Belastung der Lohnsumme
allein mit Sozialabgaben von 4o%, die vom Wissenschaftlichen Beirat
beim Bundeswirtschaftsminister für das Jahr 2o3o aufgrund seiner
Bevölkerungsentwicklung errechnet worden ist, selbst bei günstigster
Entwicklung der Produktivität von einer künftigen Generation getragen
werden kann oder getragen werden wird. Das ist vollkommen
ausgeschlossen. Hinzu kämen ja noch die Steuern.
Auch mit einer "bevölkerungsdynamischen Rentenformel" wären jedoch die
künftigen Probleme nur unter der Voraussetzung zu lösen, daß die
"Produktivität" mindestens in demselben Maße steigt wie in den
vergangen Jahrzehnten. Aber gerade der Produktivitätsfortschritt, den
die Anpassungsstrategen in ihren Rentenformeln schlicht als Tatsache
unterstellen, wäre in einer "überalterten Gesellschaft" am wenigsten
gesichert. Produktivität ist nämlich - wie Jean FourastiÍ,
unbestreitbar die größte Autorität in dieser Sache, immer wieder betont
hat - vor allem eine Frage der "Mentalität". Alle
Beschwichtigungsversuche von Gerontologen und Gerontopsychologen, die
den Prozeß der "Überalterung" mit ihrer "wissenschaftlichen"
Sekundärrationalisierung begleiten, können nichts daran ändern, daß das
hohe Alter auch künftig wenigstens insofern ein "defizitärer Status"
bleiben wird, als die durchschnittliche Innovationskraft und die
Umstellungsbereitschaft in höheren Jahren eben deutlich abnimmt. Und
auf der Entfaltung dieser Fähigkeiten beruht die ganze Hoffnung, die
die Anpassungsstrategen auf die höhere Produktivität einer
"hochmobilen" und "kreativen" Gesellschaft der Zukunft gesetzt haben,
die auf ganzer Linie "Quantität durch Qualität ersetzen" soll.
Französische Bevölkerungswissenschaftler wie Alfred Sauvy, die durch
ihre eigene Geschichte vorgewarnt sind, sehen da klarer. Sauvy hat
nachgewiesen, daß die Phrase von der Kompensation der Quantität durch
Qualität eine jener neomalthusianischen Lebenslügen ist, die sich im
Laufe des französischen Bevölkerungsrückgang vor dem 2. Weltkrieg in
Luft aufgelöst haben. Wenn man mit manchen Nationalökonomen davon
ausgeht, daß der Wohlstand eines Landes mit dem Rückgang seiner
Bevölkerung nur zunehmen kann, weil das Pro-Kopf-Einkommen nach dem
Wachstumsmodell Adam Rieses im selben Maße steigt, wie sich die Zahl
der zu berücksichtigenden Köpfe verringert, müßte der Wohlstand unseres
Landes unter der Voraussetzung konstanter Rahmenbedingungen natürlich
allein in Folge des Bevölkerungsrückgangs ständig wachsen. Nun wäre es
nach den französischen Erfahrungen zwar denkbar, daß im Altersheim
Bundesrepublik künftig die Sparquote, zumal die private, gewaltig
ansteigen würde, aber es wäre selbst dann durchaus nicht sicher, ob
diese Ersparnisse auch in die Produktion investiert würden und dem
nationalen "Kapitalstock" zugute kämen. Eher ist doch zu befürchten,
daß in einer Gesellschaft von Alten der unternehmerische Pioniergeist,
der Wagemut und der Glaube an die Zukunft schwindet, und daß die
Ersparnisse in junge Länder abfließen, also dazu benützt werden, "die
Kinder anderer Leute großzuziehen", während das eigene Land in moroser
Lethargie versinkt.
Wenn man vom erträumten Produktivitätsschritt abstrahiert, ist von
einem Bevölkerungsrückgang nicht nur keine "höhere Lebensqualität",
sondern eher das Gegenteil zu erwarten. Zwar würden die aktuellen
ökologischen Probleme der Bevölkerungsdichte verschwinden und das
Gedränge am Skilift im Schwarzwald dürfte sich auflösen, aber dafür
müßten auf der anderen Seite Verkehrsverbindungen, Krankenhäuser,
Universitäten, Bibliotheken usw. wegen ungenügender Nachfrage eingehen
oder - falls sie als unverzichtbar gelten - mit steigenden Kosten
"vorgehalten" und also teurer werden. Es gibt sogar Nationalökonomen,
die mit guten Gründen bestreiten, daß die Arbeitslosigkeit mit dem
Bevölkerungsrückgang abnehmen würde. Nicht nur die
"Stagnationstheoretiker" rechnen eher damit, daß die "sozialen" und
"wirtschaftlichen" Probleme der Gegenwart in Zukunft eher eskalieren
und einen Prozeß in Gang setzen werden, den man nur mit dem Kürzel
"Dekadenz" adäquat bezeichnen kann.
Wie die Folgen des Geburtenrückgangs, so sind auch seineUrsachen
bekannt. Es ist nicht wahr, daß nicht einmal die
Bevölkerungswissenschaftler angeben könnten, woraul der "demographische
Zusammenbruch" zurückzuführen sei. Die Spezialisten sind sich darin
einig, daß der Geburtenrückgang primär durch einen "Wandel des
generativen Verhaltens" verursacht ist. Und auch über die Faktoren, die
diesen Wandel herbeigeführt haben, gibt es einen breiten Konsens. Bei
den fachinternen Kontroversen geht es im Grunde nur um die Priorität
von Erklärungsmodellen und um die Frage, welches Gewicht bestimmten
"Faktoren" in den verschiedenen Modellen zukommt. Aber die
"Ursachenkonstellation" als solche ist sicherlich besser erforscht als
im Fall des "Waldsterbens". An welchem Ende man das Gewebe auch
aufzudröseln beginnt - ob psychologische, soziologische, ökonomische
Analysen auf der "Mikro-" oder "Makroebene" ansetzen, ob sie
Veränderungen des "Überbaues" in den Vordergrund rücken - immer stößt
man auf ein komplexes Syndrom von "Ursachen", deren jede für sich
allein zwar den erschreckenden Rückgang der Fruchtbarkeit nicht zu
erklären vermag, die aber insgesamt den Eindruck machen, als handle es
sich dabei um so etwas wie eine gesetzliche Notwendigkeit.
Die Perfektionierung der Empfängnisverhütung, die Legalisierung der
Abtreibung und die neomalthusianische Propaganda, die
"Frauenemanzipation" und die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen,
die Bildungsexpansion, die "Verstädterung" und der Wandel der
Erwerbsstruktur, die mit zunehmendem Wohlstand eskalierenden
Bedürfnisse und sozialen Ambitionen, der abnehmende ökonomische Nutzen
von Kindern und die steigenden Kinderlasten, die Sozialisierung der
Altersversorgung, der Funktionsverlust und die Desinstitutionalisierung
der Ehe und Familie, der hemmungslose "Sexismus", der hysterische
Sicherheitswahn und die Risikoscheu, der Kleinkapitalismus der Massen
und ihr Hang zur Lustgewinnmaximierung, der Schwund überindividueller
Verpflichtungen und die "Säkularisierung" der Religionen, all diese und
andere "Einzelfaktoren", die für den Geburtenrückgang "verantwortlich"
gemacht worden sind, hängen auf eine vertrackte Art miteinander
zusammen und bilden insgesamt ein Syndrom, das sich weitgehend mit
jenen Verhältnissen und Vorstellungen deckt, die in den sogenannten
Modernisierungstheorien als "modern" gelten und die unsere
Sozialpolitiker ziemlich einhellig für "soziale Errungenschaften"
halten.
Der Zusammenhang ist derart, daß man oft nicht weiß, was "Ursache" und
was "Wirkung" ist. Die niedrige Fruchtbarkeit ist oft ihrerseits eine
Bedingung der "sozialen Errungenschaften", aus denen man sie herleitet.
Daher ist zum Beispiel im Einzelfall nicht immer klar auszumachen, ob
eine Frau erwerbstätig ist, weil sie keine Kinder will, oder ob sie
keine kinder will, weil sie erwerbstätig sein möchte, ob die
Kleinhaltung der Familie die Scheidung erleichtert oder ob die bei
Eheschluß bereits antizipierte Scheidung der Grund für die Kinderarmut
ist. Eine niedrige Geburtenrate kann - wie der Leiter der deutschen
Delegation bei der letzten Weltbevölkerungskonferenz ganz zu Recht
betont hat - sowohl Voraussetzung als auch Folge des "sozialen
Fortschritts" sein.
Der "Bericht der Bundesregierung über die Bevölkerungsentwicklung in
der Bundesrepublik Deutschland" faßt die communis opinio doctorum (=
gemeinsame Auffassung der Gelehrten) zusammen, wenn er feststellt, daß
"zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die als Voraussetzung,
Folge und Begleiterscheinung, zum Teil auch als Errungenschaften einer
modernen Gesellschaft gelten können", die "Bedingungskonstellation"
geschaffen hätten, "denen eine kleine Familie entspricht". Er hat nur
vergessen hinzuzufügen, daß die "Kleinhaltung der Familie" auch eine
Voraussetzung der gesellschaftlichen "Errungenschaften" einer "modernen
Gesellschaft" ist. Die "Norm einer niedrigen Fruchtbarkeit" ist in der
Tat optimal auf die "Lebensbedingungen" der "modernen Gesellschaft"
abgestimmt. (K.M. Bolte) Sie ist sozusagen der konzentrierte
"biologische" Ausdruck dieser "modernen Welt", die niemand besser
charakterisiert hat, als der kompromißlose Analytiker der Moderne,
Charles Péguy. Lange bevor sein Landsmann, der große Demograph Alfred
Sauvy, die Entdeckung machte, daß die malthusianische "Familienplanung"
mit einer generellen malthusianischen Mentalität einhergeht, die in
jeder Beziehung zur "Kleinhaltung", zur Risikovermeidung, zur
Sparsamkeit und zum "Gesundschrumpfen" neige, hat Péguy in seiner
großartigen Einseitigkeit auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht.
Die "Moderne" mit ihrer Sparkassentheorie des "Fortschritts" war für
ihn eine Welt, "die nur an ihre alten Tage denkt". Das ganze Leben des
"modernen Menschen" sei bloß eine Vorbereitung des Ruhestandes. Wie
sich der Christ auf den Tod vorbereite, so bereite sich jener auf den
Ruhestand vor. Sein Ideal sei ein immenses Altersheim und Sterbehaus.
Um in Zukunft seinen "Frieden" und seine "Ruhe" zu haben, mache er aus
der Gegenwart eine Zeit der Bedächtigkeit und der Vorsicht, eine tote
Zeit, eine Vergangenheit. "Um morgen den Frieden zu haben, hat man
heute keine Kinder... Daher diese universelle Unfruchtbarkeit... dieses
monströse Bedürfnis nach Ruhe, das in der Unfruchtbarkeit eines ganzen
Volkes, in der Vernichtung einer ganzen Rasse zum Vorschein kommt."
Vom Standpunkt der Wissenschaft ist das sicherlich eine maßlose
Übertreibung". Aber im Unterschied zu manchem zeitgenössischen
Wissenschaftler hat der französische Dichter wenigstens erkannt, daß
die "sozialen Errungenschaften", die mit dem Geburtenrückgang
zusammenhängen, recht dubioser Natur sind. Neben dem Sicherheitswahn,
der seinen institutionellen Ausdruck im hypertrophen "System der
sozialen Sicherheit" gefunden hat, wäre als weiterer Hauptbestandteil
der "modernen Welt" noch der "Liberalismus" zu nennen. Es ist gewiß
kein Zufall, daß der Beginn des demographischen Zusammenbruchs der
Bundesrepublik in die "Ära der liberalen Reformen" fiel. Zu Beginn der
siebziger Jahre breitete sich eine allgemeine Anomie auf alle Bereiche
der Gesellschaft aus. Die liberale "Gesinnung der Gesinnungslosigkeit",
die auf "Diskreminierung" verzichtet, weil sie nichts mehr
unterscheiden kann, und die alles "toleriert", weil ihr alles
gleichgültig ist, prägte nicht nur den neuen "permissiven"
Erziehungsstil. Sie drang auch in die Gesetzgebung ein. Die
sozialliberalen Reformer machten sich daran, mit allen "Vorurteilen"
aufzuräumen, die der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" noch im Weg
waren. Die Zwanglosigkeit begann verbindlich zu werden.
Von den Reformen, die die Bevölkerungsentwicklung beeinflußt haben,
können hier nur die wichtigsten erwähnt werden. Die "Neufassung" der
Familien- und Sexualdelikte ('Freigabe" des Ehebruchs, der
Homosexualität, der Kuppelei und pornographischer Schriften), die
"Anpassung" des nichtehelichen- sowie des Eheund Familienrechts
(Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht, Gleichberechtigungsgrundsatz im
Eherecht, alterliches Sorgerecht) und natürlich besonders die
großzügige Legalisierung der Abtreibung. All diese "Liberalisierungen"
wurden von den Politikern in einer Art religiöser Begeisterung als
"Errungenschaften des Fortschritts" gefeiert. Als sich - zuerst in der
Statistik der Eheschließungen, der Ehescheidungen und der Abtreibungen
- ihre fatalen Konsequenzen offenbarten, wagte daher niemand mehr, sie
ernstlich in Frage zu stellen. Selbst christdemokratische
Frauenvereinigungen warnten davor, am wohlerworbenen "Recht" auf
Abtreibung zu rütteln. Eine "pronatalistische" Bevölkerungspolitik kam
unter diesen Umständen ohnhin nicht mehr in Betracht. Sie wurde
allgemein mit der Begründung abgelehnt, der Staat sei nicht berechtigt,
"in die Schlafzimmer seiner Bürger hineinzuregieren".
Im Zielkonflikt zwischen dem "generativen Gemeinwohl" und der
"individuellen Selbstverwirklichung" konnte sich der liberale Staat nur
für den Vorrang der "persönlichen Freiheit" entscheiden. Im Unterschied
zu den "sozialistischen Staaten", die - wie etwa das Beispiel Rumänien
zeigt - zu rigorosen Eingriffen in dia "Privatsphäre" ihrer Bürger
bereit und fähig sind, wenn es das "generative Gemeinwohl" erfordert,
fehlt liberalen Demokratien vom Typ der Bundesrepublik offenbar die
Legitimation, das Gesamtinteresse gegen konkurrierende Einzelinteressen
ihrer Bürger durchzusetzen.
Natürlich sind die Politiker nicht für jede "soziale Errungenschaft"
verantwortlich zu machen, die zu der "Bedingungskonstellation" des
Geburtenrückgangs gehört. Die "Modernisierung"hat offenbar ihre
Eigendynamik: Die "Säkularisierung" der Religionen, die "Verstädterung"
und auch der wirtschaftliche Strukturwandel vollziehen sich nach
Gesetzen, die kein Parlament beschlossen hat. Die Politiker sind gewiß
nicht direkt daran schuld, daß der Anteil der regelmäßigen
Kirchenbesucher bei den jungen Leuten unter 3o Jahren innerhalb einer
Generation um 85% (Protestanten) bzw. 76% (Katholiken) abgenommen hat.
Trotz der "Gemeindereform" sind sie auch nicht allein dafür
verantwortlich zu machen, daß der Anteil der mehr oder weniger
verstädterten Bevölkerung (gemessen an der Einwohnerschaft von
Gemeinden über 5ooo Einwohner) seit Gründung der Bundesrepublik um 28%
zugenommen hat. Und trotz aller "Arbeitsmarkt- und
Beschäftigungspolitik" ist es sicherlich nicht ihr Werk, wenn sich der
Anteil der Beamten und Angestellten an den Erwerbstätigen in diesem
Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Aber die Regierungen der
Bundesrepublik haben die "Modernisierung" mit ihrer
"Gesellschaftspolitik" doch direkt und indirekt unterstützt. Aus primär
ideologischen Motiven haben sie jene "Liberalisierung" v^angetrieben,
von der die Rede war. Sie haben damit zweifellos einen "Prozeß", der
ohnehin "im Gang war", noch beschleunigt und verschärft, statt ihn zu
bremsen oder gar rückgängig zu machen. Wenn heute in der Bundesrepublik
ein Viertel der Ungeborenen auf Krankenschein abgetrieben werden kann,
wenn in deutschen Großstädten auf zwei Eheschließungen eine Scheidung
kommt, wenn die Heiratsziffern der Twens seit 1972 um die Hälfte
gesunken sind, während sich die Zahl der unverheirateten zusammen
lebenden jungen Paare seither versechstfacht hat, wenn der Anteil der
Schülerinnen an der weiblichen Bevölkerung von 15 bis 23 Jahren 198o
dreimal und die Zahl der Studentinnen viermal größer war als 2o Jahre
zuvor, wenn die Erwerbstätigen in der Landwirtschaft in den letzten 2o
Jahren um 7o % und die landwirtschaftlichen Betriebe um 5o % abgenommen
haben, wenn es nach den geltenden Regelungen der Altersversorgung 51 %
der künftigen Versorgungsberechtigten den übrigen 49 % überlassen
können, ihre Renten zu sichern, dann ist das zweifellos auch ein
Verdienst der bundesrepublikanischen "Gesellschaftspolitik". Der
Einfluß all dieser Maßnahmen auf das "generative Verhalten" - so schwer
er auch im Einzelfall nachzuweisen sein mag - liegt auf der Hand. Die
Bedeutung der Landwirtschaft als Bevölkerungsreservoir läßt sich
ebensowenig leugnen wie etwa der kontrazeptive Effekt der
Verstädterung, des "Aufstiegs" zum Angestellten, der Bildungsexpansion
oder eines familienunabhängigen Systems der Altersvorsorge, das die
kinderlosen Doppelverdiener privilegiert.
Inzwischen haben sich die "Errungenschaften des sozialen Fortschritts"
in der Sozialstruktur niedergeschlagen und sind zu "unverzichtbaren
Besitzständen" geronnen. Da die Mehrheit der Wähler davon profitiert,
wagt es kein Politiker, sie in Frage zu stellen. Angesichts der
komplexen "Bedingungskonstellation" des Geburtenrückgangs wäre es auch
eine Illusion zu glauben, man könnte schon mit wenigen gut gemeinten
Einzelmaßnahmen viel erreichen. Rein theoretisch könnte man mit einem
Federstrich die Fruchtbarkeit in der BRD auf das
"Selbsterhaltungsniveau" anheben, indem man den Vertrieb von
Kontrazeptiva und die Abtreibung verbietet.
Nach einer Untersuchung, die Jean Bourgeois-Pichat bekanntgemacht hat,
waren in Frankreich bei einer Geburtenrate von 18 %o 5o % der Geburten
keine Wunschkinder; bei einer perfekten Geburtenkontrolle hätten die
Franzosen also schon damals eine ebenso niedrige Geburtenrate gehabt
wie die Deutschen in den siebziger Jahren. Ein ähnliches Resultat ergab
eine Befragung aus dem Jahre 1974. Und was die Abtreibung berifft, so
hätten wir uns etwa im Jahr 1981 über den Fortbestand des deutschen
Volkes keine Gedanken zu machen brauchen, wenn die 212ooo Ungeborenen
ausgetragen worden wären, die nach den Ermittlungen des
Parlamentarischen Scaatssekretärs im Justizministerium, Benno Erhardt,
in diesem Jahr der legalen Abtreibung zum Opfer gefallen sind. Bei
837ooo, statt 625ooo Geburten und-722ooo Sterbefällen hätten wir statt
eines Geburtendefizitis einen hübschen Überschuß erziehlt. Angesichts
solcher Bilanzen müßte eigentlich jedem Einsichtigen klarzumachen sein,
daß erst die "Pille" und die Liberalisierung des ß 218 StGB den
diversen Motiven zur Kleinhaltung der Familie zu jenem durchschlagenden
Erfolg verholfen haben, den man an der deutschen Geburtenstatistik seit
197o ablesen kann. Es ist eine bodenlose Bagatellisierung, wenn
Bevölkerungswissenschaftler behaupten, die "Pille" und die "Abtreibung"
seien "neutrale Mittel" der "Geburtenkontrolle" und kämen daher als
Usachen des Geburtenrückgangs nicht in Betracht. Diese "Mittel" haben
für die Bevölkerungsentwicklung eine ähnliche Bedeutung wie die
Atomwaffen für den Krieg. Sie sind das einzig wirklich Neue am
"neuesten demographischen Regime". Aber sie sind natürlich nicht
zufällig entdeckt worden, und sie werden auch nicht im luftleeren Raum
vertrieben und angewandt. Bei Lichte betrachtet sind sie lediglich der
konzentrierteste Ausdruck der "modernen Welt". Die Menschheit, so
könnte man, Hegel variierendjsagen, bedurfte der Pille und der
automatisierten Abtreibung und alsobald waren sie da. Ihre
"Abschaffung", gesetzt sie wäre "politisch durchzusetzen", könnte daher
nicht per ordine di mufti, sondern nur durch eine "Kulturrevolution"
gelingen, die mit der ganzen "modernen Welt" und ihren "sozialen
Errungenschaften", die sich in der Vevölkerungsentwicklung des
Abendlandes als Schrittmacher der Dekadenz erwiesen haben, aufräumt.
Ohne Rückbesinnung auf die Prinzipien einer Sittenlehre, "die sich auf
das Naturgesetz gründet und von der göttlichen Offenbarung erleuchtet
und bereichert wird" ("Humanae vitae"), wird die demographische Krise
des Abendlandes wohl kaum zu bewältigen sein. Angesichts des "großen
Abfalls" mag der "Abfall der Geburtenrate" als ein harmloses
Epiphänomen erscheinen, aber andererseits gibt wohl kaum ein Feld, auf
dem die Folgen der "Säkularisierung" deutlicher hervortreten. Noch 198o
ergab eine nüchterne empirische Untersuchung über die "Einstellung
deutscher Ehefrauen zu Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch"
(von Katharina Pohl), "daß die Bedeutung der Religion für den
generativen Bereich unverändert eine entscheidende Rolle spielt", wobei
allerdings nicht die formale Konfessionszugehörigkeit, sondern der
"Grad der Religiosität" im Sinn der "Säkularisierungsthese"
ausschlaggebend ist. Eine "Umkehr des Säkularisierungstrends", den die
Autorin allerdings für "nicht sehr wahrscheinlich" hält, scheint auch
nach dem Befund der Bevölkerungswissenschaft das einzige Heilmittel
gegen die unheimliche Krankeit zu sein, die an der Lebenskraft des
Abendlandes nagt. |