DIE ZEIT DES ANTICHRIST
von
S.E. Kard. Fulton J. Sheen
Vorbemerkung:
Zu Beginn des Jahres 1947 begann der damalige Erzbischof von New York
mit einer Reihe von Rundfunkvorträgen, in denen er u.a. auch über die
geistige Verfaßtheit seiner Zeit sprach. Nachfolgender Passus aus einer
dieser Ansprachen hat fast prophetischen Charakter:
"Die Zeichen unserer Zeit weisen auf zwei Wahrheiten hin, denen wir uns
nicht entziehen können. Die erste ist die, daß wir an das Ende des
Kapitels in der Geschichte gekommen sind, die wir Nachrenaissance
nennen und welche den Menschen zum Maß aller Dinge gemacht hat. (...)
Die zweite große Wahrheit, auf welche die Zeichen der Zeit hinweisen,
ist die, daß wir definitiv am Ende einer nichtreligiösen Ära der
Zivilisation angelangt sind, welche die Religion als eine Zugabe zum
Leben betrachtete, als ein frommes Extra, als eine Erbauerin der
Sittlichkeit für den einzelnen, aber ohne Bedeutung für die
Gesellschaft. Die neue Ära, in die wir eintreten, könnte die religiöse
Phase der menschlichen Geschichte genannt werden. Aber man möge das
nicht falsch verstehen! Mit 'religiös' meinen wir nicht, daß die
Menschen sich zu Gott wenden werden, sondern vielmehr, daß die
Gleichgültigkeit gegen das Absolute, welche die liberale Phase der
Zivilisation kennzeichnete, von einer Leidenschaft für das Absolute
abgelöst werden wird. Von jetzt an wird der Kampf nicht mehr um
Kolonien und um nationale Rechte geführt werden, sondern um die Seelen
der Menschen. Von jetzt an werden die Menschen sich in zwei Religionen
teilen - wieder als Hingabe an ein Absolutes verstanden. Der Konflikt
der Zukunft wird sich zwischen dem Absoluten, der Gottmensch ist, und
dem Absoluten, der Menschgott ist, vollziehen: der Gott, der Mensch
wurde, und der Mensch, der sich zum Gott macht; zwischen Brüdern in
Christo und zwischen Kameraden im Antichrist. Der Antichrist wird nicht
so genannt werden, sonst würde er keine Gefolgschaft haben. Er wird
nicht enge, rote Beinkleider tragen, auch nicht Schwefel von sich
geben, weder einen Speer schwingen, noch mit einem spitzen Schwanz
wedeln wie der Mephistopheles im 'Faust'. Diese Maskerade hat dem
Teufel geholfen, die Menschen davon zu überzeugen, daß er nicht
existiert. Denn er weiß, daß er niemals so stark ist, als wenn Menschen
glauben, daß er nicht existiert. Nirgends in der Heiligen Schrift
finden wir eine Bestätigung für den volkstümlichen Mythos, der Teufel
sei ein Hanswurst, der wie der esbe 'Rote' gekleidet ist. Er wird
vielmehr beschrieben als ein vom Himmel gefallener Engel und als 'der
Fürst dieser Welt', dessen Aufgabe es ist, uns zu sagen, daß es keine
andere Welt gibt.
Seine Logik ist einfach: Wenn es keinen Himmel gibt, gibt es auch keine
Hölle. Wenn es keine Hölle gibt, dann gibt es auch keine Sünde. Wennes
keine Sünde gibt, dann gibt es auch keine Richter. Und wenn es kein
Gericht gibt, dann ist das Böse gut und das Gute böse. Aber über diese
Darstellungen hinaus sagt uns unser Herr, daß der Teufel ihm so ähnlich
wird, daß er sogar die Auserwählten verführen würde - aber ein Teufel,
wie wir ihn in Bilderbüchern gesehen haben, könnte sicherlich nicht die
Auserwählten verführen. Wie wird er in dieses neue Zeitalter kommen, um
für seine Religion Anhänger zu gewinnen? Er wird als der große
Menschenfreund verkleidet kommen. Er wird von Frieden, Wohlergehen und
Fülle sprechen, nicht als von Mitteln, um uns zu Gott zu führen,
sondern als Endzielen in sich. Er wird Bücher über die neue Idee von
Gott schreiben, um sie der Lebensweise der Menschen anzupassen. (...)
Er wird die Schuld psychologisch als unterdrückten Geschlechtstrieb
erklären, er wird die Menschen dazu bringen, sich beschämt
zurückzuziehen, wenn ihre Mitmenschen sagen, sie wären nicht großzügig
und liberal. Er wird Toleranz mit Gleichgültigkeit gegen Recht und
Unrecht, Wahrheit und Irrtum gleichsetzen. (...) Er wird die
Ehescheidungen unter dem Vorwand begünstigen, daß der andere Partner
'vital' ist. Er wird die Religion anrufen, um die Religion zu
zerstören. Er wird sogar von Christus sprechen und sagen, er sei der
größte Mensch gewesen, der jemals gelebt hat. (...) Inmitten dieser
scheinbaren Liebe für die Menschheit und inmitten seines glatten Redens
von Freiheit und Gleichheit wird er ein großes Geheimnis haben, das er
niemandem sagen wird: Er wird nicht an Gott glauben.
Weil seine Religion Brüderlichkeit ohne die Vaterschaft Gottes sein
wird, wird er sogar die Auserwählten täuschen. Er wird eine Gegenkirche
aufrichten, welche der Affe der Kirche sein wird, weil er, der Teufel,
der Affe Gottes ist. Sie wird all die Zeichen und Merkmale der Kirche
haben, aber in der Umkehrung und ihres göttlichen Inhaltes beraubt. Er
wird den modernen Menschen, der ein an Verzweiflung grenzendes
Bedürfnis nach Gott hat, in seiner Einsamkeit und Enttäuschung noch
mehr nach der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft hungern lassen,
welche dem Menschen Erweiterung seiner Pläne zugesteht, ohne irgendeine
Notwendigkeit einer persönlichen Gutmachung und ohne ein Zugeständnis
von persönlicher Schuld."
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