II. KAPITEL
"DIESE GENERATION WIRD NICHT VERGEHEN, EHE DIES ALLES GESCHIEHT."
(MATTH. 24,34; LUC. 21,32)
Zuerst wollen wir klar sagen, daß der Ausdruck "diese Generation"
durchaus im natürlichen Wortsinn zu verstehen ist: die Epoche der
Zeitgenossen Jesu - im Gegensatz zu den Generationen, die dieser folgen
sollten -, also höchstens ein Menschenalter, ca siebzig Jahre, d.h.
gegen Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Diesbezüglich
scheint kein Zweifel möglich zu sein.Sicher, einige haben gemeint,
diesem Terminus eine weitere Auslegung geben zu müssen, z.B. es sei
gemeint, das jüdische Volk würde noch existieren... Damit würde dann
mit einem Schlag jede Schwierigkeit radikal ausgeräumt sein. Aber dafür
würde ein um so schwerwiegenderes Problem auftreten, dessen Lösung in
allen Punkten unannehmbar wäre. Jesus würde nichts Vernünftiges
aussagen, wenn er behauptet hätte: "Wahrlich, wahrlich ich sage euch,
das Ende der Welt wird nicht kommen, bis sich nictt dievon mir für das
Ende der Welt vorhergesagten Dinge ereignet haben werden." - Eine
absurde und lächerliche Tautologie. Es wäre damit nur zum Ausdruck
gebracht, daß das jüdische Volk bis zum Ende der Welt existierte...
dies hätte aber keinen Bezug zum Gegenstand der vorliegenden Frage.
Zudem kommt der Ausdruck "diese Generation" 16mal in den Evangelien vor
(bei Matthäus, Markus und Lukas), und immer bedeutet "diese Generation"
gleichbleibend die Generation, die durch Jesu Gegenwart und seine Lehre
als auch seine Wunder begünstigt wurde. Das sind jene Zeitgenossen
Jesu, die vom Menschensohn, der gegessen und getrunken hat, sagten, er
sei ein Schlemmer und Weintrinker, die behaupteten, er sei von einem
Dämon besessen (Matth. 11,16; Luc. 7,31). Das ist auch jene Generation,
die ein Zeichen forderte, und der er keines gab außer dem des Propheten
Jonas (Matth. 12,39; Mk. 8,12; Luc. 2o,29): "... diese Generation, die
am Tage des Gerichtes von den Niniviten verurteilt werden wird, die
Buße taten auf die Predigt des Jonas hin; ebenso wird sie verurteilt
werden von der Königin von Saba, die kam, um die Weisheit Salomons zu
hören - und hier ist mehr als Salomon". (Matth. 12,41; Luc. 11,31.)
Dies ist endlich jene Generation, auf die herabkommen sollte "das
unschuldig vergossene Blut aller Gerechten und Propheten", weil sie das
Maß voll machte, indem sie den Gottessohn selbst kreuzigte und seine
Apostel und Jünger verfolgte und tötete (vgl. Matth. 23,36; Luc.
ll,5o).
Schließlich ist es nicht offenkundig, daß Jesus, als er sagte "Diese
Generation wird nicht vergehen, ehe dies alles geschieht", nur eine
Antwort auf die Frage der Jünger geben wollte: "Sage uns, wann werden
diese Dinge geschehen?" Seine Antwort wäre doch sinnlos gewesen, wenn
er an die jüdische Generation im allgemeinen gedacht hätte; denn damit
hätte er die Frage nach dem Zeitpunkt des Geschehens nicht beantwortet.
Darum lautete seine Antwort, daß seine Zeitgenossen all dies noch
selbst miterleben würden.
Und wenn wir jenes Ereignis - die Zerstörung des Tempels und der Stadt
Jerusalems - genau betrachten, dann ist das eine Bestätigung dieses
natürlichen und nahe liegenden Sinnes. Eines ist doch offenkundig und
muß vor aller Betrachtung der evangelischen Prophetie angemerkt werden:
nach einem halben Jahrhundert, ja nach einer noch kürzeren Zeitspanne,
genau nach vierzig Jahren hatte sich alles, was für den ersten
Abschnitt angekündigt worden war, erfüllt, und zwar Punkt für Punkt bis
ins kleinste Detail und in erstaunlicher Übereinstimmung mit der
Vorhersage, so daß die Ereignisse von 64 bis 7o n.Chr. die glänzendste
Erfüllung dieser Weissagung sind.
Bei den eschatologischen Reden Jesu haben wir eine Prophetie mit
doppeltem Gegenstand, mit doppelter Absicht. Man sieht in dieser
Prophezeiung klar und deutlich zwei große Katastrophen angekündigt,
wobei eine von der anderen deutlich unterschieden wird. Die eine
betrifft Jerusalem, das von den Armeen belagert, eingenommen und von
den Heiden niedergetrampelt wird. Die andere bezieht sich auf das Ende
der Welt und das Kommen Christi "in Macht und Herrlichkeit". Diese
Katastrophe ist viel umfangreicher und betrifft das gesamte Universum,
das bis auf den Grund erschüttert werden und wie in einer Agonie in
Zuckungen liegen soll, während die Menschen vor Schreck erstarren über
das, was über die ganze Welt kommen wird (vgl. Luc. 21, 2off): das
erste Ereignis, welches sehr viel näher liegen sollte, wobei die Juden
mit Krieg überzogen werden und unter alle Nationen als Gefangene
zerstreut werden sollen - und das andere zeitlich viel später liegende,
welches erst eintreten wird, nachdem das Evangelium auf der ganzen Erde
verkündet und die Zeit der Heidenvölker erfüllt sein wird (Luc. 21,24;
Matth. 24,14). Wir haben es also mit zwei Ereignissen zu tun, eines,
dem man dank der gegebenen Vorzeichen durch die Flucht entgehen konnte,
und das andere, das hereinbrechen wird und wie ein Netz auf alle
Bewohner der Erde fallen wird, dem sie nicht entgehen können, auf das
man sich nur durch beharrliches Gebet und Wachsamkeit vorbereiten kann
(vgl. Matth. 24,15; Luc. 21,35). Schließlich liegt das zweite unter
einem undurchdringlichen Schleier (Matth. 24,36).
Das Ende Jerusalems nimmt in der Schilderung den größten Raum ein und
ist wie ein Vorspiel und eine Generalprobe für das letzte Ende, das im
ersten in prophetischer Perspektive mit einbegriffen wird. Zuerst hatte
Jesus Pest, Hungersnöte und Erdbeben vorhergesagt - und tatsächlich
wird all dies von den Geschichtsschreibern bestätigt; denn zu keiner
Zeit davor waren diese Vorkommnisse häufiger eingetreten als in den
Jahren vor der Zerstörung Jerusalems, nämlich in den letzten sieben
Jahren der Regierung des Kaisers Nero. Es erzitterte die Erde - man
kann sagen: überall. Im Jahre 61 und 62 erschütterten Erdbeben Asien,
Achaia, Mazedonien. Die Städte Herapolis, Laodicäa und Kolossa hatten
besonders darunter zu leiden (Tacitus: "Annalen" Kap. XIV,27). Im Jahre
63 griffen die Erdbeben auf Italien über. Das Land Neapel suchten zwei
Erdbeben heim, denen 16 Jahre später der erste, historisch bekannte
Vulkanausbruch folgte. Sie taten sich durch unterirdische
Erschütterungen kund. Neapel und Nuceria wurden davon betroffen und
Pompei fast ganz verschüttet. Herculaneum wurde teilweise zerstört, was
erst das Vorspiel des Ruins war. Die Erregung im Lande war allgemein
und die Menschen verloren vor Schrecken den Verstand (Tacitus op.cit.,
Kap. XV,22). Der Boden schien überall zu wanken und die Christen
erinnerten sich an die Worte des Herrn: "... und große Erdbeben werden
allerorts sein."
Das Jahr 66 brachte eine andere Art des Unheils: Die unglückliche
Campagna wurde diesmal von Sturmwinden heimgesucht, welche Wohnungen,
Felder und die Ernte verwüsteten. Diese Unwetter zogen bis nach Rom. In
der Stadt selbst wütete eine pestartige Krankheit, die sich ohne jede
erkennbare Luftbewegung ausbreitete und alle Stände der Bevölkerung
dezimierte. Nach dem Zeugnis des Tacitus ("Annalen", Kap. XVI,13) und
Sueton ("In Nero", 39) waren die Häuser voll von Toten und die Straßen
verstopft mit Leichenzügen. Männer und Frauen, Kinder und Greise,
Sklaven und Freie starben gleichermaßen. In einem einzigen Herbst
verzeichnete das Register von Venus Libertinus 3oooo Tote. Zugleich mit
den natürlichen Katastrophen und den Anzeichen, die vom Herrn
vorhergesagt waren, zeigten sich auch - ebenfalls angekündigt -
erschreckende Erscheinungen am Himmel und außerordentliche Zeichen:
Schrecken am Himmel ("terroresque de coelo et signa magna erunt"). -
Josephus ("De bello judäo" I,VII, c.12),ebenso Tacitus ('Historiae"
V,13) berichten uns, daß man während eines ganzen Jahres über Jerusalem
einen Meteoriten in Form eines Schwertes sah. Wenn es nicht so viele
Zeugen dafür gäbe, würde man es als Märchen abtun - es seien, so heißt
es, im ganzen Land kurz vor Sonnenaufgang bewaffnete Reiterscharen
gesehen worden, die, quer durch die Lüfte und Wolken dahinjagend, die
Wolken zerteilten und sich dann um die Stadt lagerten. Es ist eine
gängige Tradition, die der Talmud bezeugt und die durch die Rabbiner
selbst bestätigt wird, daß man vierzig Jahre vor der Zerstörung des
Tempels seltsame Dinge sah. Täglich passierten eigenartige, wundersame
Zeichen, so daß ein Rabbi ausrief: "0 Tempel, was bewegt dich so und
warum hast du Angst vor dir selbst?" Was gab es Auffallenderes als den
gräßlichen Lärm, der von den Priestern im Heiligtum am Tage des
Pfingstfestes gehört wurde, und die Stimmen, die aus dem Inneren des
Tempels erklangen: "Gehen wir von hier weg!"
Wenn diese Vorkommnisse auch nur von den Priestern bemerkt wurden, so
haben wir ein noch auffälligeres Zeichen, das sich vor den Augen des
ganzen Volkes darbot: vier Jahre, bevor der Krieg erklärt wurde, fing
ein Bauer namens Jesus, genannt Josephus, an zu schreien: "Eine Stimme
gegen Jerusalem und gegen den Tempel, eine Stimme gegen die
jungvermählten Männer und Frauen, eine Stimme gegen das ganze Volk -
eine Stimme vom Orient und von den vier Winden!" In den folgenden
Jahren hörte er nicht auf, Tag und Nacht zu rufen: "Unglück über
Jerusalem!" Er verdoppelte sein Schreien an den Festtagen. Kein anderes
Wort kam mehr aus seinem Munde - die ihm fluchten, die ihn beklagten,
die ihm helfen wollten - alle mußten immer wieder dieses Wort hören:
"Unglück über Jerusalem!" Er wurde festgenommen, verhört und
ausgepeitscht. Bei jedem Streich und bei jeder Frage rief er, ohne zu
klagen, immer nur die Worte: "Unglück über Jerusalem!" Weggeschickt als
Verrückter, lief er durch das ganze Land und wiederholte ohne Unterlaß
diese traurige Botschaft: "Unglück über Jerusalem!" Sieben Jahre lang
schrie er so, ohne in seiner Stimmkraft nachzulassen. Zur Zeit der
letzten Belagerung schloß er sich in der Stadt ein, unermüdlich um die
Festung streichend, wobei er mit aller Kraft schrie: "Unheil über den
Tempel, Unheil über die Stadt, Unheil für das ganze Volk!" Am Ende
fügte er noch hinzu: "Unglück über mich selbst!" - und im gleichen
Augenblick wurde er von einer Steinkugel getroffen, die von einer
Schleudermaschine abgeschossen worden war.
Hier sind weitere Beispiele für die Vorhersagen schrecklicher
Erscheinungen und außerordentlichen Zeichen: die Wirren, der Kriegslärm
und die Erhebung einer Nation gegen die andere. All dies bewahrheitete
sich in den letzten Jahren der Regierung des Kaisers Nero, als das
römische Reich, in dem unter Kaiser Augustus so lange Frieden
herrschte, sich plötzlich von Aufruhr umgeben sah: fünf Kaiser erhoben
sich fast gleichzeitig gegen Nero (Galba, Othon, Vitellius, Vespasian)
und zugleich bekämpften sie sich gegenseitig: pretorianische Kohorten,
die Armeen von Syrien, von Germanien, und alle im Orient befindlichen
setzten sich in Bewegung und marschierten von einem Ende des Reiches
bis zum anderen, um ihren Streit durch blutige Kämpfe zu entscheiden.
In 22 Monaten wurde Italien zweimal überfallen und Rom zweimal
eingenommen. Dann gab es Kriege am Rhein, in Danubien, am Schwarzen
Meer, am Fuße des Atlas und zur gleichen Zeit auch am Tiber. Niemals
hat man aus so vielen verschiedenen Gründen so viele Nationen in einem
solchen Aufruhr gesehen, sah man so viele Gegenden im Leid und so viele
Menschen sterben. Und das sollte erst der Anfang der schmerzlichen
Ereignisse sein. "Nehmt euch in acht vor den Menschen!" hatte der Herr
den Christen gesagt, und sie sahen die Wut der Hölle nie stärker gegen
sich entfacht als in dieser Zeit, obwohl sie doch immer in Bedrängnis
waren. "Man wird euch den Torturen ausliefern, euch töten, und ihr
werdet von allen gehaßt sein um meines Namens willen!" Es erfüllte sich
alles Punkt für Punkt, besonders aber in Rom, wo Nero die erste der
zehn großen Christenverfolgunger entfesselte (deren Schrecken Tacitus
beschreibt) und die Apostelfürsten Petrus und Paulus töten ließ. Aber
auch über die Juden sollte großes Unglück kommen, die durch ihr Wüten
ihren eigenen Untergang vorbereiteten, in den sie unwiderruflich als
falsche Christusse und falsche Propheten stürzen mußten, jene falschen
Christusse bzw. falschen Propheten, die Jesus selbst vorausgesagt hatte
und die viele verführen würden. In der Tat gab es nie mehr falsche
Christusse und falsche Propheten als nach dem Tode Jesu. Vor allem zur
Zeit des jüdischen Krieges und unter der Herrschaft Neros, der ihn
einleitete, zeigt uns Josephus eine Unzahl dieser Betrüger, die das
Volk durch eitle Wunder und magische Dinge in die Wüste lockten, indem
sie ihm eine prompte und wunderbare Befreiung versprachen.
Das ist in der Tat eines der schrecklichsten Zeichen des Zornes Gottes,
daß er uns zur Betrafung unserer Sünden unserem eigenen bösen Willen
überläßt, dergestalt, daß wir allen weisen Ratschlägen gegenüber taub
sind und blind für die Wege des Heils, die uns gezeigt werden, und daß
wir dafür allem anderen Glauben schenken, was uns ins Verderben führt,
wenn es nur unserer Eitelkeit schmeichelt. Wir pochen auf unsere
Kühnheit zu allen Unternehmungen, ohne unsere Kräfte und Mittel recht
einzuschätzen, ob wir es auch mit dem Feinde aufnehmen können, den wir
herausfordern.
Und dies ist den Juden zugestoßen: Obwohl ihre Rebellion den Krieg mit
Rom heraufbeschworen mußte, Titus sie jedoch nicht vernichten wollte,
sondern ihnen sogar zu Beginn des Krieges und dann zu wiederholten
Malen Frieden anbot, selbst dann noch einmal, als die Juden ihm nicht
mehr entkommen konnten, da stachelten die falschen Propheten sie immer
wieder an, immer heftigeren Widerstand zu leisten bis zum bitteren
Ende. Titus hatte schon um Jerusalem einen weiten Wall errichtet, mit
wehrhaften Türmen versehen, als er ihnen Josephus sandte, einen ihrer
Mitbürger und Priester, der von den Römern gefangen genommen worden
war. Mit vielen Argumenten versuchte er seine Mitbürger zum Einlenken
und zur Vernunft zu bringen. Aber, verführt durch ihre falschen
Propheten, hörten sie auf nichts, obwohl sie in äußerster Not waren.
Der Hunger tötete mehr Menschen als der Krieg. Mütter fraßen ihre
eigenen Kinder auf! Seinerseits rief Titus seine Götter als Zeugen an -
von so viel Unverstand erschüttert -, daß nicht er die Ursache so
vieler Schrecken war; denn die Juden glaubten immer noch den falschen
Verheißungen, die ihnen die Weltherrschaft versprachen. Mehr noch, als
die Stadt schon eingenommen und das Feuer an allen vier Enden gelegt
war, da glaubten diese Wahnsinnigen immer noch ihren falschen
Propheten, die ihnen versicherten, daß der Tag des Heiles gekommen sei,
so daß sie bis zum bitteren Ende Widerstand leisteten, und es für sie
kein Erbarmen mehr gab.
Aber kommen wir nun zu den nahen Zeichen, die Jesus den Seinen gegeben
hatte, in der Absicht, sie vor dem Unglück zu retten, welches über
Jerusalem kommen sollte. Sicher gibt Gott den Seinen nicht immer solche
Zeichen. In den schrecklichen Strafgerichten, die oft über ganze
Nationen hereinbrachen, schlägt er Gerechte wie Sünder; denn er hat
bessere Mittel, sie zu scheiden, als die, die wir sehen. Aber damit in
der Verwüstung Jerusalems das Bild des Jüngsten Gerichtes um so
eindrucksvoller hervortreten sollte und die Rache Gottes über die
Ungläubigen um so markanter sei, so wollte er nicht, daß die Juden, die
das Evangelium angenommen hatten, mit den andern vernichtet würden -
und so gab Jesus den Seinen sichere Zeichen, an denen sie erkennen
konnten, wann es an der Zeit sein würde, die von Gott verworfene Stadt
zu verlassen. Er knüpft an die Prophezeiungen des Propheten Daniel an:
"Wenn ihr den Greuel der Verwüstung seht, den der Prophet Daniel
vorhergesagthat an heiliger Stätte..." oder wie Markus überliefert:
"den Greuel an dem Ort, an dem er nicht sein soll", dann "sollen die,
die in Judäa sind, in die Berge fliehen". Lukas berichtet dasselbe, nur
mit anderen Worten: "Wenn ihr Jerusalem von Waffen umgeben seht, so
sollt ihr wissen, daß die Verwüstung nahe ist. Dann sollen die, die in
Judäa sind, sich in die Berge zurückziehen.'
Ein Evangelist erläutert den anderen. Und wenn wir alle diese Stellen
zusammennehmen, dann wird es nicht schwer sein zu wissen, was mit dem
"Greuel der Verwüstung" gemeint ist: zum Teil muß er wohl identisch
sein mit den Waffen, d.s.die (römischen) Waffen um Jerusalem. Die
heiligen Väter haben es so verstanden, und die vernünftige Überlegung
überzeugt uns davon, daß das Wort Verwüstung = Greuel gemäß dem
Gebrauch der Hl. Schrift Idol, d.i. Götzenbild bedeutet. Jedermann
weiß, daß die römischen Armeen in ihren Standarten die Bilder ihrer
Götter und Kaiser trugen, jener Götter, die sie am meisten verehrten.
Diese waren für die Soldaten ein Gegenstand der kultischen Verehrung.
Weil die Götzenbilder nach Gottes Anordnungen niemals im Heiligen Land
erscheinen durften, waren die römischen Standarten daraus verbannt. So
verhüllten die Römer z.B. diese Zeichen oder ließen die Soldaten ohne
sie marschieren, u.a. als Vittelius Judäa durchquerte, um den Krieg in
Arabien zu führen. Mehr noch, die Römer gingen sogar so weit, die Juden
vom Kriegsdienst zu befreien, damit sie nicht gezwungen wären, den
Standarten mit Götterbildern zu folgen, d.h. Dinge zu dulden, die so
sehr gegen das Gesetz und das Gebot Gottes verstießen hätten.
Aber z.Zt. des letzten jüdischen Krieges darf man annehmen, daß die
Römer keine Rücksicht mehr auf das Volk der Juden nahm, welches sie
bestrafen wollten. So war also Jerusalem, als es belagert wurde, von
ebenso vielen Götzenbildern umlagert, als es römische Standarten gab.
Darum erschien der Greuel nirgends furchtbarer als gerade dort, wo er
nicht hätte sein dürfen, nämlich im Heiligen Land, am hl. Ort und um
den Tempel herum.
Diese weitere Interpretation läßt aber auch die andere Deutung zu, daß
dieser Greuel der Verwüstung eine doppelte Profanierung bedeutet: von
Seiten der Belagerer durch die Enthüllung der Götzenbilder und durch
den Kult, der ihnen dargebracht wurde unter den Mauern von Jerusalem
und vor den Mauern des Tempels selbst, vor allem aber seitens der
eingeschlossenen Juden, durch die der Greuel an heiliger Stätte
begangen wurde, nämlich durch die Zeloten, die ja im Tempel wie in
einer Festung verschanzt waren und ihn vier Jahre durch unerhörte
Verbrechen und verabscheuungswürdige Gewalttaten entweihten, die zu
beschreiben sich die Feder sträubt.
Aber, so wird man einwenden, sollte dies das große Zeichen sein,
welches Jesus den Seinen gab? War denn noch Zeit zu fliehen, als Titus
bereits Jerusalem belagerte und alle Zufahrtsstraßen abriegelte, so daß
es keine Möglichkeit mehr zur Flucht gab? Hier liegt nun das Wunder
dieser Prophetie: Jerusalem wurde zweimal in dieser Zeit belagert, das
erste Mal durch Cestius Gallus, den Gouverneur von Syrien, im Jahre 66
n.Chr., dann vier Jahre später durch Titus zum zweiten Mal. Bei der
letzten Belagerung gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr. Titus hatte
einen unüberüberwindbaren Wall angelegt. Anders war es bei der ersten
Belagerung: Cestius lagerte fünfzig Stadien von Jerusalem entfernt und
führte die Belagerung so nachlässig durch, daß er die Stadt bei einer
sich bietenden Gelegenheit nicht erobern konnte. Mehr noch, Cestius hob
prompt die Belagerung auf und ordnete den Rückzug an, der für die Römer
zur Katastrophe wurde. Dadurch verfloß eine gewisse Zeit von vier oder
fünf Monaten bis zur Invasion der Armeen des Vespasian, d.h. vom Herbst
66 bis Frühjahr 67 n.Chr. - und da war die Flucht sehr wohl möglich.
Die Geschichte berichtet denn auch, daß sich viele in die Berge
zurückzogen. Nach der Niederlage des Cestius, so berichtet Josephus,
entwichen viele aus Jerusalem, so wie man ein sinkendes Schiff verläßt.
So hatte Jesus auch sehr klar zwei Belagerungen unterschieden: die, bei
der die Stadt mit einem Wall umgeben und von allen Seiten
eingeschlossen sein würde (Luc. 19,43) und die andere, während der sie
nur von Armeen umstellt sein würde (Luc. 21,2o). Und da sollte man
fliehen und sich in die Berge zurückziehen. Dies war das Signal,
welches Jesus den Seinen gegeben hatte. In der Tat hörten die Jünger
auf das Wort des Meisters. Obwohl tausende von Christen in Judäa und in
der Stadt waren, lesen wir weder bei Josephus noch bei einem anderen
Schriftsteller, daß Christen bei der Einnahme der Stadt in Jerusalem
waren. Im Gegenteil, alte Monumente belegen, daß sie sich in das kleine
Tal von Pella zurückgezogen hatten, in ein Bergland in der Wüste, an
den Grenzen zu Judäa und Arabien.
Den Rest kennt man: die Schrecken der Belagerung, von denen Jesus
vorhergesagt hatte, es würde dann eine so große Bedrängnis sein, wie
sie vom Beginn der Welt an nie herrschen würde noch bis zum Ende der
Welt sein würde. Man weiß, wie Jerusalem, das von allen Seiten von den
Römern eingeschlossen war, im Inneren von drei rivalisierenden Parteien
zerrissen wurde. Wenn der Haß gegen die Römer bei ihnen schon bis zur
Raserei ging, so waren sie untereinander nicht weniger verfeindet. Die
Kämpfe außerhalb kosteten weniger Menschenleben als der Kampf innerhalb
der Stadt, d.h. es herrschte Bürgerkrieg. Überall gab es in der Stadt
Raub und Gewalt. So ging sie zugrunde. Sie war übersät wie ein Feld mit
toten Leibern. War das nicht ein Bild der Hölle, wo sich die Verdammten
untereinander nicht weniger hassen als sie von den Dämonen gehaßt
werden, die ihre gemeinsamen Feinde sein sollten?
Endlich kam der schicksalhafte Tag, an dem sich in Jerusalem, nachdem
es von den Römern eingenommen worden war, die Prophezeiung des Herrn
bezüglich des Tempels erfüllen sollte: "Es wird kein Stein auf dem
anderen bleiben...". Nach dem Bericht des Josephus sah man den Tempel
am zehnten Tag in Flammen stehen. Trotz des Verbotes des Titus, trotz
der natürlichen Neigung der Soldaten zur Plünderung ließ sich ein
Soldat auf eine Eingebung hin von seinen Kameraden zu einem Fenster
emporheben und warf Feuer in den Tempel. Bei der Nachricht davon lief
Titus selbst herbei und befahl, daß man eiligst die aufzüngelnden
Flammen löschen solle. Aber "von oben" kam eine andere Weisung: die
Flammen breiteten sich mit rasender Geschwindigkeit aus. In wenigen
Stunden war dieses stolze Bauwerk in Schutt und Asche gesunken. So
verlief die für die Juden schrecklichste Katastrophe ihrer Geschichte.
In welcher Stadt sah man jemals eine Millionen und einhunderttausend
Menschen umkommen? - und zwar in nur vier Monaten... bei einer einzigen
Belagerung? Dies widerfuhr also den Juden bei dem letzten Ansturm.
Man versteht vielleicht, daß der siegreiche Titus die Glückwünsche der
Nachbarvölker nicht entgegennehmen wollte, noch den Siegeslorbeer, den
man ihm als dem glorreichen Helden zusandte, um seinen Triumph zu
feiern. Zu viele merkwürdige Umstände, der so deutlich sichtbare Zorn
Gottes und Seine Hand, die er am Werke sah, ließen ihn den
bemerkenswerten und denkwürdigen Ausspruch tun, daß nicht er "der
Sieger sei, sondern nur ein schwaches Werkzeug der Rache Gottes". Dies
sind die denkwürdigen Ereignisse, durch die sich alle Voraussagen Jesu,
die er über die Stadt und den Tempel gemacht hatte, mit großer
Genauigkeit erfüllten. Sie begannen gegen Ende der Regierung Neros und
endeten im Jahre 7o unter Titus, wo also ganz sicher noch die
Generation derer lebte, die im Jahre 33 Zeitgenossen Jesu waren.
Tatsächlich wurden viele jener Zeitgenossen Zeugen dieser Ereignisse.
Zum Teil kamen sie dabei um, zum Teil überlebten sie. Aber nicht nur
Christen überlebten, sondern auch viele ungläubige Juden, die als
Gefangene und Sklaven in alle Welt verschleppt wurden. All diese
Tatsachen kann niemand anzweifeln, denn sie stehen im hellsten Licht
der Geschichte.
Wir müssen nun noch den Hintergrund betrachten, den die Natur für diese
Schrecken bildet : die Sonne verfinstert sich, der Mond scheintnicht
mehr, die Sterne fallen vom Himmel, das ganze Universum gerät in
Unordnung, wenn der Menschensohn mit seinen Engeln kommt in
Herrlichkeit, um die Auserwählten aus allen vier Himmelsrichtungen zu
sammeln. Diese Angaben beziehen sich doch wohl auf das Ende der Welt -
oder sollte die damalige Generation das auch alles noch erleben?
Die Lösung ist einfacher, als man denkt. Der Untergang Jerusalems wird
ja interpretiert als eine Art "Weltuntergang im Kleinen", in dem jene
letzte Katastrophe schon vorgebildet ist, und dies um so mehr, da beide
Ereignisse in eins zusammengefaßt sind. Dies gilt in ähnlicher Form
auch für die Prophetie der Jungfrauengeburt, die dem Hause des Achaz
und dem Hause Davids als Zeichen galt. Es gibt dennoch die Prophetie
von einem Emmanuel, der Vorbild für den wahren Emmanuel sein sollte.
Von diesem vorbildhaften Emmanuel heißt es: "Bevor der Knabe das Böse
zu verwerfen und das Gute zu wählen weiß, wird das Land, welches du
verachtest, von den beiden Königen verlassen werden." (Is. 8,3-4) In
diesem Kinde wird die Prophezeiung eine erste Erfüllung finden. Der
Messias aber, den Isaias in so klaren Ausdrücken vorhergesagt hat, wird
erst viel später in personam erscheinen, er wird aber jetzt gleichsam
in einem Vorläufer schon geboren. Das Mysterium seiner Geburt spielt
darin eine Rolle, um vor allem Volke den Glauben an die Verheißung
wieder zu erwecken. Es wird also ein Kind des Isaias geboren und sein
symbolischer Name wird ihm vor seiner Geburt schon gegeben.Diese Geburt
wird die nahe bevorstehendeVerwüstung Damasus und Ephräms anzeigen,
oder in einem höheren Sinne die Hölle, die besiegt und entmachtet
werden wir,d durch den Messias. Die Mutter dieses Kindes wird Prophetin
genannt, nicht weil sie die Gattin eines Propheten ist, sondern weil
die Geburt ihres Kindes ein prophetisches Zeichen ist und in diesem
Kind der Messias versinnbildlicht ist. Man könnte noch eine ganze Reihe
solcher Doppel-Prophetien in der Bibel anführen.
Da wir nun dieses Problem gelöst haben, kann man sagen: alles, was sich
auf den Jüngsten Tag bezieht, hat somit zweifelsohne im Untergang
Jerusalems eine erste vorwegnehmende Erfüllung, eben als Vor-Bildung
des kommenden Endes der Welt. Über die erschreckenden Zeichen an Sonne
und Mond wurde uns schon von Josephus berichtet, ebenso von Tacitus,
und die Versammlung der Erwählten "von einem Ende zum anderen" war
schon vorgebildet in der Bewahrung der Gläubigen an einem sicheren Ort,
getrennt von der Masse des verworfenen Volkes, das in den Mauern der
Stadt die Beute aller Strafen Gottes wurde, die sie schlagartig trafen.
Titus hatte dabei ein solches Entsetzen ergriffen, als er merkte, daß
sich hier augenscheinlich ein göttliches Strafgericht ereignete mit
unwiderstehlicher Gewalt, dessen schwaches Instrument er nur war und
für das er sich selber nicht verantwortlich fühlte: Gottes Wirken und
Macht zeigte sich den Heiden so offenkundig, daß sie in all den
Vorgängen Seine Hand am Werke sehen mußten, so daß Titus bekannte,
nicht er sei der eigentliche Sieger, dem die Ehre und der Triumph
gebührten.
Jesus hatte also Ereignisse angekündigt, welche die Generation seiner
Zeit noch erleben sollten und die zugleich eine Generalprobe sein würde
für das Ende der Welt. Wir haben also gar keinen Grund zu behaupten,
Jesus habe das Ende der Welt als nahe bevorstehend angesehen.
Mit dieser Beweisführung können wir aber unsere Gegner noch nicht
endgültig besiegen; denn diese Darlegungen, so einleuchtend und wahr
sie auch sein mögen, werden sie nicht nur nicht beeindrucken, ja, sie
werden sie nicht einmal verstehen. Denn bloße Rationalisten können von
ihrem Prinzip her den tieferen Sinn der Hl. Schrift gar nicht erfassen.
Dies ist aber in unserem Fall auch gar nicht nötig. Mann kann sie bei
ihrer Kritik selbst fassen und ihnen auf ihr eigenes Terrain folgen,
nämlich auf den Boden der Textkritik, um sie dort zu widerlegen. Denn
sie arbeiten mit verstümmelten und somit mit verfälschten Texten.
Wir wollen also die Texte von Matthäus und Lukas zu Ende lesen. Wir
werden dabei sehen, daß die Ereignisse, die "diese Generation" noch
erleben wird, nicht das Ende der Welt bedeuten. Dazu muß man den ganzen
Text lesen. So hören wir vom hl. Matthäus: "Wahrlich, wahrlich, ich
sage euch, diese Generation wird nicht vergehen, ehe dies alles
geschieht". Doch man darf nicht bei dieser Textstelle stehen bleiben,
denn die folgenden Worte "Himmel und Erde werden vergehen, aber meine
Worte werden nicht vergehen", sind nur eine Parenthese. Es folgt
nämlich sogleich die gegenteilige Position, die sich klar von der
ersten abhebt: "Jenen Tag und jene Stunde aber kennt niemand, auch
nicht die Engel des Himmels, sondern nur der Vater." Die gleiche
Aussage finden wir bei Lukas: "In Wahrheit sage ich euch, diese
Generation wird nicht vergehen, bis alle diese Dinge geschehen; aber
was jenen Tag und jene Stunde anbetrifft, so kennt sie niemand, weder
die Engel im Himmel noch jemand anders, außer mein Vater im Himmel."
Wenn also die Prophetie gegenüberstellt: diese Generation... diese
Dinge - auf der anderen Seite: jenen Tag... jene Stunde, und wenn sie
das Wissen um den Zeitpunkt jener Stunde entschieden zurückweist,
während sie andererseits von diesen Dingen sagt, daß sie die
Zeitgenossen Jesu noch erleben werden, dann bleibt doch kein Zweifel
mehr, daß Jesus je annahm, das Ende der Welt käme sehr bald.
Bossuet sagt dazu: "Zwei Zeiten werden angegeben: diese (haec) und jene
(illa) kennzeichnen zwei verschiedene Zeiten, und Jesus sprach auch zu
ihnen von zwei verschiedenen Ereignissen gemäß ihrer Frage: 'Wann wird
dies geschehen und was ist das Zeichen Deiner Wiederkehr?' Der
Untergang Jerusalems (dies) war nahe, und die Kirche mußte es wissen -;
jenen Tag aber - der seiner Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit, des
zweiten Kommens Christi und damit verbunden des Endes der Welt - weiß
niemand außer dem Vater im Himmel." |