"ICH HATTE HUNGER, ICH HATTE DURST!"
von
Ernest Hello
(aus: "Worte Gottes", Leipzig 1935; deutsche Übersetzung von Wolfgang Rüttenauer.)
"Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und
alle Engel mit ihm: dann wird Er sitzen auf dem Throne seiner
Herrlichkeit. Und alle Völker werden versammelt werden vor Ihm; und Er
wird sie voneinander scheiden, gleichwie ein Hirte die Schafe von den
Böcken scheidet. Und Er wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und
die Böcke zu seiner Linken. Und dann wird der König sagen zu denen, die
zu seiner Rechten sein werden: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters und
besitzet das Reich, das euch bereitet ward vom Anbeginn der Welt! Denn
ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig
gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben: ich bin ein Fremdling
gewesen, und ihr habt mich beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr
habt mich bekleidet; ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht;
ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden
ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich
hungrig gesehen und dich gespeist? Oder durstig und dir zu trinken
gegeben? Wann haben wir dich als Fremdling gesehen und dich beherbert;
oder nackt, und haben dich bekleidet? Oder wann haben wir dich krank
oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird
antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem
meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan! Dann wird
Er auch sagen zu denen, die zur Linken sein werden: Gehet weg von mir,
ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet worden dem Teufel und
seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht
gespeist; ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken
gegeben; ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht
beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet;
ich bin krank und im Gefängnis gewesen, und ihr habt mich nicht
besucht. Dann werden auch diese ihm antworten und sagen: Herr, wann
haben wir dich hungrig und durstig gesehen, oder als Fremdling, oder
nackt, oder krank oder im Gefängnis, und haben dir nicht gedient? Dann
wird Er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr
einem dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.
Und sie werden gehen zur ewigen Strafe, die Gerechten aber in das ewige
Leben." (Matthäus 25,31-46)
Die Gestalt des Fremden wir in der Menschheit immer von schwer faßbaren
Ahnungen umgeben, und wenn am letzten Tage die Söhne Adams verloren
oder gerettet sein werden, nach dem Maße der Gastfreundschaft, die sie
gewährt oder verweigert haben, wenn sie den, der schrecklich ist,
fragen werden: Herr, wann haben wir dich als Fremdling gesehen? ...
Wenn die Freude oder Verzweiflung der Antwort über sie kommen wird: an
diesem Tage werden sie wahrscheinlich in ihrem Innersten den Widerhall
eines Schreies ertönen hören, der die Welt richten wird, nachdem er sie
geprüft hat.
Nicht ganz aber wird sie überraschen die dreifach furchtbare
Offenbarung des Richters, der sprechen wird: Ich hatte Hunger. Sie
werden den sehn, den sie geschlagen haben, und das Erstaunen wird eine
seltsame Gestalt annehmen, aie man vorher nicht gekannt hatte, und
dennoch wird die letzte Offenbarung, die den einen und den andern die
Pforten zur Ewigkeit öffnen wird, sie nicht ganz überraschen.
Er, der am Ende der Welt das furchtbare Wort aussprechen wird: Er hat
von Anbeginn der Welt an das Wort bereitet, das er am Ende der Zeiten
sprechen wird. Schon Homer hat dem alten Heidentum gesagt: Alle Fremden
und alle Armen kommen von Gott. Und als er so sprach, sprach er nicht
im Namen des Heidentums, sondern im Namen uralter Überlieferungen, die
irrend und verwandelt durch die Welt wanderten, selbst Fremdlingen
gleich, weil sie nicht ein Gesetz gläubiger Völker waren, sondern durch
Völker wanderten, die sie kaum kannten.
Zu allen Zeiten waren die Menschen irgendwie gewarnt. Zu allen Zeiten
mißtrauten sie dem Fremden, als ahnten sie ihn ihm etwas Göttliches.
Der heilige Paulus spricht von den Engeln, die sich verbergen, und
weist uns an, den Fremden nicht abzuweisen. Man könnte sagen, daß die
Worte, die uns zur Gastfreundschaft raten, das Siegel göttlicher
Weisheit tragen. Sie enthalten - seht euch vor - etwas ganz Besonderes.
Das Gesetz der Gastfreundschaft ist nicht ein Gesetz wie jedes andere,
es ist ein Gesetz, das zu sagen scheint: Mißtrauet dem äußeren
Anschein. Ihr glaubt, einander zu kennen, und doch kennt ihr einander
nicht. Aber mißtrauet erst recht dem Fremden: Man weiß in seiner Nähe
nie sicher, mit wem man es zu tun hat.
Der Osten ist das Land der Gastfreundschaft, denn er ist die Wiege der
Welt; der Widerhall der ersten Überlieferungen ertönt dort mit vollerem
Klang. Die Schwingungen der Luft sind dort lebendiger, so daß man
leichter von der Gastfreundschaft spricht. Die östliche
Gastfreundschaft teilt nicht ihr Haus mit dem Fremden: Sie überläßt es
ihm. Der Eigentümer gibt es auf und überläßt es seinem Gast.
Die Achtung vor dem Gast und seine Unverletzlichkeit gehören zu den
größten Lehrsätzen der Menschenwelt. Es gibt ein feierliches
Versprechen, ausgesprochen oder unausgesprochen, den Fremden zu achten
und zu schützen. Die Länder des Lichtes und die Länder der Berge
scheinen in einer besondern Weise die Hüter dieser Überlieferung zu
sein. In den Ebenen, in den Flächen und in der Kälte des Westens
verlischt der Widerhall, und die Schwingungen der Luft werden kaum noch
gespürt. Bei den Arabern besteht die Gastfreundschaft noch in ihrer
vollen Größe, denn die Araber sind die Menschen des Abends, und der
Abend ist wie der Morgen die Stunde der Erinnerung. In der Mitte des
Tages wohnt die Vergessenheit. Der Dämon der Tagesmitte ist ein Dämon
der Vergessenheit.
Der Fremde und der Arme, die in den Versen Homers zusammen genannt
werden, gehören in der Wirklichkeit der Dinge zusammen. Überall und
immer sind sie die Abgesandten des Herrn, und in der Schrift sind ihre
Namen immer miteinander verbunden. Der Name des Armen verläßt nicht den
Namen Gottes. Wenn man den Worten ihre eigenste Bedeutung wiedergibt,
könnte man vielleicht sagen, daß er ihn ebensowenig verläßt wie sein
Schatten.
Immer wieder hört man in der alten Welt eine Stimme, die von Norden
oder von Süden kommt, vom Osten oder vom Westen und die die
Gastfreundschaft empfiehlt. Das ist nicht nur ein sittlicher Rat, es
handelt sich hier um etwas ganz Besonderes; die Gastfreundschaft wird
nicht nur einfachhin wie eine Tugend empfohlen, sondern wie ein
Geheimnis. Man könnte sagen, da&'-'fiie Welt durch diese so
schrecklichen Worte richten wird, die durch ihre Einfachheit noch
tausendfach schrecklicher sind.
Ich war ein Fremdling, ich hatte Hunger, ich hatte Durst ... Man könnte
sagen, daß der, der die Welt durch diese vertrauten Worte richten wird,
die Welt damit nicht überfallen will, sondern ihr im voraus eine Ahnung
von dem geschenkt hat, was ihr eines Tages widerfahren würde. Die
griechische Antike hat Homer besungen, und die Gastfreundschaft ist ein
immer wiederkehrender Gedanke bei diesem seltsamen Dichter, dessen
Persönlichkeit in seinem Werk untergegangen ist. Die heilige Antike
hatte das Beispiel Lohts und Abrahams, Loth saß vor seiner Tür und
wartete auf die Fremden, und die Geschichte sagt uns, wie tief seine
Achtung vor ihnen war. Abraham saß vor seinem Zelt in der größten Hitze
des Tages, als er die Reisenden ankommen sah. Das war geschehn im Tal
von Mamre. Abraham wartete zur Mittagszeit, Loth am Abend. Beide
warteten während der Zeit ihrer Ruhe, denn der Fremdling, der alles
braucht, braucht vor allem die Ruhe. Er braucht das Brot, das in der
Asche gebacken ist, um dessen Bereitung Abraham Sarah bittet. Er
braucht zartes Kalbfleisch, dessen Bereitung Abraham seinem Knecht
aufträgt. Aber er braucht vor allem Ruhe. Ruhe! Vielleicht erscheint
der Sabbat Gottes in der Ferne. Vielleicht schenkt der, der dem
Fremdling Ruhe gibt, Gott einen Sabbat.
Der die Welt erschaffen hat, der in der Welt ein Fremdling ist, bitet
um den siebenten Tag. Vielleicht ertönt der Widerhall dieses Wortes
ganz leise, wenn der Fremdling mit zitternder Stimme um Ruhe und Schlaf
bittet. Die Donner sind stumm, die Blitze leuchten nicht. Aber sie sind
im Verborgenen bereit, und an dem Tage, da der Richter das Antlitz des
Fremdlings enthüllen wird, wird man vielleicht sehn, daß sein
verlegenes und furchtsames Wort der Widerhall des Sinai war. Gott ist
der, der nichts bedarf, und das ist der Sinn des hebräischen Wortes
saddai. Der Arme und der Fremdling ist der, der Mangel hat. Ich
schreibe das Wort in der Einzahl, denn der Arme und der Fremdling sein
ist eines. Der Reicheist niemals ein Fremdling. Gott, der keinen Mangel
hat, erscheint beim Jüngsten Gericht als gegenwärtig in dem, der Mangel
leidet.
Darum die große Überraschung: darum das maßlose Erstaunen; aber auf dem
Grunde ihrer Verwunderung werden die Erstaunten die tiefste und
vergessenste Stimme wiedererkennen, die innerlichste, einsamste und
heiligste Stimme ihres Geistes und ihres Herzens, und diese Stimme wird
sie in ihrer wortlosen Sprache an die Mahnung erinnern, die sie an sie
gerichtet hatte.
Die Erstaunten können dann wohl sagen: Herr, wann haben wir dich als
Fremdling gesehn ... Aber sie werden es nicht sprechen können, ohne zu
zittern; ihre Frage wird ihnen keine Sicherheit geben, denn ihr wach
gewordenes Gewissen wird ihnen zeigen, was es im Innersten seines
Schlafes bewahrt hat. Diese Worte des Gerichtes, die das ewige
Schicksal der Menschen entscheiden werden, erscheinen mir in ihrer
Vertrautheit furchtbarer, als wenn sie sich bemühten, sich furchtbar zu
zeigen.
Gebt einem Menschen die Aufgabe, über diese Worte nachzudenken;
beauftragt einen Menschen, der sie nicht kennt, zu erraten, welche
Worte das Menschengeschlecht richten werden ... Er wird nach den
tönendsten Worten suchen, die nach außen von gewaltiger Feierlichkeit
sind. Er wird es versuchen, den Donner und den Blitz in seine Stimme zu
legen. Das Hochgefühl der Macht wird über ihn kommen. Er wird sich mit
der Majestät des Richters bekleiden wollen. Er wird sich davor scheuen,
zu Einzelheiten herabzusteigen. Er wird die Dinge aus der Ferne
betrachten. Er wird es versuchen, als Gott zu sprechen. Jesus Christus
aber blickt mit einer tiefen Erinnerung auf die Einzelheiten des
Elends. Er kennt den Durst. Wenn er irgendwo auf der Erde fremd ist,
dann ist er es nicht da, wo das Elend ist. Und mit einem wunderbar
menschlichen Blick, mit dem tiefen Blick der Erinnerung, sagt er Dinge,
die so vertraut sind, daß sie den Gesprächen der Menschen gleichen,
wenn sie frei miteinander sprechen, ohne von den Nachbarn belauscht zu
werden.
Ich hatte Hunger, ich hatte Durst, ich war ein Fremdling. Und die
Säulen der Himmel erzittern ... Die Säulen der Himmel erzittern, und
für die einen und für die andern werden sich die Pforten der
immerwährenden Ewigkeit öffnen. Kein Auge hat es gesehn, kein Ohr hat
es gehört, und das Herz hat es nicht geahnt... Werfet das Senkblei in
die Tiefe des Menschen. Neiget euch über den Abgrund u. verharret über
ihm ... Höret, ob das Senkblei den Grund erreicht. Ihr werdet nichts
hören. Messet die Freude und die Verzweiflung, die das herz des
Menschen fassen kann: Zählet die bekannten und unbekannten
Möglichkeiten der Freude und der Verzweiflung. Schätzet die Fülle
dieser Möglichkeiten ab .... Es ist völlig unmöglich.
Versucht einmal, dieses Wort Ewigkeit zu fragen, was es bedeutet. Wollt
ihr die Jahrhunderte ihrer Dauer zählen? Betrachtet die I, sie bedeutet
ein Jahrhundert. Dann denkt euch eine Reihe von Nullen: Wer wird
versuchen, die Unendlichkeit der Jahrhunderte zu zählen? ... Die Reihe
der Nullen erfüllt den Raum, sie erfüllt die Unendlichkeit. Sie
entschwindet euch wie ein Pferd im Galopp. Sie entflieht euch wie ein
Adler.
Es gibt Sterne, die so weit entfernt sind, daß uns ihr Licht nach
sechstausend Jahren noch nicht erreicht hat; die Reihe der Nullen füllt
die Entfernung aus und die Milliarden und Abermilliarden der
Jahrhunderte verlieren ihren Namen in diesem Abgrund, als wären sie
untergegangen im Weltmeer; jegliches Maß ist aufgehoben, und die
Ewigkeit hat noch nicht die erste Silbe ihres Namens ausgesprochen.
Immer! Immerdar! Ich hatte Hunger ... Ich hatte Durst ... Ich war ein
Fremdling. Ja, die Worte sind einfach, aber die Säulen der Himmel
erzittern.
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