DER HL. VINZENZ VON LERIN
von
Eugen Golla
Obwohl seit der großen Apostasie der jüngsten Zeit oft zitiert, ist der
hl. Vinzenz von Lerin keineswegs ein populärer Heiliger. Ja, man wird
seinen Gedenktag vergebens im Schott suchen. Spärlich ist auch unser
Wissen über sein Leben, ebenso helfen keine Legenden, das Fehlende zu
ergänzen oder zu erschließen. Fest steht folgendes: Vinzenz, ein
Gallier von Geburt, zieht sich nach einem turbulenten Lebenswandel in
die Einsamkeit des Klosters Lerin auf einer der Lerinischen Inseln vor
der Küste Südfrankreichs in der Nähe von Nizza zurück und wird, falls
er es nicht schon vorher war, Priester. Nicht einmal das Jahr seines
Todes ist uns überliefert. Sicher ist nur, daß es zwischen 434 und 45o
liegen muß.
In der klösterlichen Abgeschiedenheit verfaßte Vinzenz, der in der
Exegese und Dogmatik nicht geringe Kenntnisse besaß, in lateinischer
Sprache das Werk, welches ihm unter den Kirchenschriftstellern für
immer einen Namen verschaffen sollte: das "Commonitorium"
("Merkbüchlein"). Dieser Titel ist folgendermaßen zu verstehen: Der
Autor merkt in der Vorrede und am Schluß an, dieses Buch sei nur zur
Unterstützung seines eigenen Gedächtnisses verfaßt worden. Aber allein
schon die Tatsache, daß es unter dem Pseudonym "Peregrinus" ("Pilger")
erschien, läßt uns vermuten, daß diese, in einem flüssigen, auf Wirkung
berechneten Stil verfaßte Schrift nicht nur für den privaten Gebrauch
abgefaßt worden war, sondern veröffentlicht werden sollte, ja auf
weitere Kreise einwirken sollte. Vielleicht spielte beim Verschweigen
des Verfassernamens mönchische Bescheidenheit, die schriftstellerischem
Ruhm aus dem Wege gehen wollte, eine gewisse Rolle. Wahrscheinlich
diente aber das Pseudonym dem Autor, der ein Gegner der augustinischen
Gnadenlehre war - hierüber später mehr - als Gewähr für eine gewisse
Anonymität.
Das, wie Vinzenz sagt, in "schlichter Gesprächsform" abgefaßte Buch gliedert sich in:
- Vorrede,
- die berühmte Glaubensregel,
- die Abhandlung über den Umstand, daß Gott Prüfungen im Glauben
zuläßt, d.h. daß bisweilen hervorragende Männer mit neuen Lehren
auftreten,
- die Erörterung der Frage, ob es trotz des Festhalten an der Tradition in der Kirche einen Fortschritt geben kann,
- eine Erklärung für die eigenartige Tatsache, daß sich auch Häretiker bei ihren Neuerungen auf die hl. Schrift berufen,
- eine teilweise Zusammenfassung des verlorenen gegangenen zweiten
Buches des "Commonitoriums" mit besonderer Berücksichtigung des
ökumenischen Konzils von Ephesus im Jahre 431.
Wenn auch die zum Heil notwendigen Glaubenswahrheiten in der Heiligen
Schrift enthalten sind, betont Vinzenz mit Recht, ist infolge der ihr
eigenen Tiefe das Verständnis sämtlicher in ihr enthaltener Momente in
ein- und demselben Sinne dennoch nicht gesichert, zumal sich auch
Häretiker auf Bibelstellen stützen würden, die sie jedoch falsch
auslegen würden.
Bei den Sätzen, die Bestandteile katholischer Dogmen sind, müßten wir daher Sorge tragen, "daß wir festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde;
denn das ist im wahren und eigentlichen Sinne katholisch." (Comm.,
c.2,3) Anschließend folgt die genauere Bestimmung dieser Glaubensregel:
"Was wird also der katholische Christ tun, wenn sich irgendein kleiner
Teil der Kirche von der allgemeinen Glaubensgemeinschaft absondert? was
anders, als dem ansteckenden, kranken Gliede die Gesundheit des ganzen
Leibes vorziehen?
Wie nun, wenn eine neue Seuche schon nicht allein einen kleinen Teil,
sondern die ganze Kirche zugleich zu verpesten sucht? Dann wird er in
gleicher Weise besorgt sein, sich ans Altertum zu halten, das in keiner
Weise mehr von irgendeiner trügerischen Neuerung verführt werden kann.
Wenn nun aber auch im Altertum ein Irrtum zweier oder dreier Männer
oder sogar einer ganzen Stadt oder Provinz angetroffen würde? Dann wird
er vor allem darauf bedacht sein, der Vermessenheit oder der Unkenntnis
weniger die Beschlüsse eines allgemeinen Konzils, wenn solche in alter
Zeit von der Gesamtheit gefaßt wurden, vorzuziehen. Wie aber, wenn so
etwas auftaucht in Dingen, über die sich kein derartiger Beschluß
finden läßt? Dann wird er sich Mühe geben, die Aussprüche der Alten
miteinander za vergleichen, heranzuziehen und zu befragen, jedoch nur
derjenigen, die, wenn auch zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen
Orten, doch in der Gemeinschaft und im Glauben der katholischen Kirche
verharrten und so als maßgebende Lehrer sich bewährten. Wenn er dann
findet, daß nicht nur einer oder zwei, sondern alle zugleich und in
demselben Sinne etwas klar, wiederholt und permanent festgehalten,
geschrieben und glehrt haben, so soll er wissen, daß auch er dieses
ohne alles Bedenken für wahr halten muß."
Der Kernsatz "wir müssen festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde"
ist somit so zu interpretieren, daß diese drei Kriterien nicht
zusammen, sondern alternativ anzuwenden sind. Im Anschluß daran
erläutert Vinzenz diese Regel an verschiedenen damaligen Irrlehren wie
dem Donatismus in Nordafrika und dem Arianismus. Ausführlich behandelt
er auch die vorbildliche Entscheidung des Papstes Stephanus I.
(254-257) im Streit um die eventuelle Notwendigkeit der nochmaligen
Taufe derer, die von Ketzern getauft, zur Katholischen Kirche
zurückkehren wollten: Er forderte nämlich die Annahme des römischen
Brauches (gemeint ist: keine Wiedertaufe): "Er hat (...) folgende
Verordnung getroffen: Nichts Neues ist einzuführen gegenüber dem, was
überliefert ist". (Comm., c.6,9)
Vinzenz erweckt in seiner Abhandlung den Eindruck, als ob jeder
einzelne Gläubige in Streitfällen suchen müsse, was immer, überall und
von allen geglaubt würde. Dann allerdings würde dieses Formalprinzip
problematisch und reich an Fallstricken. So verwendete es z.B.
Döllinger in seinem Kampf gegen das Dogma der päpstlichen
Unfehlbarkeit, indem er erklärte, diesem fehlten die drei Eigenschaften
des lerinischen Kanons.
Von einem großen Theologen des 19. Jahrhunderts, Kard. Franzelin,
stammt die treffende Formulierung, der vinzentinische Kanon sei richtig
nur sensu affirmate, d.h. im bejahenden Sinne, nicht sensu excludente
(im ausschließenden Sinne), was folgendes besagt: alles, was überall
seit den ältesten Zeiten allgemein Zustimmung fand, weist auf eine
göttliche Tradition hin; aber auf eine rechtmäßige Entwicklung ist es
zurückzuführen, daß es nunmehr sichere katholische Wahrheiten gibt,
welche nicht immer überall und von allen ausdrücklich geglaubt würden.
Der Grund hierfür ist, daß es in der Kirche ein ständiges Lehramt gibt.
Dies wird an einigen Stellen seines Buches durch den Hinweis auf die
Wichtigkeit von Entscheidungen Roms oder ökumenischer Konzilien
hervorgehoben. So schreibt Vinzenz im letzten Kapitel: "Wenn nun weder
die apostolischen Satzungen noch die kirchlichen Entscheidungen
verletzt werden dürfen, durch welche nach der hochheiligen
Übereinstimmung der Allgemeinheit und des Altertums immerfort alle
Häretiker (...) mit Fug und Recht verurteilt worden sind, so müssen
fürwahr in der Folgezeit alle Katholiken, die sich als echte Söhne der
Mutter Kirche erweisen wollen, dem heiligen Glauben der heiligen Väter
anhangen und bis zum letzten Atemzuge treu bleiben, die ruchlosen
Neuerungen ruchloser Menschen aber verwünschen, verabscheuen, bekämpfen
und verfolgen." (Comm., c.33) Seit einem Vierteljahrhundert besteht nun
diese, normalerweise vom Papst und der mit ihm in Gemeinschaft
stehenden Bischöfe ausgeübte Lehrgewalt nicht mehr. Insoweit hat die
Schrift des hl. Vinzenz erneut Aktualität erlangt. Zugleich müssen wir
es aber als eine besondere Gnade Unseres Herrn ansehen, daß Er diesen
Zusammenbruch erst 15oo Jahre nach Vinzenz Tod kommen ließ, in welcher
Zeit die Kirche eine fast unerschöpfliche Fülle von Entscheidungen
hinterließ.
Eine besondere Ehrung wurde dem "Commonitorium" zuteil, als das
Vatikanische Konzil von 1869/7o in seiner Konstitution "Dei filius"
folgenden Satz von ihm übernahm: "Wachsen also und kräftig zunehmen
soll sowohl bei den einzelnen als bei allen, sowohl bei dem einen
Menschen als in der ganzen Kirche, nach den Stufen des Alters und der
Zeiten, die Einsicht, das Wissen und die Weisheit, aber lediglich in
der eigenen Art, nämlich in derselben Lehre, in demselben Sinne und in
derselben Bedeutung." (Comm., c.23,28)
Somit bejaht Vinzenz die Notwendigkeit einer organisch wachsenden
Entwicklung des Glaubens, die nichts gemein hat mit der Änderung bzw.
Ablehnung "nicht zeitgemäßer" Dogmen. Dieser Fortschritt soll analog
der Entwicklung in der Natur, dem Wachstum des Menschen, der Tiere und
der Pflanzen sein: "Die Religion der Seelen soll die Art der Leiber
nachahmen, die im Verlauf der Jahre wohl ihre Teile entfalten und
entwickeln, aber doch dieselbenbleiben, die sie waren. (...) So muß
auch die Lehre der christlichen Religion diesen Gesetzen des
Fortschrittes folgen, daß sie mit den Jahren gefestigt, mit der Zeit
erweitert und mit dem Alter verfeinert werde, dabei jedoch unverdorben
und unversehrt bleibe". (Comm., c.23,29) "Das und nichts anderes, sage
ich, hat die katholische Kirche immer, durch die Neuerungen der
Häretiker veranlaßt, mit ihren Konzilsbeschlüssen erreicht, daß sie
das, was sie früher von den Vorfahren nur durch mündliche Überlieferung
empfangen hatte, später den Nachkommen auch schriftlich und urkundlich
hinterließ, indem sie in wenige Worte vieles zusammenfaßte und oft zum
Zwecke des klareren Verständnisses einen nicht neuen Glaubenssinn mit
einem passenden neuen Ausdruck bezeichnete." (Comm., c.23,32) Hier
dachte der Autor an Termini, die von den ökumenischen Konzilien
eingeführt wurden wie z.B. der Terminus homousios (wesensgleich - in
der Abgrenzung gegen die Arianer) oder Theotokos (Gottesgebärerin - im
Gegensatz zu 'nur' Christotokos).
Die Häretiker dagegen tragen laufend Neuerungen vor, wobei sie in
Nachahmung Satans reichlich 'Beweise' aus der Hl. Schrift anführen:
"Was wird der den armen Menschen tun, der selbst auf den Herrn der
Herrlichkeit mit Schriftzeugnissen losging? 'Wenn', sagte er, 'du der
Sohn Gottes bist, stürze dich hinab'. Warum? 'Denn es steht
geschrieben', sagte er". (Comm., c.26) Wie aktuell ist dies für unsere
Zeit, in der die Zerstörer des überlieferten Glaubens und der Liturgie,
sowie die Befürworter einer Moral, die sich dem Libertinismus
angleicht, ihre Thesen mittels Stellen aus der Schrift und deren
willkürlichen Exegese zu belegen und zu rechtfertigen suchen!
Zu Zeiten des hl. Vinzenz war außer dem Arianismus die Irrlehre des
Pelagianismus, welche die Erbsünde sowie die Notwendigkeit der Gnade
zur Beachtung des Sittengesetzes leugnete, weit verbreitet. Der
Semipelagianismus, ein theologischer Vermittlungsversuch zwischen der
rechtgläubigen Gnadenlehre des hl. Augustinus und dem Pelagianismus,
besaß vor allem in Südgallien zahlreiche Anhänger. Sorgfältige
Forschungen ergaben, daß auch Vinzenz mitsamt den übrigen
Klosterinsassen von Lerin dieser Auffassung des Semipelagianismus
zuneigten. Zwar wird Augustinus im Commonitorium nicht namentlich
kritisiert, ja, es wird sogar Pelagius heftig angegriffen; dennoch ist
eine versteckte Polemik gegen die Gnadenlehre des kurz vor Abfassung
des Werkes verstorbenen Bischofs von Hippo herauszulesen. Offen
anzugreifen wagte Vinzenz, der des großen Heiligen Ansichten über die
Dreieinigkeit und die Inkarnation teilte, natürlich nicht, zumal der
Papst auf Seiten Augustins stand.
Dennoch ist gegen die Verehrung des Vinzenz von Lerin als Heiligen
nichts einzuwenden. Wie schon Prosper Lambertini, der spätere Papst
Benedikt XIV. (1740-1758) (als Promotor fidei lange Zeit eine der
maßgebendsten Personen bei Heiligsprechungen) schrieb, sind die zu
entschuldigen, welche sich in einer vom päpstlichen Stuhl noch nicht
definierten Lehre ein menschliches Versagen zuschulden kommen ließen.
(N.b. der Semipelagianismus wurde erst im 6. Jahrhundert verurteilt)
Seine sterblichen Überreste wurden lange Zeit in Lerin hochverehrt,
ohne daß allerdings ein eigener Kult bestand. Erst um 16oo veranlaßte
der große Kirchenhistoriker Kard. Baronius, daß Vinzenz unter dem Datum
des 24. Mai in das Martyrologium Romanum eingetragen wurde.
Literatur:
1. Vinzenz von Lerin: "Commonitorium", dt. von Gerhard Rauschen, Kempten und München (Bibliothek der Kirchenväter Bd.2o).
2. "Vinzenz von Lerin" in: "Dictionaire de théologie Catholique" Bd.6, Paris.
3. "New Catholic Encyclopedia" Bd.14.
4. "Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche" Bd. 2o, Leipzig 19o8.
5. "Vie des Saints" Bd,5, Paris 1947.
6. Wetzer und Welter: "Kirchenlexikon" Bd.12, Freiburg 19ol.
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