ES BLEIBT DABEI:
DlE DEUTSCHEN SIND EINE SCHRUMPFENDE NATION
von
Horst Stein
(aus: DIE WELT vom 2.12.85)
Die sprichwörtlich tüchtigen Deutschen halten einen Negativ-Rekord, der
mehr ihre Nachbarn als sie selber zu erschrecken scheint: Seit 1974
meldet die Bundesrepublik die niedrigsten Geburtenraten der Welt. Bis
zum Jahr 2o3o, so die Prognosen, wird sie 2o Millionen Menschen weniger
zählen. Der Einbruch in die genetische Substanz übertrifft schon jetzt
die Auswirkungen der beiden Weltkriege bei weitem, und er wird für das
Leben unserer Kinder und Enkel tiefgreifende, ja: katastrophenhafte
Folgen haben - beispielsweise für den Arbeitsmarkt wie für die
Alterssicherung, für das Bildungswesen wie für die Bodenpreise oder die
Verteidigung. Sogar eine neue Völkerwanderung, hungernde Massen aus
Afrika und Asien, gilt nach den neuesten Hochrechnungen der UNO als
durchaus möglich. Denn das hat es in der Geschichte bisher noch nicht
gegeben: das fruchtbare Böden in gemäßigten Klimazonen auf Dauer
menschenleer geblieben wären.
Es ist, als hätten die Deutschen auf ihrem Weg durch die Düsternisse
dieses Jahrhunderts alle Vitalität verbraucht; es scheint, als wäre
ihnen die Last der vielen Prüfungen - Niederlage, Okkupation, Teilung,
Vertreibung und die Kraftanstrengung schließlich zur Bewältigung von
Wiederaufbau und Wertewandel - am Ende doch zu schwer geworden. Denn
derlei geht ja an die Ressourcen, das kostet Substanz. Anstatt nämlich
stolz zu sein, daß sie auf den Trümmern der historischen Katastrophe so
rasch eine neue, florierende Ordnung errichtet hatten, verfielen die
Deutschen der Bundesrepublik - und von ihnen soll hier vornehmlich die
Rede sein - offenkundig einer Art von kollektivem Pessimismus. So
jedenfalls deuten es Bevölkerungswissenschaftler und Soziologen, daß
seit dem Anfang der siebziger Jahre mehr und mehr Bürger Fortpflanzung
und Elternschaft verweigern.
Für Briten und Franzosen vollkommen unverständlich. Da hatten diese
Deutschen eben doch, soweit es mit ihren Mitteln möglich war, die
Vergangenheit bewältigt, da fingen sie an, sich von der Zukunft
abzuwenden; als hieße die Maxime dieser gemeinsamen Flucht aus der
Geschichte: Wenn schon nicht unsichtbar, dann wenigstens so klein wie
möglich. Genauere Beobachter der Bundesrepublik freilich kennen die
Art. Es ist die Weise, in der Polit-Pygmäen ihre Nischen zimmern. Ein
internationaler Psychologen-Kongreß hat dazu bemerkt, es müsse sich um
eine deutsche Neurose handeln.
Die Zahlen sprechen eine so deutliche Sprache, daß man die
Negativ-Entwicklung nur dramatisch nennen kann. 2ooooo Babys müßten
jährlich zusätzlich geboren werden, allein um die Zahl der Deutschen in
der Bundesrepublik - gegenwärtig 56,5 Millionen zu etwa 4,4 Millionen
Ausländern - auch nur annähernd zu halten. Doch niemand vermag zu
sehen, wie eine solche Wende erreicht werden könnte. Und schlimmer
noch: Es ist nirgendwo ein politischer Wille sichtbar, dieses Ziel
wenigstens anzustreben, außerhalb des engen Zirkels der
Fachwissenschaft eine Methoden-Diskussion in Gang zu setzen und
Problembewußtsein zu schaffen.
Dabei dauert der Trend, der uns seit 1972 nur noch Negativ-Zuwächse
beschert, ungebrochen an. Er hat sogar eine zusätzliche Verstärkung
erfahren, weil die Bundesbürger nicht nur immer weniger Kinder kriegen,
sondern auch seltener und später heiraten. Verglichen mit den
fruchtbaren mittsechziger Jahren werden Mitte dieser achtziger sogar
5ooooo Kinder weniger geboren. Das heißt hochgerechnet, daß die
Bundesrepublik seit 1965 auf neun Millionen Kinder verzichtet hat - zum
größten Teil, weil gar nicht erst gezeugt, mit der Pille verhindert
(der berühmte "Knick"), zu einem anderen, weil abgetrieben. Sind wir
als Volk drauf und dran, uns von der Landkarte Europas zu knicken?
Wenn seit 1965 jedes zweite deutsche Kind an einer geheimnisvollen
Epidemie gestorben wäre: welche Tragödie! So aber, so merkt der Mainzer
Landtagspräsident Heinz Peter Volkert bitter in einer Alarmschrift an,
"hat kaum jemand das Gefühl, daß auch dies eine ganz reale nationale
Katastrophe ist". Nun haben Völker zwar, nicht nur ihre Regierungen,
immer schon Probleme beim rechten Umgang mit Katastrophen gehabt -
Stalingrad wird sozusagen überall negiert. Doch das Un-Verhältnis, das
hierzulande Regierungen wie Parteien, die Medien wie die breite
Öffentlichkeit gegenüber dieser lautlosen demographischen Revolution
entwickelt haben, dies hallende Schweigen, das sie vernehmen lassen,
das findet man ähnlich nirgendwo auf dieser Erde mehr. (...) Wo ein
Wille ist, da ein Weg; wer freilich um das Ziel nicht weiß, kann auch
den Weg nicht finden. |