Wider den Relativismus
von
Werner Olles
Eine der wichtigsten Forderungen der "Situationistischen
Internationale", einer Pariser Intellektuellen- und Künstlerbewegung im
Spannungsfeld zwischen Existentialismus und Revolutionseuphorie in den
späten fünfziger und sechziger Jahren, war neben der Abschaffung aller
Museen und Friedhöfe, dem Abschütteln des Erinnerungsballasts und der
Entfernung aller Denkmäler, die Ausrüstung aller Straßenlaternen mit
einem eigenen Schalter zum Ein- und Ausschalten je nach Belieben der
Passanten. Es ging den Situationisten um eine durch keine
institutionelle Ordnung beschnittene und verfremdete Individualität.
Von hier aus war es über die 68er-Bewegung nicht weit zum
Trivial-Individualismus der Postmoderne mit seiner Koexistenz der
diversen Geschmäcker, Lebensweisen und Leidenschaften.
Man darf die Situationisten also ruhigen Gewissens als die eigentlichen
Erfinder und Entdecker der Postmoderne bezeichnen. Zwar ist dieser
Begriff ein schillernder und oberflächlicher, denn die Postmoderne ist
ja im Grunde nichts anderes als die gute alte Moderne, die leider nicht
die Konsequenz aufbrachte zu sterben, ehe sie in Krankheit und Elend
vergreiste. Als System der Gefälligkeit ist die Postmoderne aber auch
ein ewiger Workshop des ständigen Umgestaltens und der permanenten
Veränderung. Jeder einzelne möge der Herr seines Schicksals sein auf
dem Weg ins Glück der individuellen Wunscherfüllung, lautet ihr Credo.
Das funktioniert jedoch nur, wenn man die kollektive Psyche zum Wesen
alles Gesellschaftlichen erklärt und den geschichtlichen Status einer
Gemeinschaft auf pure Sozialpsychologie reduziert. Alles kann dann in
Frage gestellt werden, außer den Fragenden. Nichts soll unterdrückt
werden, alles soll möglich sein. Aber alles ist am Ende immer nichts.
Ihre wohl schärfste theoretische Ausprägung findet dieses aus der
Existentialphilosophie Jean-Paul Sartres stammende Konzept in der
Bewegung der sogenannten "Glücklichen Arbeitslosen" und deren
hedonistischer Negation der Arbeit; ihre mediologisch originellste
jedoch in Medienphänomenen wie "Big Brother". Daß diese
"Dauerspontaneität" eines vagen, unentschiedenen Pluralismus über das
ständige Konstatieren einer progressiven Dissoziation alles Sozialen
nie hinauskommt liegt an ihrem zutiefst apolitischen Begriff einer
Gesellschaftskritik, die letztlich außer der Verteidigung einer
privatisierten Individualdemokratie nichts zu bieten hat. Wenn alles
sich auf das Hervorbringen von "Situationen" reduziert, die
smartie-bunte Spaßgesellschaft mit ihren postmodernistischen
Ausdrucksformen der Pop- und Alltagskultur, die Lifestyle-Generation
mit ihren bleichen Zeitgeist-Talenten, die in den seichten Gewässern
libertärer Emanzipationskampfrituale planschenden neuen "Bewegungen",
reicht es nicht einmal zu einem Konzept des aktiven Nihilismus. Die
lächerliche Verfallsgestalt der postmodernen Gute-Laune-Simulation und
des sozialästhetischen Tabubruchs muß dann generös zur großen Zukunft
umgelogen werden.
Als Leibwächter dieser Ästhetisierung des postmodernistischen Elends
bieten sich die Relativisten jeglicher politischer Coleur an. Weil sie
selbst nicht in der Lage sind ein Erkenntnisurteil zu vollziehen,
lauschen sie begehrlich auf die diversen "Wahrheiten" in der Geschichte
und Gesellschaft. So paaren sich alsbald Meinungen mit Meinungen, aber
die Früchte dieser widernatürlichen Meinungspaarungen sind allesamt
totgeborene Kinder. Die Relativisten, die sich selber nicht ernst
nehmen wollen, interpretieren und deuten mit einem an Frechheit
grenzenden pseudosouveränen Gestus und dem dazu passenden
Talk-Show-Geschnatter Geschichte, Politik und Kultur ohne Rücksicht auf
Lebende und Tote. Diese Haltung ist eine prinzipiell parasitische und
leichenfleddernde, die allein von der Substanz der vergangenen Zeiten
lebt, um sie für ihre Zwecke zu verbrauchen.
Allerorten florieren heute sogenannte Akademien, wo in Diskussionen,
Symposien, Podiumsgesprächen und Referaten sogenannte Meinungen
ausgetauscht werden. Hier operieren die Wahrheits- und
Erkenntnisrelativisten mit ihren Thesen der Unmöglichkeit einer klaren
Erkenntnis des Wirklichen und damit der Unmöglichkeit einer bestimmten
Handlungsweise. Wer aber nicht weiß, was er will, müßte der Ehrlichkeit
halber hinzufügen, daß er auch nicht weiß, was er behauptet, und daß
man mit ihm in keinem gemeinsamen Bemühen um die Wahrheit stehen kann.
Wer nur im endlosen Strom eines Meinens schwimmen will, das sich bewußt
der Wahrheit entzieht, schließt sich freiwillig von dieser aus. Der
Geist des Relativismus will zwar mit der abstrakten Idee leben, aber er
verweigert deren Verwirklichung. Wenn das Wort aber nicht Fleisch
werden soll, zerstört es auch die zwischenmenschlichen Beziehungen bis
an die Wurzel, weil alles was aus und in der Wahrheit lebt damit
zerstört wird.
Dieser Vernichtungskampf gegen die Wahrheit und damit gegen das Leben
tobt heute überall: Im Hang zur Beliebigkeit, der die Hip-Hop-Politik
unserer politischen Klasse kennzeichnet, in den als Programm
ausgegebenen intellektuellen Defizienzen der vermassten Lebensästheten
und ihrer Alltagsexzentrik, im Politästhetizismus sogenannter
"souveräner" Individuen, die permanent Sein mit Design verwechseln und
überall dort, wo das monologisierende Geschwätz an die Stelle der
Erkenntnisbemühungen tritt und der Andere moralisch ermordet wird. Wo
die Argumente nicht stimmen, ist der Instinkt am Werk und kreiert ein
System der Feigheit und des universellen Parasitismus. Man lebt nur und
ausschließlich vom Erbe der Vergangenheit und aus der Substanz des
Früheren, verachtet diese jedoch, gibt vor sie nicht zu kennen und
kennt deren wesentliche Wirklichkeit tatsächlich nicht.
Aus einer bizarren Ideologie der fünfziger Jahre hat sich dieser Typus
über Jahrzehnte hinweg weiterentwickelt bis zu seiner Trivialisierung
und Banalisierung in der Postmoderne. Der amerikanische Historiker
Christopher Lasch erkannte bereits in den siebziger Jahren, daß die
"neuen sozialen Bewegungen" trotz ihres vordergründigen Moralisierens
das "Zeitalter des Narzißmus" eingeläutet haten. Wenige Jahre später
war die infantil vor sich hin schäkernde postmoderne Unbeschwertheit
bereits an der Tagesordnung und gleichzeitig feierte der Relativismus
der "Situationisten" seine schmerzlose Wiedergeburt. Verwunderlich ist
dabei nur, daß offenbar niemand, weder links noch rechts, diesen
Zustand als offenkundiges Krisenphänomen einer Gesellschaft erkennt,
deren kritische Kritiklosigkeit Theodor W. Adorno bereits in den
"Minima Moralia" zutreffend beschrieb: "Die Verteidigung des Naiven,
wie sie von Irrationalisten und Intellektuellenfressern aller Art
betrieben wird, ist unwürdig. Die Reflexion, welche die Partei der
Naivität annimmt, richtet sich selbst: Schlauheit und Obskurantismus
sind immer noch dasselbe. Sie dient allem Schlechten, von der
Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seins bis zur Rechtfertigung
des gesellschaftlichen Unrechts als Natur".
Die bewußtlosen Träger dieser falschen Unmittelbarkeit sind jedoch
längst im Zustand völliger Infantilität angelangt. Am symptomatischsten
und exemplarischsten ist dies immer noch an der nicht nur die
alljährliche Vermüllung des Berliner Tiergartens sondern auch die
"Vermüllung der bürgerlichen Subjektivität" (Robert Kurz) bewirkenden
"Love Parade" zu erkennen. Daß deren Mitläufer wirklich eine grobe
Unverschämtheit begehen, wenn sie "Ich" sagen, ist dabei noch das
kleinste Ãœbel dieser Karikatur einer Massendemonstration, die geistig
keinerlei Inhalte mehr zu artikulieren fähig ist. Dennoch geben unsere
Relativisten solche Events organisierter Willenlosigkeit gern als
"Ausdruck emanzipatorischen Willens" aus. Tatsächlich hat noch der
armseligste Karnevalsumzug in einer oberhessischen Kreisstadt mehr
Originalität und wirkt geradezu von sinnlichem Raffinement erfüllt im
Vergleich zu jener tölpelhaft zur Schau gestellten Selbstinszenierung,
deren elende Erbärmlichkeit auch durch immer größere Schamlosigkeit
nicht mehr kaschiert werden kann.
Noch einmal Adorno: "Welch einen Zustand muß das herrschende Bewußtsein
erreicht haben, daß die dezidierte Proklamation von Verschwendungssucht
und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Attachès in ungarischen
Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen
Lebens erhoben wird?" Die Frage stellen heißt sie beantworten. So
schwach und substanzlos wie der Relativismus als Philosophie der
Postmoderne in seiner theoretischen Bestimmungslosigkeit und
Unverbindlichkeit daherkommt, so dürftig stellt sich auch die
johannistriebige Zivilgesellschaft in ihrer hippigen Popverkleidung
dar. Daß sich diese Form herunterästhetisierter Politik in das
Designer-Bewußtsein der politiko-kulturellen Galionsfiguren jeglicher
Coleur einklinken konnte, zeugt indes von ihrem ungebrochenen
Sendungsbewußtsein. Doch Gott sei Dank wird in den Händen der
postmodernistischen Relativisten sogar noch der
individualanarchistische Sprengstoff eines Max Stirner ("Mir geht
nichts über mich!") zur dünnen Cola light.
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