RESPHA
von
H.H. Pastor V.A. Stuyver
übersetzt von Helene Heynsbrock-Müller
Vorwort:
In der Form eines Dialoges, den ein junges engagiertes Mädchen, Respha,
mit ihrem Religionslehrer - zugleich der Erzähler dieses Gespräches -
führt, setzt sich in nachfolgender Aussprache H.H. Pastor Stuyver mit
der Auffassung des Dichters Julien Green auseinander, die dieser
bezüglich der Mitfeier der hl. Messe in einer polemischen Schrift
vertreten hatte.
Im folgenden werden abgekürzt: Erzähler (Religionslehrer) = E; Respha = R; Green = G.
R: "Darf ich noch eben?" Sie schaute mich fragend an, ergriff eine
andere Mappe aus ihrer Tasche und überreichte mir daraus die Fotokopie
eines getippten Textes.
E: "Aktuell" las ich. Anscheinend der Titel der Abhandlung. "Zum Einsehen?" fragte ich.
R: "Ist es Ihnen jetzt möglich?"
E: "Jetzt gleich?"
R: "Wenn es Ihnen möglich ist?"
E: Um ihr den Gefallen zu tun, begann ich gleich den Text - er war von Julien Green - zu lesen:
G: "Die Menschen, die aus der Messe kommen, sprechen und lachen. Sie
meinen, daß sie nichts Besonderem beigewohnt haben, arglos übrigens, da
sie sich nicht die Mühe machen, genau hinzuschauen. Man könnte fast
meinen, daß sie ein ganz gewöhnliches Ereignis erlebt hätten. Doch, wie
es einstmals geschah, müßte dies Geschehen eigentlich genügen, damit
eine ergriffene Welt den Atem anhält. Aber nein, sie kehren von
Golgotha zurück und sprechen über das Wetter! Diese Gleichgültigkeit
hindert sie daran, wahnsinnig zu werden. Würde man ihnen aber sagen,
daß Johannes und Maria plaudernd vom Kalvarienberg zurückkamen, würden
sie entgegnen: 'Unmöglich!' Und doch, sie selbst handeln so."
E: Ich unterbrach mich und blickte auf. Sie schaute mich fragend und zugleich untersuchend an.
Wir beide schwiegen vielsagend. Ich begann wieder still zu lesen:
G: "Man kann sagen, was die Augen nicht sehen, ist unwichtig. Das ist
doch eigentlich nur das, was zählt. Und nur das hat Bestand. Diese
Menschen waren eine halbe Stunde in einer Kirche, ohne zu begreifen,
was geschah... Einige hatten sich hingesetzt. Andere Gläubige blieben
während der Wandlung stehen. Ich weiß nicht, worüber man am meisten
erstaunt sein muß: über den Vorgang der Elevation oder über die Haltung
jener, die ihr beiwohnten. Wäre die Elevation nur ein Symbol der
Wahrheit! Aber sie ist die Wahrheit selbst !
gegenwärtig unter den Gestalten, passend zur menschlichen Schwäche! Die
Juden konnten den Glanz, der vom Gesicht Moses abstrahlte, nicht
ertragen. Und Moses war nur ein Mensch. Manoach fürchtete zu sterben,
weil er meinte, das Gesicht des Schöpfers geschaut zu haben (vgl.
Rieht. 12,22). Doch es war nur ein Engel, den er gesehen hatte. Was ist
unter den Gestalten von Brot und Wein verborgen? Wahrhaftig, mehr als
ein Engel, mehr als ein Moses! Eine der unbegreiflichsten Eigenschaften
der Hl. Messe, die einen verstummen lassen könnte, ist es, daß sie jene
nicht tötet, die ihr beiwohnen. Sie hören der Messe ruhig zu, ohne
Tränen, ohne innerliche Rührung. Was ist denn noch erforderlich, um sie
zu rühren? Sicherlich nur etwas ganz Gewöhnliches. Um zu wissen, wie
armselig sie sind, ist es nötig zu untersuchen, was um ihretwillen alle
Tage, in allen Erdteilen geschieht, um ihre unachtsamen, gleichgültigen
Seelen zu retten. Die gänzliche Verarmung ihre Gemütes ist weder groß
noch klein: sie ist grenzenlos. Mächte, Throne und Herrschaften sind
nicht so überwältigend wie diese Seelenschwäche. Könnten sie sich
wundern, sie wären gerettet. Doch sie haben den Gottesdienst zu eine
ihrer Gewohnheiten gemacht, also zu etwas Unbedeutendem und
Gewöhnlichem, ja Banalem. Doch die Gewohnheit macht die Welt tot."
E: Das ganze Stück lag nun gelesen vor mir. Zunächst schwieg ich, nahm aber dann das Gespräch wieder auf: "Ja... und?"
R: "Kannten Sie den Text?" fragte sie.
E: "Julien Green?" (1)
R: Sie nickte: "Théophile Delaporte: Pamphlet contre les catholiques de
France (2). Ich ließ es übersetzen und machte mir sechs Kopien."
E: "Ja?"
R: "ich denke daran, diesen Text zu verbreiten!"
E: "Mit fünf Exemplaren?" Hatte ich gekichert? Es kam mir so vor. Ich
sah, wie sie zusammenzuckte. Schade! Und dies, wo sie es doch so gut
meinte. Ich schätzte sie so ein, daß sie im stände war, ihr ganzes
Spargeld dafür auszugeben für das, was sie sich vorgenommen hatte...
bis jetzt. Ich machte einen Versuch, um zu retten, was ich verdorben
hatte, und beeilte mich zu sagen: "Ihre Überzeugung wie auch Ihr
Vorhaben sind sicher sehr lobenswert." (Sie schaute mich über den
Schreibtisch hinweg an, sie schien getröstet.) "Doch der Inhalt dieses
Schriftstückes!"
R: "Aber es ist wirklich von Green!" brachte sie überzeugend vor, sichtlich selbst überzeugt vom hohen Wert der Abhandlung.
E: "Was wollen Sie nun damit anfangen?"
R: "Sie drucken lassen, d.h., wenn Sie die Übersetzung für gut finden."
E: "Wieviele Exemplare?"
R: "Fünf-oder zehntausend? Es ist lobenswert, sagten Sie eben selbst!
Und kann denn die Schrift nicht auch unsere Leute anregen? Wir
werden...".
E: "Wir? Wer ist wir?"
R: "Die Mädchen unserer Gruppe werden sie verteilen! Beim Eingang zu
unseren Gebetsstätten! Die Menschen werden den Text lesen und ihn
begreifen und daraus lernen, was die hl. Messe...". So sprach sie
weiter. Sie wurde rot, und ihre Augen glänzten vor unterdrückter
Erregung.
E: Ich schwieg und wartete darauf, daß auch sie schweigen würde. Danach
begann ich in kurzen Sätzen, Pausen einlegend, ihr in aller Ruhe zu
sagen, sie sollte ihre Liebe zum Herrn und für Seine Seelen hochhalten,
sie nicht erkalten lassen. Das niemals! Sie sollte sich auch nicht
dadurch, was ich ihr nun zu sagen hätte, darin behindert fühlen oder
davon abhalten lassen. "Respha", sprach ich, "alles, was Sie hier
vorbrachten, Ihr Angebot selbst - ich meine die Geste heute Abend - war
sehr gut. Doch weder in fünf- noch in zehntausend Exemplaren wird
dieser Text von Green unter meiner Verantwortung verbreitet werden,
weil dieser Text in Wahrheit nicht dem Glauben der Kirche entspricht!"
- Sie sah mich sehr erstaunt an. - "Und ich werde Ihnen auch sagen,
warum", fügte ich hinzu.
R: "Aber in Frankreich...".
E: "Auch in Frankreich, auch damals, zwischen den beiden Weltkriegen,
dort und damals also, wie heute und ehedem, war dieses Pamphlet in sich
unwahr, entsprach es nicht der Lehre der Kirche. Und das trotz all
seines übrigen Reichtums an zutreffenden Einsichten. Weil die Ansicht
seines genialen Autors - auch in dieser Übersetzung - so klar
ausgedrückt wird, ist es sogar gefährlich für engagierte Gläubige.
Darum weigere ich mich in aller Form, an der Verbreitung des Textes bei
unserem Volk mitzuwirken. Deswegen erwarte ich von Ihnen, daß Sie
meinen Entschluß in aller Zurückhaltung mittragen. Ich will Ihnen dabei
helfen. Sie sind zu intelligent und zu religiös, um, nachdem Sie die
Gründe für meine Entscheidung gehört haben, nicht von Ihrem Vorhaben
zurückzustehen. Es wird Sie wenig Mühe kosten, Ihr Interesse auf ein
anderes Ziel zu richten, wobei denn eine Verformung des religiösen
Lebens unserer treuen Katholiken ausgeschlossen ist und wobei die Hl.
Schrift und die Tradition deutlich angesprochen werden, anstatt das
religiöse Genie von Green. Der heilige Paulus schrieb selbst an seinen
jungen Freund, den hl. Timotheus, als Bischof auf seiner Hut zu sein
(3) und die Neubekehrten gegen sich selbst wegen möglichen Übereifers
in Schutz zu nehmen. - Sie werden mich fragen, was denn verkehrt bzw.
falsch am Inhalt dieser Darstellung ist?"
R: "Ja, sicher", flüsterte sie, sichtlich enttäuscht.
E: "Nun, Julien Green, den wir beide - ebenso wie viele andere
Katholiken - hoch schätzen, ist ein Konvertit. Zur Mutterkirche
zurückgekehrt glühen solche Christen meistens vor Eifer für den
wiedergefundenen Glauben. Ihr Bedürfnis, diesen zurückgewonnenen
Reichtum auch anderen mitzuteilen bzw. sie daran teilnehmen zu lassen,
kann sehr groß sein. Und übereilt, ja getrieben von dem Verlangen,
Seelen an der Freude Christ teilhaben zu lassen, gehen sie manchmal zu
forsch und unbesonnen an die Arbeit. In jeder Situation, worin Menschen
landen, ist es besonders nötig, daß sie sich genau orientieren. Wie
will man z.B. einen Wettlauf gewinnen, wenn man nicht weiß, wo
gestartet wird oder man die Strecke nicht kennt? Unwissen oder Irrtum
hindert oft den Kämpfer daran, d a s Resultat zu erzielen, welches er
im Auge hatte. Können Sie das verstehen?"
R: "Ja, sicher", sagte sie.
E: "Nun denn: Julien Green wollte durch diesen Text bei den Katholiken
mehr Einsicht, begriffliche Transparenz und eine höhere Wertschätzung
der heiligen Messe erreichen. Doch er irrte sich bezüglich des
Inhaltes, bezüglich des Verständnisses des heiligen Meßopfers. Denn er
stellt die heilige Messe als Ganzes nur vor als Vergegenwärtigung eines
Geschehens. Indessen ist sie aber eine Vergegenwärtigung der göttlichen
Person. Bemerken Sie wohl: diese göttliche Person ist viel mehr als nur
ihre Passion, und diese Passion ist außerdem nicht das einzige
Geschehen, welches in der heiligen Messe hervorgebracht wird. Auch
andere Geschehnisse aus dem Leben Jesu werden dort zwar nicht zur
Sprache, aber sicherlich zum Altar gebracht. Green hat das Wesen der
heiligen Messe wenig korrekt, ja sogar ungenau und falsch dargestellt.
Und auch dies muß ich ihm anlasten. Auf diese Weise verzeichnetete er
die heilige Messe zu einem erschütternden Drama, welches die Gläubigen
mit Entsetzen schlagen muß und sie am Schluß sprachlos vor Entsetzen
nach Hause gehen läßt...".
R: "Aber auch Sie lehrten uns, daß die heilige Messe ein Opfer ist! Das
blutige Opfer von Kaivaria unblutig erneuert, dargebracht auf dem
Altar!"
E: "Ja, das tat ich tatsächlich! Aber... durch die Worte der
Konsekration, die der Priester spricht, wird Jesu gewaltiges Opfer
erneut dargebracht auf dem Altar! Aber nicht nur Sein Kreuzestod,
sondern auch Seine Auferstehung und Seine Himmelfahrt, d.h. das, was
Seine gesamte Existenz ausmacht, d.i. die Erfüllung des hl. Willens
Seines Vaters, werden in der hl. Messe angesprochen. Und darf ich Sie
darauf aufmerksam
machen, Respha, daß sowohl die Auferstehung als auch die Himmelfahrt in
ihren beiden Evokationen während der heiligen Messe in Greens Aufruf
fehlen? Und dies, obwohl der Text der heiligen Messe - vom Offertorium
und vom Kanon - erklärt, daß auch diese zwei Evokationen zur heiligen
Messe gehören. Und deshalb können die Katholiken doch wohl entzückt und
hoch erfreut und hochgemut nach Hause zurückkehren. Sie kommen also
ebenfalls von einer Auferstehung als auch von einer Himmelfahrt zurück,
(und nicht nur von dem Kreuzestod auf Kaivaria). Und sie kommen von
Jesus!"
R: "Ja sicher", sagte sie wieder. "Aber wie verhält es sich dann mit
dem Wort des hl. Paulus: 'Ich wollte unter euch nichts anderes kennen
als Jesus Christus, und diesen als den Gekreuzigten'." (4)
E: "Aber wenn Christus nicht auferstanden ist, ist unsere Predigt
eitel. Eitel dann auch eurer Glaube!' (5), das ist auch ein Wort des
hl. Paulus! Höhen und Tiefen von Verherrlichung und Erniedrigung.
Wahrhaftig: so war der ganze Lebenslauf Christi. Seine gesamte Existenz
- und nicht allein wegen der Passion (!) - wird in der heiligen Messe
sakramental erneuert. Von der ewigen Zeugung durch den Vater bis zum
Sterben und dem Leben in der Liebe zum Vater ist in der Schöpfung
ausgedrückt: in der Geburt, durch Engel verkündet:'Seht ich verkündige
euch eine große Freude, die dem ganzen Volke zuteil geworden ist!' (6)
Die heilige Messe ist: der Sohn Gottes ist Mensch geworden. Die ganze
hl. Messe ist ganz Jesus, vom Vater zum Vater, in der Liebe, die der
Hl. Geist ist."
R: "Und wo wird denn die Geburt aus Maria in der hl. Messe zum Ausdruck gebracht?"
E: "ich dachte, daß eine Transsubstantion (wodurch die reale Gegenwart
Christi bewirkt wird) zuallererst in Marias Schoß stattgefunden hat,
sogar dort stattfinden mußte, ehe beim Letzten Abendmahl eine erste und
- darauf folgend - alle anderen Konsekrationen erfolgen konnte. Respha,
der Tod um des Todes willen ist Sünde. Doch der Tod um des Lebens
willen ist Gnade. Nur dann kann Sterben Gewinn bringen, (Philipp. 1,24)
Gewinn, worüber wir uns freuen können und selbst später vielleicht
lachen (Lk. 6,21). 'Selig, der nun weint, denn er wird (nachher)
lachen', sprach Jesus in der Bergpredigt.
Daß der Herr vor Freude strahlte beim Ende Seines Opfers auf Erden,
brauchte uns der hl. Lukas nicht noch ausdrücklich mitteilen. Der
Anfang des Handelns der Apostel atmet die Ruhe und Freude des Herrn.
Der Text selbst schmilzt vor Glück und Freude.
Doch auch im Leid selbst lebt die Freude weiter, gleichsam wie der
Geist im Körper lebt: 'Der süße Kern in der bitteren Schale' ist eine
zu ungenaue abgeschwächte Bildsprache für das Durchglühen von der
Freudenglut in dem flüssigen Stahl des brennenden Schmerzes.
Peter Paul Rubens hat für den Hochalter der ehemaligen Abteikirche zu
Affligen eine Darstellung gewählt, auf der er Christus als
Kreuzesträger abbildet - das Bild befindet sich heute im Museum von
Brüssel. Die Darstellung dieses schmerzlichen Geschehens gleicht eher
einem flatternden Siegesrausch. Christus, unser mächtiger Held, trägt
darauf sein Kreuz, um bald danach den verdienstreichsten Tod zu
sterben, der jemals gestorben wurde. Ein Herr-licher Tod! Die
schändlichste irdische Niederlage durchzogen von übernatürlicher
Eroberungskraft, das war es: mit dem Triumph in Aussicht ein
innerliches Jauchzen.
Nein, Respha, ich werde meinen Gläubigen das Sprechen und Lachen, wenn
sie nach einer frommen Danksagung nach Hause gehen, nicht abraten. Sie
haben wirklich allen Grund, um des Herrn und der Kirche wegen, um
freudig gestimmt zu sein! Julien Green hat wohl auch recht, bedrückt
und bestürzt zu sein und nach dem Gottesdienst schweigsam die Kirche zu
verlassen. Er darf ja auch mit Recht einer Fläche des geschliffenen
Juwels, welcher die hl. Messe ist, seine Aufmerksamkeit und seine
Andacht schenken, so sehr sogar, daß er dabei die übrigen geschliffenen
Flächen aus den Augen verloren hat. Aber wenn er sich schon irrte -
vergessen wir das nicht! - bezüglich des Wesens des hl. Meßopfers,
worin Christus selbst, und
nicht nur ein Geschehen, erneuert wird, darf er seine Einstellung bzw.
seine Sicht sicherlich nicht ohne weiteres als verpflichtend von seinen
Mitbrüdern und -Schwestern verlangen. Denn diese sind nie dazu
angehalten worden, sich das Wesen der hl. Messe aus einem anderen
Aspekt heraus vorzustellen, weil sie nie verpflichtet worden sind, das
umfassende Ganze nur fragmentarisch zu betrachten und es so in dieser
Einsichtigkeit zu erleben.
Fassen wir zusammen: Der 'Irrtum' des genialen Autors lag nicht in
seiner Darstellung, sondern in seiner Einstellung. Er hielt nämlich die
hl. Messe nicht für das, was sie in der Tat ist: Die Vergegenwärtigung
Christi, des Mensch gewordenen Gottessohnes, auf dem Altar, also von
jemandem, der durch den Vater unendlich geliebt, den Vater unendlich
wieder liebt und ihm deshalb auch grenzenlos gehorsam ist, bis in den
Tod, bis über den Tod hinweg, d.h. bis zur Auferstehung, bis zur
Himmelfahrt.
Julien Green aber hielt die hl. Messe nur für die Gegenwärtigsetzung
einer sublimen und schmerzvollen Tathandlung: des Kreuzestodes Christi,
unblutig, auf dem Altar. Er übersah, daß die hl. Messe - d.i. der Text
der hl. Messe - ihn nachdrücklich und wiederholt lehrt, daß auch die
Verherrlichung, insbesondere die Auferstehung und die Himmelfahrt
unseres Herrn Jesus Christus, vergegenwärtigt wird. Entsprechend seiner
eingeschränkten, verkürzten Sichtweise baute er in sich eine Haltung
auf, fand er zu einer Einstellung, aus der heraus er das Geschehen auf
dem Altar konsequent miterlebte. Hierin hat er Achtung, ja sogar
Bewunderung verdient. Doch daß er diese Einstellung auch anderen
abverlangt, geht nicht. Ein Irrtum bleibt ein Irrtum. Niemand darf uns
moralisch unter Druck setzen. Die hl. Messe ist viel mehr, ist viel
reicher als das, vas Green von ihr darstellte."
Während meines Monologs war Respha sehr andächtig gewesen und hatte mit
gespannter Aufmerksamkeit zugehört. So kam es mir wenigstens vor. Ich
gab ihr den Text zurück. "Bewahren Sie ihn", riet ich ihr, "es ist die
Mühe wert, denn es ist ein bemerkenswerter Text, ein Muster von
genialer Frömmigkeit... wovor wir leider auf der Hut sein müssen. Die
richtigen Überlegungen darin sind zu überdenken und vielleicht einmal
nachzuvollziehen. So ab und an erleben wir schon einmal
'bruchstückhaft', auch auf anderen Gebieten. Am besten vermeiden wir es
aber, Details bzw. Ausschnitte für das Panorama zu halten und diese
anderen Menschen aufzudrängen, Respha?" Ich lächelte. Sie stand auf und
verabschiedete sich. Ich dachte, daß ich sie nach dieser für sie doch
sicherlich enttäuschenden Unterredung nicht so ohne weiteres gehen
lassen könnte. Darum wiederholte ich:
"Respha. Prächtiger Name! Doch etwas schwer zu tragen... Seien Sie wie
Ihre Namensgeberin! Versuchen Sie eine neue Respha zu sein. Folgen Sie
jener nach, die heldenhaft und Monate lang für die Leichen ihrer
gekreuzigten Kinder Sorge trug. (7) Richten Sie sich nach Ihrem
Verhalten, indem Sie immer und unermüdlich Sorge tragen für die kranken
Seelen, die sich von Gott lösen oder von ihm abzufallen beginnen.
Falten Sie Ihre Hände zu Gebet und Kampf. Entschließen Sie sich zum
Dienst an der lebendigen Wahrheit. Wir haben Resphas nötig, so sehr
nötig! Guten Abend!"
Anmerkungen:
1) Julien Green, geb. 19oo in Paris, stammte aus einer amerikanischen
Familie. Bekannt wurde er als Schriftsteller u.a. mit dem "Journal", 6
Teile, 1928-1954, und etlichen Theaterstücken und Romanen.
2) Frei übersetzt lautet das Pseudonym: "Der Gottesfreund an der Türe".
Dieses Pamphlet wurde tatsächlich an den Kirchentüren verteilt. Green
konvertierte im Jahre 1939 zum katholischen Glauben.
3) I Tim. 3,6.
4) I Kor. 2,2.
5) I Kor. 15,14.
6) Lk. 2, lo-l 1.
7) Respha war die Frau des Königs Saul. Nach dessen Tod wurden seine
Söhne und Enkel ermordet. Ihre Leichname blieben unbestattet liegen.
Respha hielt Tag und Nacht Wache, um die Leichname vor der Freßlust der
Raubtiere und Aasgeier zu retten, und das Monate lang, bis König David
von diesem Frevel erfuhr und für eine würdige Beerdigung sorgen ließ.
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