DER AMERIKANISMUS
- WEGBEREITER DES MODERNEN 'KATHOLIZISMUS'
von
Eugen Golla
Auf dem langen Weg, der - vom Humanismus ausgehend - über die
Reformation und den Jansenismus, über die Aufklärung, den Liberalismus
sowie den Modernismus schließlich bis hin zum Ökumenismus und dem von
Montini verkündeten Menschenkult führte, steht als einer der
Meilensteine auch der sog. "Amerikanismus", dessen einst von der Kirche
verurteilte Prinzipien nach dem großen Abfall wieder erschreckende
Aktualität gewannen.
Was ist der "Amerikanismus"?*) Wir können vorerst ganz allgemein von
ihm sagen: Er bezeichnet eine gewisse nordamerikanische Geisteshaltung
und einen Lebensstil, die beide infolge der Art der Besiedlung des
neuen Kontinents geprägt sind von der Begeisterung für individuelle
Freiheit, von Dieseitsstreben unter Ausnutzung sämtlicher Energien und
einem Mißtrauen, ja Widerstand gegen jede Art von Autorität.
Obwohl die Katholiken zur Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten
eine verschwindende Minderheit von etwa 3o.ooo Seelen ausmachten, die
meist zu den ärmeren Volksklassen zählten und der Seelsorge große
Schwierigkeiten bereiteten, da ein großer Mangel an einheimischen
Priestern herrschte, betrug die Zahl der Gläubigen am Ende des vorigen
Jahrhunderts bereits 15 Millionen. Hierbei kamen dem Katholizismus in
Amerika nicht nur die immer stärker wachsende Anzahl katholischer
Einwanderer sowie die vielen opferbereiten Priester aus der Alten Welt
zugute, sondern auch die Verfassung der Vereinigten Staaten, welche von
Anfang an die religiöse Duldung proklamierte. Allerdings gab es
Einzelstaaten, die sehr zögernd, erst im Laufe des 19. Jahrhunderts,
den Katholiken volle Religionsfreiheit gewährten, weil in den Augen
vieler Protestanten das Papsttum in Rom als undemokratisch und
unpatriotisch erschien.
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts verstärkten sich
weltweit die Versuche, die katholische Religion den Wünschen der
säkularisierten Welt immer mehr anzupassen. So bedurfte es in den
U.S.A. nur e i n e s Mannes, der diese Richtung mit der vorerwähnten
naturalistischen und liberalistischen Mentalität ihrer Bewohner zu
verbinden und populär zu machen vermochte, wobei es gar nicht
erforderlich war, eine festumrissene, auf Argumenten und Schlüssen
aufbauende Theologie zu entwickeln. Dieser Wegbereiter oder geistige
Vater des theologischen "Amerikanismus" wurde P. Isaak Thomas Hecker
(1819-1888), der von seinen Anhängern nicht nur "Apostel des modernen
Amerikas", sondern der "Franziskus der modernen Zeit" genannt wurde,
während ihn seine Gegner meist sehr negativ beurteilten.
Der Sohn deutscher evangelischer Einwanderer mußte frühzeitig als
Bäckerjunge hart arbeiten. Mit 14 Jahren praktisch glaubenslos wurde er
wenig später begeistertes Mitglied der sozialistischen
ultrademokratischen Arbeiterpartei. Doch bald stellten ihn die sozialen
Probleme allein nicht mehr zufrieden. Über seinem Backtrog hatte er
Kants "Kritik der reinen Vernunft" hängen, die er bei der Arbeit eifrig
las.
Ein längerer Aufenthalt im Brock-Farm-Institut, das sich zum Ziele
gesetzt hatte, seine Insassen in enger Verbindung mit der Natur zu
einer einfachen gesundenen und bescheidenen Lebensweise zu führen und
zugleich deren geistige Fähigkeiten weiterzubilden, machte ihn zum
Gottsucher. Aber es verging noch mehr als ein Jahr, ehe er den Weg zur
Kirche fand. Man kann sagen, daß er nicht wegen persönlicher Vorteile
konvertierte. Es war zweifellos der soziale und der autoritative Aspekt
der Kirche, der ihn faszinierte, aber auch seine Veranlagung zur Mystik
sowie sein Widerwille gegen Calvins Grundgedanken von der totalen
menschlichen Verderbtheit.
Schon ein Jahr nach seiner Konversion trat Hecker in Belgien in den
Redemptoristenorden ein. 1851 als Priester in seine amerikanische
Heimat zurückgekehrt, verbrachte er einige Zeit als Volksmissionar.
Dabei betrachtete er es als seine Hauptaufgabe, durch völlige Anpassung
an die amerikanische Geisteshaltung möglichst viele Protestanten zur
Kirche zurückzuführen. Als er zu diesem Zwecke eine eigene
Niederlassung gründen wollte und, um hierzu die erforderliche
Genehmigung zu erhalten, ohne die Erlaubnis seiner Ordensoberen nach
Rom reiste, wurde er aus dem Orden ausgeschlossen. Pius IX. entband ihn
von den Ordensgelübden, gestattete ihm aber eine selbständige
Kongregation zu gründen, die sich unter der Aufsicht der jeweiligen
Diözesen der Mission und der Seelsorge widmen sollte. P. Hecker gab
seiner Gemeinschaft den Namen "Missionspriester des Heiligen Paulus" -
gebräuchlicher wurde die Bezeichnung "Paulisten". P. Hecker wurde ihr
erster Generaloberer. Der Erfolg in der Missionierung der Vereinigten
Staaten mittels seiner modernen Methoden blieb aber im Vergleich mit
den auf ähnlichen Gebieten tätigen Redemptoristen gering.
Im folgenden werden nun die leitenden Ideen des theologischen "Amerikanismus" in kurzer Zusammenfassung vorgestellt:
P. Hecker war überzeugt, daß nur die Demokratie - wie sie in den USA
praktiziert wurde - den Menschen die zur Entwicklung ihrer Anlagen und
Tatkraft erforderlichen Möglichkeiten und Chancen gebe, wodurch das
Wirken des Heiligen Geistes erleichtert werde. Er forderte daher die
Rückkehr zu einer freien Geistigkeit, wie sie bis zum Zeitalter der
Reformation geherrscht haben sollte; denn erst der aufkommende
Protestantismus hätte angeblich - als Gegengewicht - eine Stärkung des
autoritativen Gehorsams gegenüber der Kirche erforderlich gemacht. Das
entscheidende Heilsmittel bestehe somit in der gesteigerten Befolgung
der Anordnungen des Heiligen Geistes in der Seele, dessen wachsende
Einwirkung die Gläubigen zu einer Kraft und Größe erheben werde wie
noch in keiner Epoche der Menschheitsgeschichte.
Dieser Grundgedanke von der unmittelbaren Leitung durch den Heiligen
Geist machte aus Hecker einen Gegner der religiösen Orden, die eher für
Schwächlinge als für selbständige Personen eingerichtet und der
modernen Gesellschaft nachteilig seien. Daher sollte seine Kongregation
auch eine Vereinigung freier, durch keine Gelübde gebundener Männer
sein.
Es blieb natürlich nicht bei solchen schlußendlich doch abstrakter
Ideen. Der Amerikanismus schwenkte vielmehr bald in eine militantere
Richtung ein. Es begann damit, daß nicht nur Hecker, sondern auch
Bischöfe in öffentlichen Reden die in der Verfassung der Vereinigten
Staaten verankerte Trennung von Kirche und Staat als die ideale Lösung
in den höchsten Tönen priesen. Dies widersprach aber eindeutig den
zahlreichen Entscheidungen des kirchlichen Lehramtes, die Trennung von
Staat und Kirche als grundsätzliches Ideal zu bezeichnen. (N.b. dies
sollte uns allerdings nicht daran hindern, uns vor Augen zu führen, wie
oft in früheren Zeiten gerade die katholischen Staaten ein
rücksichtsloses Staatskirchentum praktizierten oder - wenn sie
wohlwollend der Kirche gegenüberstanden - einen Klerikalismus
großzogen, der die Struktur von Klerus und Laien so ungünstig
beeinflußte, daß wir selbst in den heutigen Notzeiten immer noch an
dessen Folgen leiden müssen.)
Leo XIII., gerne als politischer Papst etikettiert, war der erste
Pontifex Maximus, der eine positive Einstellung zur demokratischen
Staatsform hatte, erklärte er doch, daß die Regierungsgewalt in einer
Republik genau so von Gott stamme wie in einer Monarchie, was zur Folge
habe, daß ihre Gesetze Gültigkeit besäßen, sofern sie nicht in
manifestem Gegensatz zum Naturrecht stünden. Als er schließlich das
Verlangen der Anhänger der Monarchie nach einer Rückkehr der Bourbonen
nicht nur nicht förderte, sondern vielmehr dazu aufforderte, sich der
immer mehr festigenden 3. Republik anzuschließen, entwickelte sich
unter der katholischen Jugend Frankreichs eine Richtung, die nicht nur
ihr Ideal in der Demokratie sah, sondern auch die Demokratisierung der
Kirche ersehnte. Bald nützten gewisse amerikanische Bischöfe ihre
ad-limina-Besuche beim Papst dazu aus, um auch in Europa ihre Ideen zu
verbreiten.
1892 bot sich hierzu einem der profiliertesten Bischöfe der U.S.A.,
Mgr. Ireland von St. Paul, der von seinen Landsleuten, gleich welcher
Konfession, als "splendid man" gefeiert wurde, eine Gelegenheit. Der
begeisterte Schüler und Anhänger Heckers, ein athletisch gebauter,
trotz seiner grauen Haare jugendlich wirkender Mann, hielt im Gehrock
in Paris eine Rede, die seine Zuhörer begeisterte. So führte er u.a.
aus: "Richten Sie dem Volke aus, daß es Pflichten, aber auch Rechte
besitze. Man spricht von den Pflichten, der Geduld, der Resignation,
man verspricht ihm nur einen Ausgleich in der Ewigkeit: dies ist viel
für die, welche den wahren Glauben besitzen, aber für die Seelen
derjenigen, deren Glauben so zu sagen tot ist, sind das nichtssagende
Worte. (...) Das Volk ist derzeit König, an Ihnen liegt es, ihm zu
sagen, wie man zu herrschen hat...".
Natürlich begeisterten solche Worte nicht alle Katholiken Frankreichs,
vielen schien eine solche Rede Religion und Politik miteinander zu
vermischen und die Kirche zu einer Vermittlerin irdischen Glücks zu
machen. So schrieb z.B. eine Zeitschrift: "Ein amerikanischer Bischof
kommt nach Frankreich als Reisender in Sachen der Revolution." Aber im
folgenden Jahr sollte ein noch viel aufsehenerregenderes Ereignis
eindringlich zeigen, wie schnell solche Auffassungen auf einen
Interkonfessionalismus zusteuern:1893 wurde in Chikago zur Feier der
Entdeckung Amerikas vor 4oo Jahren eine Weltausstellung abgehalten. Sie
sollte nicht nur eine Übersicht über die materielle, sondern auch über
die geistige Entwicklung geben: über die Eroberungen und
Errungenschaften des Menschen, über den technischen Fortschritt und die
daraus für die Zukunft resultierenden Erwartungen.
Das wirklich neue, was damals alles andere in den Schatten stellte, war
jedoch das sog. "Religions-Parlament" dieser Ausstellung. Das hierfür
verantwortliche Komitee erhielt zwar zahlreich Zustimmung aus aller
Welt. Eine Absage aber erteilten: Rußlands orthodoxe Kirche, der Sultan
der Türkei in seiner Eigenschaft als Kalif und der anglikanische
'Erzbischof' von Canterbury, Benson, der seine Absage folgendermaßen
rechtfertigte: "Die unvergleichliche Religion ist das Christentum. Wie
man diese Religion als bloße Teilnehmerin an einem Religionskongreß
betrachten kann, ohne daß die anderen Kulte auf gleichen Fuß mit ihr
gestellt werden, vermag ich nicht einzusehen.
Ihr Programm erklärt, die Kirche Roms sei die katholische Kirche und
behandelt die Episkopalkirche Amerikas und gleichermaßen die Kirche
England als außerhalb der katholischen Kirche stehend. Die Stellung,
die uns damit bereitet wäre, ist aber unerträgirh!" **)
Das Zustandekommen hing daher schließlich vom katholischen Episkopat
ab, dessen irisch-amerikanische Gruppe zwar allein für die Entsendung
von Teilnehmern plädierte, sich aber mit großer Energie und
Zielstrebigkeit in diesem Vorhaben durchsetzte. "Am 11. September 1893
wurde das Religionsparlament im Amphitheater Christoph Kolumbus
eröffnet. Von der Galerie wehten die Banner aller Nationen; 4ooo
Personen aller Klassen drängten sich im Saal, als um lo Uhr die
Vertreter von zehn geschichtsträchtigen Religionen unter tosendem Jubel
ihren Einzug hielten und auf der Estrade Platz nahmen. In der Mitte saß
im Purpur Kardinal Gibbons. Ihm zur Seite in bunter Tracht waren die
Abgeordneten des Orients: Brahman^nd Buddhisten aus Indien, Mandarine
aus China, Bonzen aus Japan, Griechen aus der Türkei, Methodisten aus
Afrika, Popen usw. Die Sitzung begann mit einem Psalmlied unter
Orgelbegleitung. Darauf erhob sich Kardinal Gibbons, trat vor, machte
das Kreuzzeichen und betete laut auf Englisch das 'Vaterunser'. Der
Protestant Bonet-Maury machte hierzu die befremdliche Bemerkung: 'Welch
feierlicher Akt! Welch unerhörtes Ereignis in den Annalen der
katholischen Kirche! Ein Erzbischof, bekleidet mit dem römischen
Purpur, erhebt sich inmitten einer Versammlung von Häretikern,
Schismatikern und Heiden und betet das Vaterunser! Wie weit sind wir
doch von der Zeit entfernt, da O'Connel ***) sagte: Die katholische
Kirche betet für alle Menschen, sie betet mit keiner anderen Kirche!'"
+)
Von den zahlreichen Presseberichten dürfte wohl der im JOURNAL DES
BÉBATS das treffendste Urteil abgegeben haben: "Jehova, Mohammed,
Jesus, Buddha und verschiedene Götter waren dort auf gleiche Weise
vertreten. Die Anhänger aller bekannten Kulte legten dort ihr
Glaubensbekenntnis ab und verrichteten ihre Gebete, dann ging jeder zu
seiner Kirche, seiner Kapelle, seinem Altar. Die nah oder fern dieses
Schauspiel genossen, zogen daraus verschiedene Schlüsse. Die einen
sagten: Wirklich, alle Religionen sind gut! Andere: das ist klar, alle
Religionen taugen nichts! Noch andere endlich wußten nicht mehr, was
sie von all dem halten sollten!" ++) Allerdings mußten noch fast loo
Jahre vergehen, bis nicht ein Messegelände, sondern ein den Katholiken
der gesamten Welt besonders ehrwürdiger Ort, Assisi, in den Dienst des
Synkretismus eingespannt wurde.
Zwei Jahr später, 1895, verbot Rom die Teilnahme an weiteren sog.
Religionskongressen. Der Grund hierfür war, daß auf der für 1900
geplanten Pariser Weltausstellung gleichfalls ein solches
"Religionsparlament" abgehalten werden sollte, diesmal schon näher bei
Rom, gleichsam unter den Augen des Papstes. Der Hauptagitator hierfür
war der junge Abbé Charbonnel, der wenige Jahre später vom Glauben
abfiel. Als der Erzbischof von Paris, Kardinal Richard, von diesem Plan
erfahren hatte, sagte er: "So lange ich Erzbischof von Paris bin, wird
hier nie ein Religionsparlament abgehalten werden."
Die immer heftiger werdenden Kontroversen um den Amerikanismus
bestimmten schließlich Leo XIII., am 22. Januar 1899 einen Brief,
Testern benevolentiae +++) I an Kardinal Gibbons, den Erzbischof von
Baltimore, zu richten, von welchem sämtliche Bischöfe Amerikas Kopien
erhielten. Er wurde in die Acta Sedis aufgenommen, was einer
Verurteilung gleichkam.
Im folgenden geben wir die Hauptgedanken dieses päpstlichen Schreibens wider.
1. Es wird behauptet, man muß eine neue Art der Bekehrung praktizieren.
Um die A-Katholiken der Kirche näherzubringen, soll sie nicht nur ihre
alte Strenge ablegen, sondern auch gewisse Abschnitte ihrer Lehre, die
als nicht mehr zeitgemäß und daher als weniger wichtig angesehen
werden, aufgeben. Papst Leo XIII. stellt dieser These die
Gleichwertigkeit sämtlicher Dogmen gegenüber und deren unabänderliche,
von der Tradition geleitete Interpretation. Hierbei spricht er den
Wunsch aus, es mögen doch alle, die fern vom Schafstall Christi
herumirren, zurückkehren, aber nur auf dem von Christus selbst
gewiesenen Weg.
2. Verstärkt gefordert wird ein persönlicherFreiheitsraum, damit die
Gläubigen ihren Inspirationen und ihrer persönlichen Aktivität mehr
Geltung verschaffen können. Zur Widerlegung weist der Papst auf sein
Rundschreiben "Immortale Dei" hin, in dem er den Unterschied zwischen
der Kirche als einer Gemeinschaft göttlichen Rechtes und den
Gesellschaften, die aufgrund des freien Willens der Menschen sich
zusammenschließen, bestehen, gezeigt hat.
3. Dem persönlichen Wirken des Heiligen Geistes mittels Charismen ohne
das Dazwischentreten eines Mittlers soll verstärkt Anerkennung gezollt
werden. Leo XIII. führt als Gegenbeweis die große Zahl der Heilien und
Märtyrer früherer Jahrhunderte an, die es nicht erlauben anzunehmen,
daß damals das Wirken des Heiligen Geistes weniger intensiv gewesen
sei. Übrigens seien Privatoffenbarungen immer dem Urteil
der Kirche unterworfen (gewesen), wie es schon der dem bekehrten Saulus
erteilte Gottesbefehl beweise, sich nach Damaskus zu Ananias zu
begeben: "Dort wird dir gesagt, was du tun sollst." (Apg. 9,7)
4. Betont soll die Verherrlichung der natürlichen Tugenden werden. Der
Mensch gilt nur soviel, als er durch seine eigenen Aktivitäten zum
Fortschritt der Zivilisation beiträgt. Das veranlaßte den Papst
auszurufen: "Wahrlich, es ist schwer zu begreifen, daß von der
christlichen Lehre erfüllte Menschen die natürlichen Tugenden den
übernatürlichen vorziehen können und ihnen mehr Wirksamkeit und
Fruchtbarkeit zuschreiben."
5. Gefordert wird die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven
Tugenden. Letztere paßten eher in die vergangenen Zeiten, während
erstere besser der Gegenwart entsprächen. Leo XIII. führt darauf die
Unterscheidung von zweierlei Tugenden ad absurdum. Der Hl. Thomas
bezeichne eine bestimmte Vollkommenheit der Stärke als Tugend; das Ziel
dieser Stärke aber sei eine Tat, und die Tat der Tugend sei nichts
anderes als der rechte Gebrauch des freien Willens.
6. Die Ordensgelübde, die fälschlich als passive Tugenden bezeichnet
werden, sollten geringgeschätzt werden. Der Papst schreibt, daß die,
welche Gott gerufen hat, vollen Herzens diese Lebensführung auf sich
nehmen, um den Evangelischen Räten zu folgen, tapfere und aktive
Soldaten Christi seien, und er ruft aus: "Ihr Vereinigte Staaten, habt
ihr von den Jüngern der religiösen Orden mit den Grundlagen des
Glaubens nicht auch zugleich die Zivilisation erhalten?"
Abschließend betont Leo XIII. nochmals, daß er somit gewisse Lehren,
die als "Amerikanismus" bezeichnet werden, nicht billigen könne. Etwas
anderes aber sei es, wenn man mit diesem Namen bestimmte, den
Amerikaner auszeichnende Begabungen verstehe, oder die Gesetze und die
Verfassung des Staates sowie Sitten und Gebräuche. Nicht nur der
Adressat, Kardinal Gibbons, sondern auch die anderen, mit dem
Amerikanismus sympathisierenden Bischöfe unterwarfen sich, betonten
aber zugleich - ähnlich wie seinerzeit die Jansenisten - sich niemals
über die wahre kirchliche Lehre hinweggesetzt zu haben.
Vordergründig gesehen, konnte man somit behaupten, daß Rom gesprochen
habe und die Debatte deshalb beendet sei und der Geschichte angehöre.
In Wirklichkeit vermochte aber "Testern benevolentiae" nicht die
Weiterentwicklung zu einer sog. 'neuen Kirche', den Aufschwung der
'Religion der Menschlichkeit' zu verhindern. Daß der Amerikanismus den
Weg zum theologischen Modernismus freigemacht hat, gestand kein
Geringerer als einer der profiliertesten Vertreter dieser Richtung,
Alfred Loisy, der die Modernisten als authentische Nachfolger des
Amerikanismus bezeichnete.
Anmerkungen:
*) Vgl. "Dictionnaire de Theologie Catholique", Bd.I, Paris 19o9; Artikel: "Américanisme"
**) Gisler, Anton: "Der Modernismus" Einsiedeln 1913, S.80 f.
***) Irischer Politiker, 1775-1847; erreichte die rechtliche Emanzipation der Katholiken in Groß-Britannien.
+) Gisler, Anton op.cit. S.8o f.
++) op.cit., S.87 f.
+++) Leo XIII, "Testern benevolentiae" Association Saint JérÙme, Bruxelles 1987.
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