"WER IST MEIN NÄCHSTER?"
von
H.H. Pastor V.A. Stuyver P.em.
übersetzt von Helene Heynsbrock-Müller
I.
"Wer ist mein Nächster?" - Diese Frage eines Gesetzeslehrer beantwortet
Jesus mit einem langen Gleichnis, mit dem bekannten Gleichnis vom
barmherzigen Samariter (vgl. Luk. 10, 25-37). Es endet mit einer Frage
an den Gesetzeslehrer: "Wer von diesen dreien - dem Priester, dem
Leviten und dem Samariter - scheint nun dir der Nächste von dem gewesen
zu sein, der unter die Räuber fiel?" Auf diese Frage erfolgt die
Antwort: "Der, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat!" Jesus nimmt die
Antwort an, Er stimmt zu, daß der Gesetzeslehrer richtig geurteilt hat
und sagt zu ihm: "Geh hin und tue desgleichen." D.h.: "Sei auch du der
Nächste anderer (in Not z.B.), erweise auch du Barmherzigkeit an
diesen."
II.
Wenn man über dieses Gespräch zwischen Jesus und dem Gesetzeslehrer
nachdenkt, wird einem klar, daß der Herr uns hier deutlich machen und
uns durch das Gleichnis einprägen will, wer unser Nächster ist. Die
Anfrage des Gelehrten kann ruhig als Thema dieses Disputs dienen.
Ganz gewiß, unser göttlicher Meister hatte sicher bei der Konzeption
dieses Gleichnisses auch Nebenabsichten, eingehend auf
Unverträglichkeit, Scheinheiligkeit usw., doch der Hauptzweck für Ihn
war der, eine passende Antwort zu geben auf die gestellte Frage: "Wer
ist mein Nächster?" Die richtige Antwort wurde deutlich und distinkt
gegeben: Er, der dir Barmherzigkeit erwies. Und gleich danach schließt
er Sein großes Gebot an: "Du sollst (...) deinen Nächsten (d.i. der,
welcher dir Barmherzigkeit erwies) lieben wie dich selbst." Das ist der
strikte logische Schluß aus den beiden Prämissen:
1.) Dein Nächster ist der, der dir Barmherzigkeit erwies.
2.) Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
III.
Es besteht ein"erstes und größtes Gebot": "Du sollst den Herrn deinen
Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus
allen deinen Kräften und aus deinem ganzen Gemüt." (Luk. 10,27). Dieses
erste Gebot muß gegeben sein. Wenn es dies nicht gäbe, könnte es ein
"zweites" nicht geben, welches diesem ersten gliche. Andernfalls würde
das zweite Gebot mit und in nichts gleich sein. Und das kann doch nicht
sein!
Ist das Besondere darin nicht vielleicht das: "Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst!" d.h. "Du sollst ihn, der dir
Barmherzigkeit erwies, lieben wie dich selbst!" Wie würde Er, der uns
lehrt und befiehlt, unsere Feinde zu lieben, uns nicht zuerst ermahnen
und uns dazu anhalten, ja befehlen, unsere Wohltäter besonders zu
lieben?
Immerhin haben jene, die uns in unserer Not beigestanden sind, unsere
Lasten auf sich genommen, sich selbst mit uns vereinigt, ja sich mit
uns identifiziert. Wurde unsere Not nicht geradezu ihre Not, indem ihre
Sorgen und Mühen unsere Rettung bewirken sollte? Mit wem ich also in
Not vereinigt war, bin ich dann nicht mit ihm in Liebe vereinigt?
Dessen Liebe zu mir hat sich gezeigt in der erwiesenen Barmherzigkeit,
so daß meine Gegenliebe zu ihm nicht fehlen darf, die mir durch Jesus
anbefohlen wird. Der Vater selbst befiehlt uns überdeutlich im Falle
der elterlichen Verantwortung Barmherzigkeit zu üben an jedem Kind, das
aus uns geboren wird. Denn so lautet die Lehre der Zehn Gebote: "Du
sollst Vater und Mutter ehren!" Und als unsere Eltern uns als ihr Kind
annahmen - vor, während und nach der Geburt - wie lange und wie viel
haben sie an uns Barmherzigkeit erwiesen in unserer Hilflosigkeit?!
Diejenigen sind auf hervorragende Weise unsere Nächsten - vor allen
anderen -, die uns in ihrem Leben, durch ihre Sorgen und in Liebe an-
bzw. aufgenommen haben.
Ich will an dieser Stelle nicht extra eingehen auf die eheliche Treue,
die neben und nach vieler Verliebtheit ganz gewiß viel gegenseitige
Barmherzigkeitsbezeugungen einschließt. Denn wie oft müssen Fehler oder
Fehlhaltungen eines Ehegatten durch edelmütiges Erbarmen des anderen
verschönt, entschuldigt, getragen, ertragen oder einfach zugedeckt
werden?
Die eheliche Treue kann nicht bestehen ohne gegenseitiges Erbarmen, das
die Verliebtheit ersetzen oder gar umgestalten sollte zu wahrer,
veredelter Liebe. Ohne diesen Opfersinn droht derv.sich selbst
eingenommene Mensch diejenigen, die seine Nächsten sind, zu
vernachlässigen.
IV.
Befremdend ist es, daß heute mancher Exeget ziemlich schnell den Juden,
der halbtot zurückgelassen wurde, als den "Nächsten" ausweist, indessen
Jesus nicht ihn, sondern den dritten Reisenden als den evangelischen
Nächsten bezeichnen läßt, ihn, der an dem Hilfsbedürftigen
Barmherzigkeit übte. (1) Immerhin kann das hl. Evangelium schwerlich
diesen göttlichen Blick auf die menschliche Beziehung außer Acht
lassen. Denn ist die Liebe zu jenen, die uns Barmherzigkeit bezeugten,
nicht das handfeste Bindeglied der christlichen Gesellschaft? Die
wahre, lebendige Kirche Christi ist ohne Inhalt und Geist des Gebotes
der Nächstenliebe unbeständig, ohne die es auch kein Band der
Frömmigkeit zwischen Vater, Mutter und den Kindern gibt, die, dankbar
um dies erfahrene Erbarmen, ihnen ihre Liebe wieder schenken. Wo diese
Liebespflicht gegen jene, die uns Barmherzigkeit bewiesen, verleugnet
oder auch nur verschwiegen wird (oder zur Aufrechterhaltung nur
geschäftlicher Beziehungen dient, so daß die Liebe verkümmert), wird
ein christliches Zusammenleben unmöglich.
V.
Fahren wir fort. Wo die "Ferne" die Aufmerksamkeit der Jüngeren zum
Nachteil des "Nächsten" ablenkt, so daß sie am "Nächsten" jenes
Evangeliums vorbeigehen, stirbt die Kirche unter sublimen Einbildungen
ab, das reale Zusammenleben zerspringt in makabren Entladungen. Darum
müssen wir zurückkehren zur Lehre Jesu: "Wer ist dein Nächster?" -
"Derjenige, der mir Barmherzigkeit erwies." Ihn muß ich lieben wie mich
selbst, und das kann mein Vater, meine Mutter, ja auch mein Ehegemahl
sein. Diese Forderung, die sich eindringlich an uns richtet, ist nicht
gering. Sie zu erfüllen, ist gerade heute nötiger denn je.
Anmerkung:
(1) Der Gott-Mensch, unser Herr Jesus, ist für mich der unmittelbarste
"Nächste". Denn wer anders als Er bewies mir dermaßen große
Barmherzigkeit? Dreimal dreimal täglich (als Symbol für unendlich)
beten wir klagend zu Ihm im heiligen Meßopfer: "Herr erbarme Dich
unser, Herr erbarme Dich unser, Herr erbarme Dich unser, Christus
erbarme Dich ..." (im "Kyrie"). Der Herr ist das Urbild von jenem
"anderen, der uns Barmherzigkeit erwies". Darum ist das erste Gebot das
"erste". Das "zweite" ist in all seiner Kraft und seinem Inhalt
entsprechend darauf angelegt und angewiesen.
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