Die Kirche
von
Heribert Holzapfel
(aus: „Katholisch und Protestantisch“ Freiburg 1931, S. 29 ff.)
Nicht selten begegnet man der Behauptung: „Das Verhältnis des
Protestanten zu Gott ist ein unmittel-bares, von keiner menschlichen
Gewalt abhängiges, beim Katholiken aber schiebt sich überall die Kirche
ein zwischen ihn und seinen Gott.“ Das ist durchaus irrig gesehen. Der
Katholik steht seinem Gott genau so unmittelbar und unabhängig
gegenüber wie jeder andere Mensch. Es ist gar nicht möglich, daß irgend
eine irdische Gewalt, auch wenn sie wollte, sich eindrängen könnte in
dieses zarteste und einzig dastehende Verhältnis zwischen Gott und
Menschengeist, wie es beispielsweise im Gebet seinen Ausdruck findet.
Eine ganz andere Frage aber ist die: Wie kann der Mensch mit Christus
in Verbindung kommen, insofern er das Haupt der Menschheit, der Erlöser
der Menschen ist? Wie wird der Mensch der Erlösung teilhaftig, die
Christus nach übereinstimmender Lehre der Katholiken und Protestanten
der Menschheit verdient hat? Darauf antwortet der Katholik: Um der
Heilsgüter des Erlösers teilhaftig zu werden, muß ich den Weg gehen,
den Christus vorgeschrieben hat, ich muß in die Gnadengemeinschaft
eintreten, die er gestiftet hat, ich muß mich in seine Kirche aufnehmen
lassen.
I. Die Kirche der mystische Leib Christi
Nach katholischer Auffassung ist die Kirche eine geheimnisvolle
Gnadengemeinschaft mit Christus als Haupt an der Spitze. Wiederholt
gebraucht die Schrift 2) für die Gemeinschaft der Heiligen (der
Gläubigen) das Bild vom Leib, dessen Haupt Christus ist und dessen
Glieder die einzelnen Gläubigen darstellen. Sie zusammen bilden die
Kirche, den mystischen Leib Christi. Vom Haupte strömt beständig
göttliches Leben in die einzelnen Glieder, und so erfüllt sich der
Heilsplan Gottes, der die Menschen in die göttliche Lebensgemeinschaft
aufnehmen wollte, und zwar durch den Gottmenschen Christus. Der
mystische Christus oder die Kirche ist etwas ebenso Reales wie der
historische Christus, und nur durch Eingliederung in den ersteren kommt
man zur Teilnahme am letzteren.
Wie Christus vor 1900 Jahren in einem aus Maria entnommenen
Menschenleib lebte, so lebt er heute sein mystisches Leben in einem der
ganzen Menschheit entnommenen Leib, der den Namen Kirche trägt. Aber
ist es nicht übertrieben, nicht unnatürlich, zu behaupten, daß das
mystische Leben Christi in wirklichem Sinne, nicht etwa bloß bildlich,
identisch ist mit dem übernatürlichen Leben aller Kirchenmitglieder? Um
dies zu veranschaulichen, sei an eine Tatsache des organischen Lebens
erinnert, die uns erst durch die moderne Biologie zum Bewußtsein
gekommen ist. Danach ist das Leben der höheren Organismen nicht bloß
eine geheimnisvolle Einheit, sondern zugleich das Ergebnis einer
unzählbaren Menge von Einzelzellen. Jede von ihnen besitzt ihre eigene
Individualität, ihr eigenes Leben, aber dieses wird gewissermaßen über
sich hinausgehoben zu einer höheren Einheit, zur Einheit des
Organismus, von dem sie ein Teil ist. Also jeder organische Körper, ein
Baum, ein Tier, der Mensch, kann unter einem doppelten Gesichtspunkte
betrachtet werden: er besitzt zunächst als Ganzes ein ihm eigenartiges
Leben, das mit der Befruchtung beginnt und mit dem Sterben endet. Unter
dieser Einheit des Baumes, des Tieres, des Menschen verbergen sich aber
unzählbare Lebewesen, die Zellen, aus denen der ganze Organismus
aufgebaut ist. Diese Zellen entstehen unaufhörlich, sie leben ihre
eigenes Leben, sterben und vergehen mit der Zerstörung der Gewebe, ohne
jedoch durch diesen ewigen Wechsel das fortdauernde Leben des ganzen
Organismus zu unterbrechen.
Dieser Vergleich vermag das Geheimnis der Kirche in etwa aufzuhellen.
Die einzelnen Glieder der Kirche sind gewissermaßen die Zellen, sie
alle zusammen bilden die große Einheit, den geheimnisvollen Organismus
des Leibes Christi, der belebt und regiert wird vom Geiste Christi,
ähnlich wie der Menschengeist die einzelnen Zellen des menschlichen
Organismus einigt, belebt und regiert. Der Heiland selbst weist unsere
Gedanken nach dieser Richtung, wenn er sich als den Weinstock und die
Seinigen als die Reben an diesem Weinstock bezeichnet (Joh. 15,1 ff.).
Die Kirche ist demnach nichts anderes als der fortlebende und
fortwirkende Christus, die tatsächliche Erfüllung der Verheißung: „Ich
bleibe bei euch bis ans Ende der Welt“ (Matth. 28,20). Dieses
Fortwirken vollzieht sich in den Gnadenmitteln, hauptsächlich in den
Sakramenten der Kirche. Sie sind gewissermaßen die Blutgefäße, durch
die das Leben Christi strömt und sich dem einzelnen mitteilt. Die
Aufnahme in diese übernatürliche Gnadengemeinschaft mit Christus, die
Eingliederung in den mystischen Leib Christi, erfolgt durch die Taufe.
Wer durch diese Wiedergeburt Glied am Leibe Christi geworden ist, der
bleibt es ebenso unabänderlich, wie der Mensch, der durch Geburt in
eine Familie hineingeboren wurde, Glied dieser Familie bleibt, ob er es
weiß oder nicht, ob er sich später von der Familie lossagt oder nicht.
Wer sich über diese katholische Auffassung von der Kirche klar geworden
ist, der weiß, daß es eine innigere, unmittelbarere Beziehung zwischen
der Seele und Christus gar nicht geben kann als in der Kirche. Sie
schiebt sich nicht zwischen uns und Christus, sondern sie vermittelt
uns eine immer innigere Verbindung mit ihm. So erklärt sich auch die
tiefe Verehrung, mit der der gläubige Katholik an seiner Kirche hängt.
Je mehr er den historischen Christus liebt, desto mehr wird er den
mystischen Christus lieben, durch den er zu jenem kommt. Er kann sich
auf Erden nichts Schöneres vorstellen als diese harmonische
Zusammenfassung von Millionen von Menschengeistern, die zerstreut über
alle Nationen einen großen Bruderbund bilden, zusammengehalten durch
Christi Geist und Christi Gnade, einheitlich im Glauben, einheitlich in
den Gnadenmitteln, einheitlich in der Leitung. Diese Einheit ist dem
Katholiken ein notwendiges Merkmal der Kirche Christi, das so
selbstverständlich aus ihrem Wesen folgt, daß es zu seiner Bekräftigung
gar keines Schriftwortes bedürfte. Wenn der Herr in seinem
hohenpriesterlichen Gebet fleht, daß die Seinigen eins sein sollen, wie
er mit dem Vater eins ist“ (Joh. 17,11), wen Paulus die Forderung
aufstellt: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe“ (Eph. 4,4), so sieht der
Katholik darin lediglich eine Bestätigung, daß die katholische
Auffassung auch die des Völkerapostels ist, daß jede Zerreißung der
Einheit gegen den ausdrücklichen Willen Christi verstößt.
II. Die Sichtbarkeit der Kirche
Wie ist aber die Erhaltung einer solch durchgreifenden Einheit möglich?
Nicht anders als durch Schaffung eines Einheitspunktes, durch den alle
auseinanderstrebenden Kräfte der Menschengeister zusammengehalten
werden, mit andern Worten, durch eine entsprechende Organisation. Damit
kommen wir auf die Sichtbarkeit der Kirche zu sprechen. Dem
Nichtkatholiken stellt sich die Kirche in erster Linie dar als eine
weltumspannende Gemeinschaft mit Papst, Bischöfen und Priestern, also
eine Rechtsanstalt ähnlich einem Staatsgebilde. Wie einseitig und
völlig ungenügend diese Vorstellung ist, geht aus dem Gesagten hervor:
die Kirche ist in erster Linie eine geheimnisvolle Gnaden-gemeinschaft,
und erst in zweiter Linie kommt die äußere Organisation, die freilich
unentbehrlich ist zur Erhaltung des ganzen Organismus, damit die
einzelnen Glieder desselben stets mit dem Haupte verbunden bleiben
durch den gleichen Glauben und durch die gleichen Gnadenmittel.
1. Der Wille Christi: Der
letzte Grund der Sichtbarkeit der Kirche liegt in der Menschwerdung des
göttlichen Wortes selbst. Es hätte sich auch ohne Menschengestalt
anzunehmen, also in unsicht-barer Weise in die Menschenherzen
hineinsenken können, es hätte so auf jeden Menschengeist direkt
einwirken können, eine sichtbare Gemeinschaft der von ihm Begnadeten
wäre dann zwecklos gewesen. Aber es war im Ratschlusse Gottes anders
gelegen. Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt in
sichtbarer Gestalt. Es hat nicht rein geistig auf die Menschengeister
eingewirkt, sondern geistig-sinnlich, in einer der Menschennatur
angepaßten Weise, die nun einmal nicht reiner Geist ist, sondern aus
Geist und Leib zusammengesetzt.
Und wie der historische Christus kein unsichtbares Wesen war, so sollte
es auch der mystische Christus, die Kirche , nicht sein. Sie sollte wie
er selbst in sichtbarer Weise den Menschen gegenübertreten, sie für ihn
gewinnen, sie in seinem Namen weiden. Dieser Wille Christi findet sich
klar ausgesprochen bei Matth. 16,18: „Du bist Petrus der Fels, und auf
diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Hölle
werden sie nicht überwältigen. Dir will ich die Schlüssel des
Himmelreiches geben“ (vgl. Matth. 18,18). Weiter bei Joh. 21,15 ff.:
„Weide meine Lämmer, weide meine Schafe.“ Gewiß sind diese Worte
zunächst an Petrus gerichtet und beweisen unwiderleglich, daß die erste
Christengemeinde nach Christi Willen ein sichtbare Organisation
besitzen sollte, mit einem sichtbaren Haupte an der Spitze, die
besondere geistige Gewalten erhielt und dazu die Verheißung der
Unüberwindlichkeit.
Ein Blick in die Apostelgeschichte (Wahl des Matthias, Auftreten gegen
Ananias und Sapphira, Aufstellung der Diakonen, Apostelkonzil usw.)
zeigt deutlich, daß auch die ersten Christen dem Willen Christi gemäß
ihre Kirche als eine sichtbare betrachteten. Sollte aber nach dem Tode
Petri die Sichtbarkeit der Kirche aufhören? Brauchte sie jetzt kein
Haupt mehr? Soll niemand mehr bestellt sein mit besondern Vollmachten
für die Gläubigen? Es genügt, diese Fragen zu stellen, um die
katholische Auffassung zu bejahen, freilich unter der Voraussetzung,
daß man die Gottheit Christi glaubt, an seinen Willen, den Menschen
aller Zeiten das zu vermitteln, was er der ersten Kirche in Petrus
verliehen hat. Und weil die alte Christenheit diesen glauben an die
Gottheit Christi lebendig in sich trug, darum behielt sich auch die
Organisation bei, die ihr Christus gegeben, d.h. sie blieb eine
sichtbare Heilsanstalt. Von unbedeutenden Ausnahmen abgesehen, kam es
daher keinem gläubigen Christen in den Sinn, gegen die Sichtbarkeit der
Kirche anzukämpfen. Erst die Reformatoren des 16. Jahrhunderts dachten
anders.
2. Klerus und Laien: Aus
dem oben Gesagten geht zugleich unwiderleglich hervor, daß nicht alle
Glieder der Kirche gleichberechtigt waren, daß es von Anfang an zwei
Stände gab: die Apostel und ihre Gehilfen (Klerus) auf der einen Seite,
das von ihnen geleitete gläubige Volk (Laien) auf der andern Seite. Die
ersteren erhielten aber ihre Gewalt nicht etwa von den letzteren,
sondern traten ihnen gegenüber als Bevollmächtigte Christi auf, und
zwar nicht bloß die Apostel selbst, sondern auch die von ihnen
bestellten Nachfolger im Vorsteheramt. „Dazu habe ich dich auf Kreta
zurückgelassen, damit du das, woran es noch fehlt, in Ordnung bringst,
in jeder Stadt Älteste aufstellst, wie ich dir aufgetragen habe“,
schreibt Paulus an Titus (1,5; vgl. 2,15). Wenn es im Laufe der
Kirchengeschichte vorkam, daß das Volk selbst sich bei der Wahl der
Bischöfe beteiligte oder der Staat einen Bischof „ernannte“, so
bedeutet das lediglich eine Benennung der Person für das Amt, nicht
aber eine Übertragung der Amtsgewalt auf den Gewählten. Diese
Ãœbertragung erfolgte vielmehr durch die Priesterweihe, beziehungsweise
durch die übergeordneten kirchlichen Oberen. So konnte niemals jemand
eine kirchliche Gewalt ausüben, wenn er nicht von einem Bischof geweiht
war, dieser wieder von einem andern Bischof, und so zurück bis zu den
Aposteln, ja bis auf Christus selbst. (Apostolische Sukzession der
Bischöfe.) Jeder Bischof wie jeder Priester steht somit den Gläubigen
gegenüber da als Nachfolger der Apostel oder Bevollmächtigter der
Apostel mit der den Aposteln von Christus verliehenen Autorität. Alle
Kirchengewalt kommt also von Christus und wird in seinem Namen
ausgeübt.
Man hat protestantischerseits gegen diese von Anfang an vorhandene
Zweiteilung in Klerus und Volk das Wort „Ihr seid ein königliches
Priestertum“ (1 Petri 2,9) ins Feld geführt. Aber zu Unrecht. Petrus
stellt hier nach dem ganzen Zusammenhange nicht das gläubige Volk den
Aposteln gegenüber, indem er sie alle etwa als gleichberechtigte
Priester bezeichnet, sondern er stellt die Christen den Ungläubigen
gegenüber, betont ihre Pflicht, „durch Jesus Christus geistige, Gott
wohlgefällige Opfer darzubringen“ (1 Petri 2,6). Darin besteht ihr
königliches Priestertum. Aber im buchstäblichen Sinne werden sie
dadurch ebensowenig Priester wie Könige.
Also, nach katholischer Lehre sind von Christus selbst die einen in
seiner Kirche dazu berufen und ausgestattet, den andern die Lehre und
Gnade zu vermitteln, sie auf den rechten Weg zu führen, sie zu weiden
und zu leiten. „Und so bestimmte er die einen zu Aposteln, die andern
zu Propheten, wieder andere zu Verkündigern des Evangeliums oder zu
Hirten und Lehrern. Sie sollen die Heiligen zur Ausführung ihres Amtes
heranbilden, zum Aufbau des Leibes Christi, bis wir alle zur Einheit im
Glauben und in der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollendeten
Männlichkeit, zur vollen Reife des Mannesalters Christi gelangen. Dann
werden wir nicht mehr unmündige Kinder sein, die sich von jedem
Windhauch der Lehre, durch das Trugspiel der Menschen, durch die
Verführungskünste der Irrlehre hin- und herwiegen und tragen lassen.
Vielmehr werden wir uns an die Wahrheit halten und in Liebe nach jeder
Hinsicht in den hineinwachsen, der das Haupt ist: Christus. Von ihm aus
wird der ganze Leib durch den Dienst eines jeden Gliedes zusammengefügt
und zusammengehalten und jedem Teil seine bestimmte Arbeitsleistung
zugemessen, uns so vollzieht sich das Wachstum des leibes, bis er in
Liebe aufgebaut ist“ (Eph. 4,12-16).
Aber diese Vollmachten schließen schwerste Pflichten in sich. Sie
berechtigen die Kleriker keineswegs, sich über die Laien zu erheben
oder über sie nach Art weltlicher Machthaber zu herrschen. Nicht als
Herren sollen sie sich fühlen, sondern als Diener! „Der Größte unter
euch sei wie der Geringste und der Vorsteher wie der Diener“ (Luk.
22,26). Und die Fußwaschung war der Anschauungsunterricht für diese
Wahrheit. Wohl wissen wir, daß im Verlauf der Kirchengeschichte nicht
immer danach gehandelt wurde, daß bisweilen viel dagegen gefehlt worden
ist. Es ist aber katholische Lehre, daß ein solches Tun schwerste
Verantwortung vor dem ewigen Richter nach sich zieht.
Freilich sind die Gläubigen von der Pflicht des Gehorsams in religiösen
Dingen auch solchen Vorgesetzten gegenüber nicht entbunden, die ihr Amt
nicht im Geiste Christi führen. Vielmehr gilt hier das Wort des Herrn:
„Was sie euch sagen, das tut, aber nach ihren Werken sollt ihr nicht
tun“ (Matth. 23,3). Nach katholischer Überzeugung steht das Gemeinwohl
höher als das Privatwohl. Es ist deshalb ein weit geringeres Übel, wenn
der einzelne durch Mißgriffe einer Autoritätsperson im Staatswesen wie
in der Kirche etwas zu leiden hat, als wenn er durch Auflehnung die
Autorität selbst schädigte. Er muß in solchen Fällen das Gericht über
die Vorgesetzten Gott überlassen und darf nicht die Fahne der Empörung
aufpflanzen, selbst dann nicht, wenn er in einem bestimmten Falle aus
Gewissensgründen den Gehorsam verweigern müßte.
3. Das kirchliche Lehramt, das Dogma: Die
Hauptaufgabe des kirchlichen Lehramtes ist es, den Willen Christi, daß
all die Seinigen einig bleiben, die Forderung des Apostels, „ein
Glaube, eine Taufe“, zur Durchführung zu bringen. Als Träger des
kirchlichen Lehramtes kommen in erster Linie Papst und Bischöfe in
Betracht. Sie haben das Recht und die Pflicht, die in der christlichen
Offenbarung, Schrift wie Tradition, niedergelegte Wahrheit den
Gläubigen zur Erkenntnis zu bringen. Geschieht dies in feierlicher
Form, so spricht man von einem Dogma (Glaubenssatz), das jeder Katholik
zu glauben verpflichtet ist. Diesem „Dogmenzwang“ steht der heutige
Zeitgeist durchaus ablehnend gegenüber, weshalb sich auch die modernen
Weltanschauungen fast ausnahmslos beeilen, zu versichern, daß es bei
ihnen keinen Dogmenzwang gibt. Der katholischen Kirche kommt so etwas
gar nicht in den Sinn. Sie opfert dem Zeitgeist nie, weil sie aus ihrer
langen Geschichte weiß, wie unmodern recht bald die heutigen
Modewahrheiten sein werden Vielmehr tritt sie hier dem Zeitgeist scharf
entgegen und sagt: Modewahrheiten sind keine Wahrheiten. Jede Wahrheit
ist ewig, ist Ãœbereinstimmung unserer Erkenntnis mit der Wirklichkeit.
Wie diese Wirklichkeit unabhängig von uns dasteht, so besteht auch die
Wahrheit unabhängig von uns; wir können sie bejahen oder verneinen,
aber ändern können wir sie nicht.
Und was von jeder Wahrheit gilt, gilt in gleicher Weise von der
religiösen Wahrheit, vom Dogma. Es kann vom Menschen erkannt,
„entdeckt“ und formuliert werden, aber es kann von ihm nicht geschaffen
werden, nicht „erfunden“ werden. Dogma ist auch nicht der Ausdruck
frommer Erlebnisse bestimmter Zeiten oder bestimmter Menschen, sondern
Dogma ist die Anerkennung einer ehernen Tatsache, es spricht aus, was
wirklich ist, was tatsächlich existiert. Eine Klage über Dogmenzwang
kommt daher dem Katholiken ebenso töricht vor wie eine Klage über die
Starrheit der Naturgesetze.
Es ist hier der Platz, ein Wort über die Entwicklung der Glaubenslehre
anzufügen, da gerade hierüber soviel Unklarheit herrscht. Der Katholik
glaubt mit dem Protestanten, daß die Offenbarung mit Christus und den
Aposteln abgeschlossen ist, aber er glaubt weiter, daß die Erkenntnis
dieser Offenbarung nicht abgeschlossen ist, vielmehr ständig wachsen
kann und soll. Das Gleichnis des Herrn vom Senfkorn, das sich zum Baum
entwickelt, gilt nicht nur vom Gottesreich im allgemeinen, sondern auch
von der Glaubenswahrheit im besondern. Auch sie soll nicht immer
Samenkorn bleiben, sondern sich entfalten, Zweige, Blätter, Blüten
treiben und immer reichere Früchte tragen. Ist aber der Baum mit seinen
Blättern und Blüten etwa „menschliches Beiwerk“ zum Samenkorn, weil der
Gärtner den Samen gesät, begossen und gepflegt hat? Gewiß nicht,
sondern die im Samenkorn schlummernden Kräfte haben die Entwicklung
herbeigeführt, es war ein Wachstum von innen her-aus, im Grunde nichts
Neues, sondern nur die Entfaltung des im Samenkorn schon Vorhandenen.
So ähnlich stellt sich nach katholischer Auffassung die Entwicklung der
Glaubenslehre, des Dogmas, dar. Das Samenkorn, die
Offenbarungswahrheit, kann die Kirche nicht geben, aber menschliche
Geistesarbeit kann unter der Leitung des in der Kirche lebenden Geistes
Christi eine in der Offenbarung, SChrift und Tradition, niedergelegte
Wahrheit immer deutlicher herausheben, immer klarer zur Erkenntnis
bringen. So definierte das Konzil von Nizäa 325 nach langen
wissenschaftlichen Kämpfen um die Gottheit Christi die
Gleichwesentlichkeit des Sohnes mit dem Vater als Dogma. Es wurde damit
der Christenheit keine neue Lehre aufgebürdet; Christus war immer Gott;
aber eine klarere Formulierung der alten Wahrheit wurde mit der
Verkündigung des Dogmas gegeben, und die Pflicht wurde eingeschärft,
sich dieser Wahrheit zu beugen.
Noch auf etwas anderes sei in diesem Zusammenhange hingewiesen, das
nicht selten als Angriffspunkt gegen die Katholiken benützt wird. Der
Katholik muß sich den offiziellen Entscheidungen des kirchlichen
Lehramtes unterwerfen, das steht außer Frage. Aber muß er alle die
Entscheidungen kennen, die im Laufe der Jahrhunderte in zahllosen
Kämpfen gegen die Irrlehrer ergangen sind, Entscheidungen, die
vielleicht heute für das religiöse Leben des einzelnen ohne Bedeutung
sind, während sie nach Jahrhunderten vielleicht wieder sehr praktisch
werden können? Die Antwort lautet: Nein! Das ist Sache der
Gottesgelehrten, nicht aber Pflicht des einzelnen Gläubigen, alle
Glaubensentscheidungen der Vergangenheit kennen zu lernen. Für ihn
genügt die Glaubenshaltung gegenüber der Kirche, daß er bereit ist,
alles zu glauben, was ihm die Kirche zu glauben vorstellt. Diese
Geisteshaltung ist aber eine Selbstverständlichkeit für jeden, der an
das Wesen der Kirche im katholischen Sinne glaubt. Darum ist es
unbegreiflich, wie man daraus den Katholiken einen Vorwurf machen kann,
als ob sie alles blind und unbesehen annehmen würden. Ein Vergleich
möge dies klarmachen. Von einem guten Staatsbürger muß verlangt werden,
daß er gewillt ist, sich der Staatsordnung zu beugen, die
Staatsgesetzte zu beobachten. Muß er sie aber deswegen alle kennen?
Auf der gleichen Linie liegt der andere Einwand, der die Katholiken
gruseln machen will, weil sie nicht weniger als 2414 Kanones des
kirchlichen Gesetzbuches zu beobachten hätten; dadurch gehe doch alle
evangelische Freiheit verloren. Das ist ungefähr so, wie wenn man dem
Staatsbürger vorhielte, daß er an all die ungezählten Paragraphen des
Bürgerlichen Gesetzbuches, des Strafgesetzbuches, der Prozeßordnungen
usw. gebunden sei und infolgedessen keinen selbständigen Schritt mehr
tun könne. Entspricht dies der Wahrheit? Sicherlich nicht. Denn die
Gesetze, die jeden einzel-nen angehen, sind immer sehr wenige; aber für
die Ordnung aller Rechtsverhältnisse einer großen Gemeinschaft sind
viele Gesetze nötig, von denen die allermeisten für die einzelne Person
nie in Frage kommen.
4. Unfehlbarkeit: Es ist
urchristlicher Glaubensbesitz, daß die Kirche in der Verkündigung der
Glaubenswahrheit nicht irrt, nicht irren kann. Der in ihr lebende Geist
Christi schützt sie vor Irrtum. Die Stiftungsurkunde der Kirche
schließt daher mit den Worten: „Die Pforten der Hölle werden sie nicht
überwältigen.“ Das wäre aber der Fall, wenn Irrtum und Lüge in
Glaubenswahrheiten in der Kirche Platz finden könnten. Darum nennt auch
Paulus die Kirche „eine Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (1 Tim.
3,15). Infolgedessen herrschte in der alten Kirche niemals ein Zweifel
darüber, daß sie als Ganzes mit Unfehlbarkeit ausgestattet ist. Wo
immer im Laufe der Zeit Irrtümer auftraten, versammelten sich die
Häupter der Kirche in den Konzilien und sprachen ihr Urteil. Und der
Ausspruch der allgemeinen Konzilien in Glaubens- und Sittenlehren
begründete stets eine Glaubenspflicht für alle, welche der Kirche
angehören wollten.
Eine glänzende Bestätigung der Unfehlbarkeit der Kirche, die auch dem
Nichtkatholiken zu denken geben sollte, liegt darin, daß von all den
vielen Glaubenswahrheiten, die in einem Zeitraum von mehr als
eineinhalb Jahrtausenden verkündet worden sind, auch nicht eine einzige
namhaft gemacht werden kann, die mit einem sicher bewiesenen Satz der
Wissenschaft in Widerspruch stünde, die somit als falsch dargetan
werden könnte. Der Katholik freilich findet diese Tatsache nicht
auffallend, weil er weiß, daß die religiöse wie die profane Wahrheit in
gleicher Weise von Gott stammt und Gott sich nicht widersprechen kann.
Durchdrungen vom Glauben an die Gottheit Christi, hält er es für ganz
unmöglich, daß die Verheißung Christi nicht in Erfüllung geht, wonach
sein Geist niemals seine Kirche verlassen wird.
Die gegenteilige Lehre vieler protestantische Richtungen, daß die
Kirche Christi viele Jahrhunderte lang in wesentlichen Punkten des
Glaubens geirrt habe, daß sie vom Geiste Christi abgewichen sei,
bedeutet nach katholischem Denken nichts anderes als die Leugnung der
Verheißung Christi, daß er bei seiner Kirche bleiben werde alle Tage
bis ans Ende der Welt. Und wenn manche Protestanten ihre Gemeinschaft
als Fortsetzung der am ersten Pfingstfeste gegründeten Kirche ansehen
und dennoch behaupten, daß diese erste Kirche im Laufe der Zeit von der
Wahrheit abgeirrt sei, welche Bürgschaft haben sie dann, daß ihre erst
im 16. oder im 19 Jahrhundert gegründete Gemeinschaft die Wahrheit
besitze? Sind sie der Meinung, daß die Verheißung Christi sich für die
älteste Kirche mit ihren zahllosen Martyrern und Heiligen als
trügerisch erwiesen habe, wie können sie glauben, daß diese Verheißung
sich für die eigene, viel jüngere Kirche als weniger trügerisch erweise?
5. Das Selbstbewußtsein der Kirche: „Intoleranz.“
Die Kirche tritt der Menschheit gegenüber mit der Autorität des in ihr
fortlebenden Christus und verlangt unbedingte Annahme ihrer Glaubens-
und Sittenlehren, so dunkel und schwierig sie auch sein mögen. Jedes
Abweichen davon brandmarkt sie als eine Zerreißung der von Christus
gewollten Einheit, als Frevel gegen den geheimnisvollen Leib Christi,
als Häresie, als Ketzerei. Alle, die vom 1. Jahrhundert bis zum 20.
solches taten, stehen für sie auf gleicher Linie, heißen sie nun
Marcion oder Arius, Luther oder Kalvin, Irving oder Russel. Eine
dogmatische Gleichberechtigung solchen nichtkatholischen Gemeinschaften
zuzugestehen, ist für die Kirche ebenso unmöglich, wie es nach dem
Zeugnis der Schrift den Aposteln unmöglich war, die Irrlehrer ihrer
Zeit als gleichberechtigt anzusehen. Sie würde sich damit ja selbst
aufgeben mit ihrem Anspruch, die wahre Kirche Christi zu sein. Der
Katholik kann sich nicht genug darüber wundern, warum nicht jede
protestantische Gemeinschaft den gleichen Standpunkt einnimmt. Wenn sie
wirklich glaubt, daß sie im Besitz der Wahrheit ist, wie kann sie dann
eine Gemeinschaft mit abweichenden Lehren als dogmatisch
gleichberechtigt gelten lassen? Darf die Wahrheit den Irrtum ihren
Bruder nennen?
Also in Fragen nach der Wahrheit kann es keine Toleranz geben; wohl
aber, wenn es sich darum handelt, welches Verhältnis der Katholik
gegenüber den irrenden Personen einzunehmen hat. Hier ist
Toleranz sogar zu wenig; Liebe ist gefordert, die von Christus
vorgeschriebene Liebe allen Menschen gegenüber. Gewiß wurde dagegen in
der Vergangenheit viel gefehlt, aber nicht bloß von katholischer,
sondern ebenso von nichtkatholischer Seite. Es ist ein grober
geschichtlicher Irrtum, zu behaupten, die katholische Kirche habe die
Gewissensfreiheit stets bekämpft, erst Luther habe sie der modernen
Menschheit gebracht. In Wahrheit ließ Luther nicht nur keine von der
seinigen abweichende Lehre gelten, sondern er führte den ärgsten
Gewissenszwang dadurch ein, daß er den weltlichen Fürsten die Gewalt
zusprach, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen. Der Grundsatz:
„Cuius regio, illius religio“, d.h. „Wer über ein Gebiet herrscht,
bestimmt die Religion seiner Bewohner“, ist auf protestantischem Boden
gewachsen, wurde dann freilich auch von katholischen Fürsten in gleich
verwerflicher Weise angewandt. Der katholische Historiker weiß zwar,
daß solchem Vorgehen die Überzeugung zu Grunde lag, daß die Einheit des
Glaubens das höchste Gut für ein Volk ist, daß das Wohl des Staates
durch religiöse Spaltungen auf schwerste beeinträchtigt wird, daß also
jede Ketzerei nicht bloß als ein Verbrechen gegen die Kirche, sondern
auch gegen den Staat aufgefaßt wurde, nichtsdestoweniger wird er jede
Gewaltanwendung gegenüber Andersdenkenden als eine Zeitverirrung
beurteilen, so wie es die Kirche im Altertum getan hat und heute wieder
tut, wenn sie in ihrem neuen Gesetzbuch (Kan. 1351) vorschreibt:
„Niemand darf gegen seinen Willen zur Annahme des katholischen Glaubens
gezwungen werden.“ Mit Unrecht wird darum noch in neu-esten Büchern
behauptet, daß die Kirche, wenn sie die Macht dazu hätte, auch heute
wieder gegen Andersdenkende mit den Gewaltmitteln vorgehen würde, die
bei der Inquisition und Hexenverfolgung zur Anwendung kamen, nicht bloß
von katholischer, sondern auch von protestantischer Seite.
6. Die alleinseligmachende Kirche: Wie
die Kirche keiner andern Gemeinschaft dogmatische Gleichberechtigung
zuerkennen kann, so auch Gleichwertigkeit hinsichtlich ihres
Endzweckes. Nicht jede religiöse Gemeinschaft ist berufen, die Menschen
zu ihrem Endziele zu führen, sondern nur die von Christus gewollte und
entsprechend ausgestattete. Dieser einfachen Wahrheit will die Kirche
Ausdruck geben, wenn sie sich die alleinseligmachende nennt. Und doch
wieviel Mißverständnissen ist dieser Ausspruch schon begegnet! Wieviel
Entrüstung hat er schon ausgelöst! Eine schmachvolle Herabwürdigung
aller Nichtkatholiken hat man schon darin erblickt, weil sie dadurch
samt und sonders als der Verdammung verfallen angesehen würden. In
Wahrheit soll aber dadurch nicht betont werden, daß außer Christus kein
Heil zu finden ist, daß nach Gottes Willen jeder Mensch sich an
Christus anschließen soll, um sein Heil zu finden. Insofern nun die
Kirche ihrem innersten Wesen nach nichts anderes ist als der
fortlebende Christus, insofern gilt auch der Satz: „Extra ecclesiam
nulla salus“ - „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“. Aber Gott
selbst wird dadurch nicht behindert in seiner Freiheit, die Gnade zu
geben, wem er will. Darum hat Klemens XI. im Jahre 1713 ausdrücklich
den Satz von Quesnel verworfen: „Extra ecclesiam nulla conceditur
gratia“ - „Außerhalb der Kirche wird keine Gnade erteilt“.
Auch darauf ist in diesem Zusammenhang noch hinzuweisen, daß die
Eingliederung in den Leib Christi, die Aufnahme in die Kirche Christi,
durch die Taufe erfolgt. Wer immer getauft ist, gehört zur Kirche
Christi, zur katholischen Kirche. Das ist kein unerhörter
Machtanspruch, sondern die notwendige Konsequenz des katholischen
Dogmas, und richtig gesehen eine Lehre von größter Weitherzigkeit,
nicht gegenüber den akatholischen Gemeinschaften, wohl aber gegenüber
den einzelnen Nichtkatholiken. Nach katholischer Lehre gelangt jeder
Getaufte, Katholik wie Akatholik, zu seinem ewigen Ziele, wenn er die
Taufgnade bewahrt oder durch Reue wiedergewinnt. Wie wir auf der
einen Seite glauben und fürchten, daß viele Katholiken die Taufgnade
nicht bis zu ihrem Ende bewahren, so glauben und wünschen wir, daß
möglichst viele Protestanten sie bewahren und dadurch ihr Heil finden
kraft ihrer durch die Taufe erfolgten Eingliederung in den mystischen
Leib Christi, in die katholische Kirche, Daß sie aus Unwissenheit oder
Vorurteil nicht zur katholischen Kirche gehören wollen, ändert an
dieser dogmatischen Auffassung nichts, da die Entscheidung, ob und
inwieweit die Unwissenheit oder Abneigung schuldbar ist, dem Gerichte
Gottes allein vorbehalten bleiben muß.
7. Der Papst: Der Lehre
über die katholische Kirche würde ein wesentliches Moment fehlen, wenn
nicht ihres Einheitspunktes, des Papstes, eigens gedacht würde. So
schön der Name Papst = Vater der Christenheit an sich ist, so sehr
pflegt er bei den Protestanten innere Abwehr, ja Widerwillen
auszulösen. Das ist vielleicht das böseste Erbstück, das die
Reformatoren des 16. Jahrhunderts sowohl wie die Begründer der späteren
Sekten - so sehr sie auch sonst in ihren Lehren auseinandergehen, in
diesem Stücke sind sie alle einig - ihren Anhängern hinterlassen haben,
das „Odium Papae“, der Haß gegen den Papst. Denn der Haß macht blind.
Der Katholik kann sich nicht genug wundern, wie gleichgültig, ja
übelwollend die meisten Protestanten den großen Papstgestalten
gegenüberstehen, die die Kirche besessen hat, wie wenig Verständnis
dafür vorhanden ist, daß es doch die Päpste waren, die den jungen
germanischen Völkern die christliche Kultur vermittelten, daß es die
Päpste waren, welche die Einheit und Unauflöslichkeit Ehe zum Siege
führten, daß es die Päpste waren, welche das Abendland immer wieder zur
Abwehr des Ansturmes der Türken aufriefen, daß es die Päpste sind, die
auch heute noch den Mut besitzen, dem Zeitgeiste entgegenzutreten,
christlichen Glauben und christliche Sitte mit unerschütterlichem
Freimute dem modernen Neuheidentum gegenüber zu verteidigen. Statt
dessen begegnet man regelmäßig, wenn in Wort und Schrift die Sprache
auf das Papsttum kommt, gehässigen Bemerkungen und fast immer dem
Hinweis auf die Fehler, deren sich manche Päpste schuldig gemacht
haben. Wir Katholiken leugnen dies nicht, wir bedauern es selbst am
meisten und sind gewiß, daß diese unwürdigen Päpste eine um so größere
Verantwortung auf sich geladen haben, je höher sie auf Erden gestellt
waren. Indessen verlangt die historische Gerechtigkeit, zu sagen, daß
die Zahl der schlechten Päpste eine überaus geringe ist. Ist es
wirklich etwas Außerordentliches, daß sich unter 260 Päpsten ein
Dutzend Unwürdige finden? Mehr waren es sicher nicht. Wo ist eine
Dynastie, die sich in dieser Hinsicht mit den Päpsten messen könnte?
Aber alle Menschlichkeiten an der Person einzelner Päpste können den
Glauben der Katholiken an die Bedeutung des Papsttums in keiner Weise
erschüttern, sowenig wie sie am Apostelkollegium irre werden, weil sie
darin einen Verräter, einen Verleugner und einen Ungläubigen
wahrnehmen. Vielmehr schauen die Katholiken mit Verehrung zum Papste
auf, überzeugt, daß er von Christus selbst als sein Stellvertreter auf
Erden, als das sichtbare Haupt der Christenheit gewollt ist. Der Fels,
auf den der Herr seine Kirche gebaut, war auch nach dem Tode Petri
notwenig, und darum trat sein Nachfolger auf dem Bischofsstuhl zu Rom,
wo Petrus starb, in dessen Vorzugstellung ein und bildete den
Einheitspunkt für die Kirche. Ohne ihn ist nach dem Zeugnis der
Geschichte der Zerfall in nationale Kirchen und damit das Verschwinden
der Universalität des Christentums unabwendbar. Wir sehen das nicht
bloß an den vielen protestantischen Kirchengesellschaften, sondern auch
an den orthodoxen orientalischen Kirchen, die vom Altertum her das
christliche Glaubensgut und die sieben Sakramente samt dem Meßopfer
bewahrt haben, aber seit der Lostrennung vom Papsttum im 11.
Jahrhundert immer mehr der Abhängigkeit von der Staatsgewalt
anheimfielen und alle werbende Kraft eingebüßt haben.
Demgegenüber kann der Katholik mit freudigem Stolze darauf hinweisen,
daß seine Glaubensüberzeugung durch die Geschichte glänzend bestätigt
wird. Soweit wir in die Vergangenheit zurückschauen können, finden wir
keine Institution, die an Ausdauer und Unzerstörbarkeit dem Papsttum
gleichkäme, die - und das ist das wunderbarste - mit den Jahren nicht
altert, sondern sich immer wieder verjüngt und heute in voller
Jugendkraft vor uns steht. Das Papsttum allein hat alle Reiche und alle
Dynastien der letzten zwei Jahrtausende überdauert, und das, obwohl es
die schwersten Kämpfe gegen alle Diesseitsmächte durchzukämpfen hatte,
gegen Gewalt, Haß und Verleumdung. Viele Päpste haben in diesen Kämpfen
Leben und Freiheit verloren, aber das Papsttum starb nicht. Gibt es
eine handgreiflichere Bestätigung des Heilandswortes: „Die Pforten der
Hölle werden sie nicht überwältigen“? Wahrlich, wäre das Papsttum nicht
eine Pflanzung des himmlischen Vaters, so müßte es schon längst
ausgerottet sein (Matth. 15,13).
Noch ein Wort über die Unfehlbarkeit des Papstes. Warum glauben Wir
Katholiken daran? Einfach deswegen weil wir mit der altchristlichen
Vergangenheit überzeugt sind, daß Christus seiner Kirche die
Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenwahrheiten verliehen hat, wie oben
dargelegt wurde. Wenn die Kirche auf einem allgemeinen Konzil eine
Lehre als Offenbarungswahrheit verkündete, galt sie als unfehlbar für
jeden Gläubigen. Nun hat die Kirche auf dem allgemeinen Konzil im Jahre
1870 feierlich verkündet, daß auch dem Papst allein die von Christus
seiner Kirche verliehen Unfehlbarkeit zukomme. Der Katholik sieht
hierin das Walten der göttlichen Vorsehung, weil leicht Zeiten kommen
können, die das Zusammentreten einer allgemeinen Kirchenversammlung
unmöglich machen. Wer sollte dann auftretenden Irrlehren gegenüber
wirksam auftreten können, wenn nicht das Haupt der Kirche? Die
Unfehlbarkeit kommt aber dem Papste nicht etwa erst seit 1870 zu,
sondern wir Katholiken glauben, daß diese Auszeichnung von Anfang an
von Christus seinem Stellvertreter gegeben wurde, nur brauchte die
Klarstellung Zeit. Erst nach Jahrhunderten wurde die Erkenntnis dieser
Offenbarungswahrheit allgemein, bis sie dann von der Kirchenversammlung
als Dogma verkündet wurde. Damit hörte die Frage auf, für Katholiken
eine Streitfrage zu sein.
Nach allem, was seit sechzig Jahren von katholischer Seite über die
päpstliche Unfehlbarkeit geschrieben worden ist, sollte man es für
unnötig halten, darauf hinzuweisen, was damit nicht gemeint ist. Aber
die tägliche Erfahrung lehrt leider das Gegenteil. Nicht gemeint ist
damit eine sittliche Unfehlbarkeit der Person des Papstes, als ob er
nicht sündigen könne. Wir wissen recht gut, daß es neben der großen
Zahl der heiligen Päpste auch einige sehr unheilige gab. Und wenn wir
trotzdem den Papst „Heiliger Vater“ nennen, so ist damit keine
moralische Heiligkeit, keine Sündenlosigkeit gemeint, sondern heilig
besagt hier seiner ursprünglichen Bedeutung soviel wie „unverletzlich,
verehrungswürdig, majestätisch“. In diesem Sinne nannte der alte Römer
seinen Kaiser „Sanctissimus Imperator“, und in diesem Sinne nehmen wir
heute noch das Wort, wenn wir sagen, daß uns das Andenken unserer
Eltern „heilig“ ist.
Mit der Unfehlbarkeit des Papstes ist aber auch keine intellektuelle
Irrtumslosigkeit behauptet, so daß etwa der Papst, wie man schon
spöttischerweise gemeint hat, nun alle Streitfragen der weltlichen
Wissenschaft mit einem Machtspruch lösen könnte. In Wahrheit kann der
Papst als Privatmensch irren wie jeder andere in seinen persönlichen
Anschauungen, in seiner Politik, in seinen Regierungsmaßnahmen, die er
selbst oder durch seine Organe, z.B. die Kongregationen, trifft. Nur in
dem einzigen, sehr selten vorkommenden Fall, wenn er als Haupt der
Kirche eine Glauben oder Sitten betreffende Wahrheit als von Gott
geoffenbart und daher für die ganze Kirche verpflichtend feierlich
verkündet (ex cathedra), nur dann kommt ihm die Unfehlbarkeit zu, wie
sie von jeher als der Gesamtkirche zukommend geglaubt worden ist.
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