MAN GLAUBT, ER SCHLÄFT
von
Leon Bloy
Kein Aufgebahrter, ob Held oder Bürger, entgeht diesem Gemeinplatz.
Nicht genug, daß man stirbt, man muß auch ihn über sich ergehen lassen.
Wie oft habe ich ihn gehört und die Fäuste geballt. Was für ein Schlaf
aber, mein Gott! Ich habe diese fetten, erdfarbenen, fahlen Leichen
gesehen, die, schon halb verrottet, schrecklich und kläglich zugleich
ausschauten, als läge die leibhaftige Dummheit auf der Bahre.
Ich habe andere "Selige" gesehen, die im Todeskampf wieder den
Tiercharakter erlangt hatten, der zu ihren Lebzeiten von unzulänglichen
Seelenregungen verwischt worden war. Sie glichen Pferden, Wölfen,
Schweinen, Krokodilen, Affen, Larven aus Alpträumen. Einer, ich getraue
mich kaum, es hinzuschreiben, sah einer überlebensgroßen Wanze ähnlich.
Ich habe die Leiche eines großen Dichters gesehen, der weinend
gestorben war und auf dessen Antlitz man noch die doppelte Spur der
Tränen gewahrte. Ich habe die eines Kindes gesehen, einem Chorführer
der Engel gleichend, der die Erlaubnis erhalten hatte zu sterben und
nun mit geballten Fäusten und geschlossenen Lippen standhaft auf seinen
Abruf zu warten schien.
Und endlich ist das Schreckensbild eines 1870 in einem Winkel des
Schlachtfelds umgekommenen deutschen Soldaten meinem Gedächtnis
eingeprägt geblieben. Man konnte nicht sagen, er sei "gefallen", da man
ihn mit einem furchtbaren Bajonettstoß an eine Stalltür genagelt hatte.
Die Waffe, die nicht nur die Brust des Mannes durchboht hatte, sondern
auch tief ins Holz gedrungen war, hatte sich nicht herausziehen lassen;
der Mörder hatte daher nur seinen Gewehrlauf losgemacht und den
Sterbenden wie eine aufgespießte Nachteule hängen lassen. Nie werde ich
den Ausdruck des Entsetzens, der Angst und Verzweiflung in diesem
Gesicht vergessen.
Ein junger Bürger führte mich einmal vor die seit einigen Stunden
feierlich aufgebahrte Leiche seine Schwiegervaters. Man hatte die
Karten bereits versendet und alles für das Begräbnis vorbereitet, das
am folgenden Tag stattfinden sollte. Der Verstorbene war ein alter
verabschiedeter Offiziert aus der guten Zeit, ein schlichter Ehrenmann,
den ich fast ebensosehr seiner Beschränkheit wie seiner Geradheit wegen
liebte. "Sieht er nicht aus, als ob er schlafe?" sagte der
Schwiegersohn.
Ich hatte gute Lust, den Schwachkopf zu ohrfeigen, aber nach einem
aufmerksamen Blick erkannte ich, daß ich eine Art Dämon vor mir hatte.
Die Freude, ein paar Sous zu erben, war ihm trotz aller Bemühungen
anzumerken. "Wer einmal so daliegt", dachte er wohl, "der steht so bald
nicht wieder auf."
Nachdem ich heimlich ein De profundis gebetet, beeilte ich mich, aus
dem Dunstkreis des Erben zu kommen, als der Tote die Hand an die Stirn
hob und die Augen öffnete... Mit einer Geistesgegenwart, die mich noch
heute in Erstaunen setzt, löschte ich blitzschnell die Kerzen aus und
ließ den ganzen Leichenprunk verschwinden. Dann wandte ich mich dem
Schwiegersohn zu, der einen Schrei ausgestoßen hatte und dessen
erstarrte Fratze einem Höllenbewohner anzugehören schien. "Holen Sie
Ihre Frau", sagte ich, "Ihr Schwiegervater hat, wie Sie sehen,
ausgeschlafen."
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