DIE HEILIGE THERESIA VOM KINDE JESU
von
Eugen Golla
Daß Gottes Wege andere sind als die von uns Menschen, zeigte sich, als
1843 der zwanzigjährige Offizierssohn Ludwig Martin im Kloster auf dem
Großen Sankt Bernhard um Aufnahme bat, um Priester zu werden, aber
abgewiesen wurde, weil er nicht die erforderliche wissenschaftliche
Vorbildung besaß.
Ohne den Versuch zu wagen, den dornigen Weg eines Spätberufenen zu
beschreiten, zog er nach Alencon in der Normandie, wo er den Beruf
eines Juweliersund Uhrmachers ausübte und 1858 Zélie-Marie Guérin, die
Tochter eines Polizeiwachtmeisters heiratete. Im Gegensatz zu ihrem
sanften introvertierten Mann war Zélie unternehmend, energisch und zäh
- begann sie doch schon als junges Mädchen selbständig mit der
Fabrikation von Spitzen, was in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine
große Seltenheit war. Ein Beweis für die Tüchtigkeit dieser Frau ist
es, daß sie im Laufe der Jahre neben ihren Pflichten als Hausfrau und
Mutter das Geschäft nicht nur beibehielt, sondern es sogar noch so
erweitern konnte, daß ihr Mann sein Geschäft später aufgab und in das
ihre eintrat.
Das junge Paar war anfangs entschlossen, eine Josephsehe zu führen,
zumal Zélie ursprünglich Klosterfrau werden wollte. Aber bald fühlten
beide, daß dies nicht der Wille Gottes sei, ja vielmehr erflehten sie
nun einen reichen Kindersegen, der ihnen auch gewährt wurde: zwischen
I860 und 1873 wurden neun Kinder geboren. Von den allein überlebenden
fünf Töchtern, die allesamt Ordensschwestern wurden, war unsere
Heilige, die am 2. Januar 1873 geboren und auf die Namen Marie
Françoise Thérèse getauft wurde, die jüngste.
Schon im Alter von vier Jahren verlor sie ihre Mutter, die einem
Krebsleiden erlag. Ein neuer Lebensabschnitt begann. Der Vater zog nach
Lisieux, einer gleichfalls in der Normandie gelegenen Provinzstadt, um
in seinem Schwager, dem Apotheker Guérin, sowie seiner Frau Helfer und
Berater bei der Erziehung seiner Töchter zu haben. Wir müssen noch
etwas bei diesem Ersatz-Elternhaus verweilen, welches Theresia so stark
prägte und von ihren Biographen meist romantisch verklärt geschildert
wird. Herr Martin konnte nach dem Todeseiner Gattin mit einem Kapital
von 360000 Francs in "frommer Zurückgezogenheit" als Privatier leben.
Dem ersten Eindruck nach entsprach der Lebensstil dieser Familie dem
des wohlhabenden Kleinbürgertums der Gründerzeit mit seinem Nippes und
Plüschsofa, auf dem wohlerzogene Töchter strickend oder süßliche
Goldschnittlyrik lesend saßen. Kein Geringerer als Léon Bloy riß dieser
Epoche so rücksichtslos ihre Maske ab, um die sich unter ihr
verbergende pharisäische Heuchelei zu geißeln.
Wir dürfen im Falle der Familie Martin allerdings nicht so weit gehen!
Gewiß, von den großen geistigen Strömungen des damaligen Frankreich ,
sei es nun dem Impressionismus oder den großen Romanen, angefangen bei
Balzac, hielt sie sich fern. Aber es herrschte in ihr doch ein Geist
wahren Christentums, wenn auch natürlich eines solchen des 19.
Jahrhunderts mit allen seinen Fehlern und Schwächen. So hob Herr Martin
einen Betrunkenen auf der Straße auf, nahm ihn zu sich und gab ihm ein
reichliches Almosen, oder er sammelte für einen armen Epileptiker, den
er in der Bahnhofshalle gefunden hatte.
Im Heiligsprechungsprozeß sagte eine der noch lebenden Töchter über die
Eindrücke, die sie von zu Hause bewahrt hatte: "Die Haupttugenden, die
ich zu Hause üben sah, waren die Sonntagsheiligung und die Verachtung
der Welt." Ihre Schwester bezeugte, daß ihre Eltern täglich die
Frühmesse um 1/2 6 Uhr besuchten, vier- bis fünfmal in der Woche
kommunizierten und als Entspannung nichts anderes kannten, als fromme
Gespräche und erbauliche Lektüre.
Mit acht Jahren wurde Theresia - des Vaters Lieblingskind, die er seine
kleine Königin nannte - in das Pensionat der Benediktinerinnen von
Lisieux geschickt. Die zurückhaltende und empfindsame Kleine, die
bisher ohne Kontakt zu fremden Kindern in einer sanften Familie
aufgewachsen war, erlebte infolge vielfacher Demütigungen in dieser
Schule manch bittere Stunden, die nur dadurch ausgeglichen wurden, daß
sie jeden Abend in das Elternhaus zurückkehren durfte. Zehnjährig wurde
Theresia von einer rätselhaften Krankheit, die ihre Ursache im
angegriffenen Nervensystem hatte - und von manchen als Veitstanz
bezeichnet wurde -, heimgesucht. Während der Tage einer Novene zu Ehren
der Heiligen Mutter vom Siege, die für die Wiedergenesung abgehalten
wurde, sah Theresia, wie die in ihrem Zimmer befindliche Marienstatue
sich belebte und auf sie zuging. Das, was sie hierbei am meisten
fesselte, war der Mutter Gottes "entzückendes" Lächeln. Diese
Begebenheit ist von tiefer Bedeutung für die weitere Entfaltung der
kleinen Theresia und wird zum Schlüsselerlebnis zum Verständnis für
dieses Mädchen: das erste tiefere Erlebnis des Göttlichen bestand bei
ihr in einem Lächeln der Mutter Gottes, und ein Widerschein dieses
holdseligen Lächeln wich ihr ganzes übrige Leben auch nicht von ihrem
eigenen Antlitz.
1884 durfte sie die erste hl. Kommunion empfangen, und bald danach
wurde sie auch gefirmt. Während sie am Tage der Erstkommunion ein
großes Verlangen, Gott allein zu lieben, fühlte, erhielt sie am
Firmungstag die Kraft zu leiden. Vier Jahre, nachdem ihre Zweitälteste
Schwester Pauline, die ihr gegenüber Mutterpflichten übernommen hatte,
in das Karmeliterkloster zu Lisieux eingetreten war, entschloß sich
auch die älteste Schwester Maria, ihr nachzufolgen. Als Theresia davon
hörte, nahm sie sich vor, sich nicht mehr zu vergnügen, denn nach
Paulines Weggang war Maria ihre einzige Vertraute gewesen. Zu dieser
Zeit wurde sie von einer übermäßigen Empfindsamkeit und
Gewissensskrupeln gepeinigt. Zugleich entwickelten sich bei ihr auch
ein Wissensdrang und geistige Reife. Damals schon wurde die "Nachfolge
Christi" ihr Lieblingsbuch, welches sie immer bei sich trug.
Sie, die sich in keiner Periode ihrer Entwicklungsjahre von planlosen
egoistischen Wünschen beherrschen ließ, faßte mit vierzehn Jahren den
Entschluß, den geliebten älteren Schwestern ins Kloster nachzufolgen.
Der Vater stimmte, wenn auch schmerzlich berührt, zu. Onkel Guérin
verweigerte zunächst seine Zustimmung. Darum war Theresia besonders
überrascht, als er sie eines Tages tief ergriffen umarmte und sagte:
"Geh in Frieden, mein liebes Kind, Du bist eine kleine, vom Herrn
geliebte Blume. Er will Dich pflücken - ich werde mich nicht
widersetzen." Damit war allerdings noch nicht allzuviel gewonnen, denn
insbesondere der Superior des Karmel und auch der Bischof von Bayeux
lehnten den Eintritt eines erst vierzehn Jahre alten Mädchens ins
Kloster ab. Aber Theresia gab sich nicht geschlagen. Bereits vier Tage
später schloß sie sich mit ihrem Vater einem Pilgerzug nach Rom an, der
fast ausschließlich aus katholischen königstreuen Adeligen der
Normandie bestand. Kurze Zeit später stand sie - das einzige Mal in
ihrem Leben - einem der Großen dieser Welt gegenüber: Papst Leo XIII.,
der sie empfangen hatte und den sie um Dispenz bat. Es wurde eine
Audienz, welche gegen die sonst strengen Vorschriften der vatikanischen
Etikette verstieß, da Theresia den Heiligen Vater unmittelbar ansprach
und nach seinen wenig ermutigenden Worten: "Wohlan, Sie werden
eintreten, wenn es der liebe Gott will", mit Gewalt fortgeführt wurde,
weil sie sich nicht sogleich erheben wollte. Über diese Audienz
verfaßte Theresia einen Bericht, den sie folgendermaßen kommentierte:
"Seit einiger Zeit hatte ich mich dem Jesuskind als S p i e l z e u g
angeboten (...). Nun hat er mein Gebet erhört. In Rom durchbohrte Jesus
sein kleines Spielzeug. Zweifellos wollte er sehen, was darinnen sei".
("Geschichte einer Seele", S.lo5)
Am Neujahrstag 1888 erhielt Theresia ein Schreiben der Oberin des
Karmel, in dem sie ihr mitteilte, daß sie seit dem 28. Dezember, dem
Fest der Unschuldigen Kinder, im Besitze eines Briefes des Bischofs
sei, der den sofortigen Eintritt ins Kloster gestattete. Doch erst am
9. April - die Oberin erlaubte den Eintritt erst nach Ablauf der
Fastenzeit - begann der zweite Lebensabschnitt der Heiligen. Blättert
man in den Biographien heiliger oder heiligmäßiger Ordensfrauen
sämtlicher Zeiten, so ergibt sich immer dasselbe Bild: diejenigen,
welche unser Heiland mit besonderen Gnaden ausstattete, waren nie
solche, welche im Kloster Zuflucht vor der Welt suchten, etwa nach
einer unglücklichen oder verschmähten Liebe, oder diejenigen, welche
die verhätschelten Lieblinge waren, die allen alles recht machten. Das
Kloster wird immer zur Stätte besonderer Bewährung, und das Werkzeug
hierzu sind die in jeder Gemeinschaft anzutreffenden menschlichen
Schwächen, Fehler und Gebrechen. Schon von außen hatte das
Karmeliterkloster von Lisieux nichts Einladendes. Der trist anmutende
Gesamtkomplex, der aus der "stillosen" Zeit der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts stammte, erinnerte an die Mietskasernen, die
damals wie Pilze in den Städten aus dem Boden schössen.
Aufschlußreich ist auch die Gliederung der durchschnittlich 25
Klosterinsassen nach ihrer sozialen Herkunft: während die Priorin und
die Novizenmeisterin altem normannischem Adel entstammten, kamen die
übrigen, mit Ausnahme der drei Schwestern Martin, aus
Handwerkerfamilien und kleinbürgerlichen Verhältnissen. Naturgemäß
hängt das Wohl und Wehe eines Klosters vom Führungsstil der Oberin ab.
Theresias Priorin, Maria Gonzaga, eine vornehme Dame, war eine
Persönlichkeit von sehr zwiespältigen Charaktereigenschaften:
würdevoll, durch und durch Aristokratin, tief fromm, aber auch schroff
und rücksichtslos, bisweilen allerdings auch nicht minder großzügig.
Lassen wir Theresia erzählen, wie es ihr als Postulantin erging: "Vor
allem hatte ich nur bittere Trockenheit als tägliches Brot für meine
Seele. Dann ließ der Herr zu, daß unsere Mutter mich sehr streng
behandelte, oft ohne sich dessen selbst bewußt zu werden. Ich begegnete
ihr nie, ohne gerügt zuwerden. So erinnere ich mich, einmal ein
Spinnengewebe im Kreuzgang übersehen zu haben. Da sagte sie mir
angesichts der ganzen Klostergemeinde: 'Man sieht wohl, daß ein
fünfzehnjähriges Kind unseren Kreuzgang kehrt! Es ist ein Jammer!
Entfernen Sie doch sofort dieses Spinnengewebe und werden Sie künftig
sorgfältiger!' (...) Während der Dauer meines Postulates schickte mich
unsere Novizenmeisterin täglich um 4 1/2 Uhr nachmittags in den Garten,
Unkraut zu jäten. Das kostete mich viel, um so mehr, da ich fast sicher
sein konnte, Mutter Maria Gonzaga unterwegs zu begegnen. Bei einer
dieser Gelegenheiten sagte sie: 'Aber dieses Kind tut doch rein gar
nichts. Was soll man von einer Novizin halten, die man täglich
spazieren gehen lassen muß!" ("Geschichte einer Seele", S.114 f.) Wir
erfahren aber später, daß diese Oberin, mag sie auch noch soviele
Fehler und Schwächen besessen haben, fühlte, ja man kann sagen: wußte,
daß Theresia eine Begnadete war, die der Härte bedurfte, um zur Stufe
der Vollendung zu gelangen. So antwortete sie einmal, als man sie für
Theresia eines Leidens wegen um Dispens bat, eine Seele dieses Schlages
dürfe nicht wie ein Kind behandelt werden, Dispensen seien nichts für
sie. Man solle sie nur gehen lassen, denn Gott schütze sie. Zweifellos
sah Mutter Maria Gonzaga,genauso auch wie Theresias einziger Katechet,
der Abbé Dumaine, die Gefahren, denen die Fünfzehnjährige ausgesetzt
war, die von ihren Verwandten und insbesondere von ihrem Vater,
umschwärmt und angehimmelt wurde.
Am 10. Januar 1889 durfte Theresia das Ordensgewand anlegen, an welchem
Tage sie auch den Namen Theresia vom Kinde Jesu und vom hl. Antlitz
erhielt. Es ist Vorschrift bei den Karmelitern, den Ordensnamen mit
einem Zusatz zu versehen, der zur besonderen Betrachtung anregen soll.
Die Verehrung der Kindheit Jesu spielt in der Mystik dieses Ordens eine
bedeutende Rolle. Allerdings ist es in erster Linie nicht das
liebliche, oft ins Spielerische übergehende Bild von der Krippe,
sondern vielmehr der infolge seiner Menschwerdung den Demütigungen, den
Qualen und Unzulänglichkeiten ausgesetzte Gott-Mensch, der betrachtet
wird. Von größerer Bedeutung für die Ordensschwester Theresia war aber
der zweite Beiname, den sie sich zusätzlich von Mutter Maria Gonzaga
erbeten hatte. Den Anstoß für diesen Beinamen gab sicherlich die
Todeskrankheit ihres Vaters, der nach zwei Schlaganfällen gelähmt wurde
und schließlich geistig umnachtet starb - gleichsam in Erfüllung einer
prophetischen Vision, die Theresia als Kind gehabt hatte, als sie den
Vater gealtert, das Haupt mit einem Schleier bedeckt, entlang dem
Garten gehen sah. Aber darüber hinaus kreisten immer wieder ihre
Gedanken um den Schmerzensmann, wie Isaias von ihm weissagte: "Gestalt
und Schönheit hat er nicht". Und so wollte sie auch sein. So schrieb
sie am 18. Juli 189o ihrer Schwester Celine: "Sein Antlitz war wie
verhüllt. Ach, das ist es heute noch. Niemand sieht seine Tränen. (...)
'Öffne mir, meine Schwester, meine Braut', so spricht er zu uns, 'denn
mein Haupt ist von Tau benetzt, meine Locken sind durchnäßt von der
Feuchtigkeit der Nacht.' Ja, das ist's, was Jesus zu unserer Seele
spricht, wenn er verlassen und vergessen ist. (...) Vergessenheit -
mich dünkt, dies betrübt ihn am meisten. Und unser geliebter Vater!
Ach, mein Herz ist zerrissen. Wie aber sollten wir uns beklagen, da der
Herr selbst als ein Mann angesehen wurde, den Gott geschlagen und
gedemütigt hat?" (ibd., S.36o) 1893 wurde ihre Schwester Pauline
Priorin, Mutter Gonzaga Novizenmeisterin und sie ihre Stellvertreterin,
obzwar bei Einhalten der strengen Satzungen eine Zwanzigjährige hierfür
zu jung war. Da Maria Gonzaga ihrer ganzen Natur nach für ihre neue
Aufgabe nicht geeignet war, lag die Hauptverantwortung auf den
Schultern Theresias, die energisch und unnachsichtig gegen die Fehler
der ihr Anvertrauten vorging und auch vor Tadelsworten nicht
zurückschreckte, die sie allerdings nur mit großer Sanftmut aussprach.
Nebenbei arbeitete sie in ihrer Freizeit auch in der Sakristei und
sprang überall dort ein, wo es erforderlich war - meist handelte es
sich hierbei um die unangenehmsten Aufgaben, nämlich das
Zusammenarbeiten mit den unverträglichsten Mitschwestern. Niemals darf
aber vergessen werden, daß sie immer wieder von geistiger Trockenheit
gepeinigt wurde, die sich in den letzten zwei Jahren ihres Lebens zu
regelrechten Glaubensanfechtungen ausweitete, was um so erschütternder,
ja eigentlich unverständlich erscheint, da der Unglaube etwas war, was
außerhalb ihres Gesichtskreises lag.
Am Morgen des Karfreitags 1896 stellte sich Blutspucken ein, das erste
Anzeichen ihrer Krankheit, die zum Tode führen sollte. Sie schenkte
aber diesem Symptom keine Beachtung und praktizierte weiter die
strengen Bußübungen, ja sie rechnete sogar damit, daß ihr Wunsch in
Erfüllung gehen werde, in den Karmel von Hanoi - damals französisch
Indochina - versetzt zu werden. Aber die Schwindsucht, von der ihre
Mitschwestern erst im Mai 1897 erfuhren, verschlimmerte sich so
schnell, daß sie bereits im Juli ihre Zelle mit der Krankenabteilung
vertauschen mußte. Nach einem qualvollen Leiden starb Theresia am 3o.
September 1897. Ihre letzten Worte waren: "0, ich wollte nicht weniger
leiden...". Dann das Kruzifix anblickend: "0, ich liebe ihn... Mein
Gott, ich... liebe... dich!" Gleich nach ihrem Hinscheiden verklärte
süßes Lächeln ihr Antlitz. Zu ihren Lebzeiten war dieses sie immer
gleichsam verklärende Lächeln ein herbes Werkzeug der Buße, gleichsam
der Schleier, der alle die heldenmütigen Kämpfe, die sie zu durchleiden
hatte, verbarg.
Die Heilige hinterließ außer Gedichten, Briefen, Ratschlägen und
Erinnerungen ein Werk, welches diese kleine Ordensschwester, die zu
ihren Lebzeiten niemals in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit trat,
nach ihrem Tode berühmt machte: ihre Autobiographie "Geschichte einer
Seele". Diese gliedert sich in vier verschiedene Teile. Der erste, ein
Bericht über die Kindheit und die erste Zeit nach dem Eintritt in das
Kloster, wurde auf Wunsch der damaligen Priorin, ihrer Schwester
Pauline, verfaßt. Der zweite Abschnitt, der an die wiederum zur Oberin
gewählten Schwester Maria Gonzaga gerichtet ist, besteht aus
Betrachtungen mit reichlichen Zitaten aus der Hl. Schrift, die sie von
ihrem Elternhaus her gar nicht kannte, was in gut katholischen Häusern
des vorigen Jahrhunderts gar nicht selten vorkam. Die tiefen
Bekenntnisse, die in diesem Kapitel enthalten sind, beweisen, daß sich
im Laufe weniger Jahre zwischen den beiden Frauen ein vertrautes
Verhältnis entwickelt hatte. Der dritte, verhältnismäßig kurze
Abschnitt ist an Theresias älteste Schwester Maria gerichtet. Hierin
verkündet sie auch ihre eigentliche Berufung: "0 Jesus, deine Braut,
Karmeliterin und durch meine Vereinigung mit dir, Mutter der Seelen zu
sein, das alles sollte mir genügen. Ich fühle jedoch noch andere Berufe
in mir. Den Beruf eines Kriegers, eines Priesters, eines Apostels,
eines Kirchenlehrers, eines Blutzeugen (...). Alle Werke, die den
größten Heldenmut erfordern, möchte ich vollbringen." (N.b. diese in
hymnischer Begeisterung geschriebenen Sätze müssen nun in der
Reform-'Kirche' herhalten, den Emanzen und den sie unterstützenden
Theologen als Beweis zu dienen, daß unsere Heilige eine Pionierin des
Frauenpriesterturns ist.)"Dieses Sehnen wurde nachgerade zu einer
wahren Marter. Da schlug ich eines Tages die Sendschreiben des hl.
Paulus auf. (...) Das 12. und 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes
fiel mir in die Augen. Ich las, daß nicht alle zugleich Apostel,
Propheten und Lehrer sein können, daß die Kirche sich aus
verschiedenartigen Gliedern zusammensetzt und daß das Auge nicht
zugleich die Hand sein kann. (...) Und nun erklärt der Apostel, daß
alle höheren Gaben nichts sind ohne die Liebe, daß die Nächstenliebe
der sicherste Weg ist, um zu Gott zu gehen. Ich hatte endlich Ruhe
gefunden."
In dem vorerwähnten, Mutter Maria Gonzaga gewidmeten Kapitel schrieb
Theresia: "Sie sehen, meine Mutter, ich bin eine ganz kleine Seele, die
dem lieben Gott nur ganz kleine Dinge darbringen kann". Jetzt erkannte
sie, daß Gott sie ausersehen hatte, vielen den "kleinen Weg" zu
verkünden: Demut zu üben und Blumen zu streuen, d.h. die meist
unscheinbaren Lasten des Alltags geduldig und mit Gottvertrauen zu
ertragen. Dieses Kapitel endet mit dem berühmten Satz: "Ich flehe dich
an, senke deinen Gottesblick auf viele kleinen Seelen nieder und
erwähle dir henieden eine Legion kleiner, deiner Liebe würdige Opfer!"
("Geschichte einer Seele", S.206 ff.)
Der von Theresias Mitschwestern verfaßte vierte Teil ist ein Bericht
über die letzte Zeit des irdischen Daseins der Heiligen. Erst
intensives Einfühlungsvermögen erschließt diese Schrift, die eine
eigenartige Mischung von Aussagen und Verschweigen ist.
Die Rose zählte zu den Lieblingsblumen unserer Heiligen. Noch während
ihrer letzten Krankheit umhüllte sie das Kruzifix, das auf ihrem Bett
lag, mit Rosenblättern. In diesen Tagen des furchtbaren Leidens
offenbarte sich ihr gleichsam ihre Aufgabe in der anderen Welt und sie
sagte: "ich gab Gott nie anderes als Liebe. Er wird mir diese Liebe
vergelten. Nach meinem Tode werde ich einen Rosenregen fallen lassen."
Lassen wir uns aber hierdurch nicht dazu verleiten, aus ihr eine
zuckersüße Rosenheilige zu machen, mag auch diese Sentimentalität,
welche der Geschäftsgeist nur allzubald geschickt auszunützen verstand,
sehr viel zu ihrer einmaligen weltweiten Popularität beigetragen haben.
Vielmehr zeigt ihre Haltung gegenüber der religiösen Praxis auf zwei
für die Religion sehr wichtigen Gebieten, wie sie trotz Demut und
Gehorsam mutig liebgewordenen Anschauungen widersprach: So setzte sie
sich für den häufigen Empfang der Eucharistie ein, wovon die noch vom
jansenistischen Geiste geprägte Oberin nichts wissen wollte. Manche
glauben, daß die berühmten Dekrete des hl. Pius X., welche zum häufigen
Empfang der Kommunion aufforderten und so der trostlosen Irrlehre des
Jansenismus den Todesstoß versetzten, auf die Fürbitte unserer Heiligen
zustandegekommen seien. Ebenso wollte sie die Verehrung der
Gottesmutter von Verniedlichungen und zu hochgeschraubtem Prunk
befreien. In welche Richtung ihre Vorstellungen gingen, zeigen Worte
wie: "Alle Predigten, die ich über Maria gehört habe, ließen mich kalt
(...) Damit eine Predigt über die seligste Jungfrau Frucht trägt, müßte
sie ihr wirkliches Leben aufzeigen, wie das Evangelium es durchblicken
läßt, nicht ein ausgedachtes (...). Man zeigt uns die seligste Jungfrau
unerreichbar, man müßte sie nachahmbar zeigen, verborgene Tugenden
übend (...). Man weiß ja ohnedies, daß die seligste Jungfrau die
Königin des Himmels und der Erde ist; aber sie ist mehr Mutter als
Königin.(...) Man muß so reden, daß die Menschen sie lieben können."
("Das verborgene Antlitz", S.317 ff.)
Schon bald nach dem Hinscheiden Theresias bekannten viele, von Dank
erfüllte Gläubige, auf ihre Fürsprache Gnaden erhalten zu haben. Die
erste, offiziell von der Kirche anerkannte Wunderheilung erfolgte 19o6.
Die Seligsprechung nahm Pius XI. 1923 vor. Im Heiligen Jahr 1925 sprach
er sie heilig. Und am Abend dieses 17. Mai erfolgte eine zusätzliche
Ehrung für die neue Heilige, welche unbeachtet von der Welt und
verkannt in ihrem Kloster Gottes- und Nächstenliebe mit besonderer
Tapferkeit übte: das erstemal seit der Säkularisation des
Kirchenstaates, also 55 Jahre dannach, erstrahlte die Peterskuppel im
Glänze einer festlichen Abendbeleuchtung.
Das Grab der hl. Theresia vom Kinde Jesu befindet sich im Karmel von Lisieux. Die Kirche feiert ihr Fest am 3. Oktober.
Benützte Literatur:
1. "Geschichte einer Seele", Autobiographie der hl. Theresia vom Kinde Jesu, Kirnach- Villingen 1936.
2. Görres, Ida Friederike: "Das verborgene Antlitz" Freiburg 1946.
3. Nigg, Walter: "Große Heilige" Zürich 1947.
4. "Vie des Saints": "Sainte Thérèse del'Enfant-Jesus" Paris 1952, Bd.lo, S.62 ff.
5. "Offensive gegen den Patriarchalismus" in: "DER FELS", Jan. 1988, S.6. |