§ 4. Die Gestaltwerdung der Kirche
im Medium einer besonderen Gefolgschaft
Es war notwendig, daß das einzig—eine Reich Gottes in seinem Kommen
eine individuell—konkrete Gestalt annehmen mußte, um zu einer Ek—klesia
zu werden, also nicht bloß zu irgend einem Gebilde unter den Menschen,
sondern vor allem zu einem bestimmten Gebilde inmitten der Menschen.
Darum lag die Gründung einer Kirche von Anfang an im Willen und in der
Absicht des göttlichen Menschensohnes. Von der Gründung der Kirche aber
ist in dem berühmten Text bei Mt 16, 18 überhaupt nicht die Rede, da es
sich bei der dortigen Verheißung um eine ganz andere Sache handelt,
abgesehen davon, daß auch Verheißung und Verwirklichung von etwas nicht
dasselbe sind. Uns aber interessiert vor allem anderen zuerst einmal
der Gründer und die Gründung des Reiches Gottes und der Kirche, die
sich in einem einschneidenden gesellschaftlichen Prozeß vollzog, der
(worauf wir bereits hinwiesen) die "geschlossene Gesellschaft" der
Juden in zwei feindliche Lager spaltete. Das theokratisch geprägte
Tempeljudentum beobachtete mit Argwohn, was sich da in seinem
'geistlichen' Herrschaftsbereich im Zuge einer 'religiösen Bewegung'
abspielte. Denn Christus "durchwanderte ganz Galiläa, lehrte in ihren
Synagogen, predigte das Evangelium vom Reiche und heilte jegliche
Krankheit und jegliches Gebrechen im Volke. Der Ruf von ihm ging über
ganz Syrien hin..." (wo die Hauptmacht der römischen Armee stationiert
war), und "es folgte ihm viel Volk aus Galiläa, aus der Dekapolis, aus
Jerusalem und von jenseits des Jordans" (Mt 4,23-25). M.a.W.: es war
eine "revolutio germana" im Gange, d.h. eine echte Re—volution oder
Umwälzung, ausgelöst durch den göttlichen Menschensohn. Und dies alles
fing in dem Augenblick an, als Christus "vernahm, daß Johannes (der
Täufer) verhaftet worden sei" (vom König Herodes), so daß Er sich
entschloß, Nazareth endgültig zu verlassen (Mt 4, 12 f.) und öffentlich
als Lehrer Israels und Prophet aufzutreten. Damit aber begann nicht
Sein 'erstes Wirken', sondern Sein erstes öffentliches Wirken, was
nicht dasselbe ist. Denn dafür mußte man im Besitz einer Vollmacht oder
Bevollmächtigung sein, die Christus nach Ansicht der 'Hochwürdigen
Herren' in Jerusalem gar nicht besaß. Man muß etwas von einer im
soziologischen Sinne hochexplosiven revolutionären 'Zeitbombe'
verstehen, um die Hl. Schrift und die "Frohbotschaft" nicht
mißzuverstehen, die im übrigen nichts Sentimentales oder 'religiös
Erbauliches' an sich hat. Wer kennt denn nicht die Töne aus "des
deutschen Spießers Wunderhorn"? Bereits Johannes der Täufer, Prophet
und Bußprediger in einer Person, hatte eine Menge Leute angezogen,
denen er 'Moral predigte' und die er zu bekehren suchte. Außerdem hatte
er, was typische für einen solchen Mann war, sog. "Jünger" um sich
versammelt, das heißt Schüler, die er in Sachen Religion und göttlicher
Offenbarung eingehender belehrte. Dieses Lehrer
(Lehrmeister)—Schüler—Verhältnis beruhte auf einer freiwilligen Basis,
so daß die Pharisäer und Schriftgelehrten keine Handhabe besaßen,
dagegen etwas zu unternehmen, obwohl ihnen das sicherlich nicht
gefallen haben wird. Denn wer läßt sich schon gerne mit "Natternbrut"
und anderen 'Freundlichkeiten' bezeichnen? Ein ähnliches 'loses
Jünger—Verhältnis' aber muß auch zu Christus bestanden haben, indes mit
dem Unterschied, daß er sich nicht immer nur an dem gleichen Ort
aufhielt. Denn Er "wanderte" bereits in Galiläa umher und sicherlich
nicht schweigsam oder stumm oder in sich gekehrt mit geschlossenen
Augen, da Er bereits wegen Seiner Lehrtätigkeit von netten Zeitgenossen
in Jerusalem angezeigt wurde und was die Pharisäer sehr verärgerte, da
Er ihnen auch räumlich zu nahe kam. Deshalb heißt es bei Johannes 4,
1-3: "Als nun der Herr erfuhr, die Pharisäer hätten vernommen, daß
Jesus mehr Jünger gewinne und mehr taufe als Johannes – obwohl Jesus
nicht taufte, sondern seine Jünger -, verließ er Judäa und zog wieder
weg nach Galiläa." Zu dieser Zeit jedoch war 'Seine Stunde eben noch
nicht gekommen'. Außerdem versteht es sich von selbst, daß das
Verhältnis zwischen den Johannes- und den Jesus—Jüngern nicht unbedingt
das beste gewesen ist, denn unter Menschen menschelt es, auch wenn sie
sehr fromm sind. Nur den hl. Johannes den Täufer kränkte es nicht, als
in einer heilgeschichtlichen Situation plötzlich zwei seiner Jünger von
ihm weg- und zu Christus übergingen; einer von den beiden war der
spätere Apostel Andreas. Und warum kränkte es ihn nicht? Nun, weil er
wußte, wer dieser "Jesus" war!
Ein weiterer, ganz erheblicher und wesentlicher Unterschied zwischen
den Johannes- und den Jesus-Jünger aber besteht darin, daß das echte
Jünger—sein der letzteren auf einer Berufung durch den göttlichen
Menschensohn beruhte, die auf Dauer angelegt war. Das liegt in der
Natur der Sache. Denn die Aufrichtung einer königlichen Herrschaft ist
schlechthin unmöglich ohne eine Gefolgschaft vieler in einem echten
Gefolgschaftsverhältnis, das im übrigen wie jedes Verhältnis dieser Art
Grade hat, die sich durch verliehene Befugnisse unterscheiden. Dies hat
mit der sog. "Apostelwahl" nicht das geringste zu tun. Und später
wählte dann Christus aus diesen Seinen Jüngern zunächst 72 Männer aus,
wofür es mehrere Gründe gibt (vermutliche auch einen symbolischen
Grund, nämlich jeweils 12 aus dem Rest von 6 Stämmen des "auserwählten
Volkes", denn die 12 Stämme existierten damals nicht mehr). Warum
wurden diese entscheidenden Dinge, ohne die die Gründung einer Kirche
gar nicht gedacht werden kann, seit urdenklichen Zeiten von
klerikalistischen Priestern immer verschwiegen oder bewußt
mißverstanden? Die Antwort darauf ist einfache, nämlich weil sie,
insbesondere wenn sie Bischöfe waren, ihr Machtstreben über die
Wahrheit stellten (ähnlich einiger von den Aposteln zu Lebzeiten
Christi). Dem Tempeljudentum und dem Hohen Rat war dieses eine
'religiöse Bewegung' tragende "Jüngerwesen" von Anfang an dermaßen
verhaßt, daß man sich schließlich zur Ermordung Christi entschloß: "Die
Hohenpriester und Schriftgelehrten suchten nach einer Möglichkeit,
Jesus ums Leben zu bringen; denn sie fürchteten das Volk" (Lk 22,2).
Religions- und rein machtpolitisch betrachtet war der Gedanke durchaus
richtig und auch erfolgsversprechend: man nehme einer Gefolgschaft
ihren Führer... und es ist vorbei mit einer 'religiösen Bewegung' im
Volke, die darauf angelegt war, die Geschlossenheit der jüdischen
Gesellschaft zu sprengen, wenn nicht überhaupt zu vernichten. Der
göttliche Menschensohn trat in dieser Welt nicht wie ein
"Friedensfürst" von dieser Welt auf! Davon steht nichts in der Hl.
Schrift. Im Gegenteil! Christus, der Herr, sandte Seine und von Ihm
belehrten Schüler—Jünger aus und befahl ihnen, das schon da—seiende
Reich Gottes zu verkünden; zugleich aber ermahnte Er sie als die zu
Seiner Gefolgschaft Berufenen: "Fürchte dich nicht, du Kleine Herde!
Denn es hat eurem Vater gefallen, euch das Reich zu geben" (Lk 12,32).
Es versteht sich jedoch von selbst, daß dies an harte Bedingungen und
Voraussetzungen geknüpft war und in keinerlei Hinsicht ein
Honigschlecken sein konnte. So war es schon damals und ist auch heute
nicht anders. Darum betet der orthodoxe Christ "Dein Reich komme" (zu
uns Menschen), d.h. er bittet in dem von Christus vorgeschriebenen
Gebet, daß es sich im ganzen Menschengeschlecht voll und endgültig
verwirklichen möge. Daraus aber folgt: nur ein echter Christ kann, da
er den göttlichen Menschensohn zum alleinigen Herrn hat, wahrhaft human
sein – nicht jedoch diejenigen, die auch heute noch schreien "Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit". 'Völker', die 'auf solche Signale hören',
sind gottlos und verfallen dann auch dem Glaubenswahn, Gott los
geworden zu sein.
Es ist und war immer schon offenkundig: nur über ein spezifisches und
besonderes Gefolgschafts—Verhältnis, das auf einer unmittelbaren
Berufung durch den göttlichen Menschen—sohn beruhte, vermittelte sich
die Gründung der und einer Kirche überhaupt und wobei sich diese
Berufung nicht auf alle Anhänger bezog, sondern nur auf viele aus
ihnen. Überflüssig aber wäre jetzt die Frage: auf wie viele? Denn das
kann niemand wissen, auch nicht der Teufel. Nur Christus hat dies
gewußt, so wie Er es auch gewußt hat, wer von den Berufenen seiner
Berufung wieder verlustig gehen wird. Darum ermahnte Christus Seine
Gefolgschaft und warnte sie zugleich: "Wenn jemand nicht in mir bleibt,
wird er hinausgeworfen..." (Joh 15,6): "Trefflich ist das Salz: wenn
aber sogar das Salz seine Kraft verliert, womit soll es gewürzt werden?
Weder für das Erdreich noch für den Dunghaufen ist es geeignet; sondern
man wirft es hinaus. Wer Ohren hat zu hören, der höre!" (Lk 14,34-35).
Es gibt freilich auch heutzutage zahlreiche vermeintlich "Begnadete",
die genau wissen, wer eine göttliche Berufung hat (natürlich zuerst sie
selbst) und wie Berufene aussehen bzw. auszusehen und sich auch zu
verhalten haben. Genau so schlimm aber sind diejenigen, die glauben,
zur Gefolgschaft Christi berufen zu sein, ohne eine solche Berufung
überhaupt zu besitzen. Im übrigen werden zur Gefolgschaft Christi unter
Seiner königlichen Herrschaft weder Kinder noch Spätpubertierende noch
ausgemachte Dummköpfe oder gar Schwachsinnige berufen, da diese dafür
gänzlich ungeeignet sind. Es blieb allerdings dem Klerus in seiner oft
unerträglichen Einbildung vorbehalten, sich a priori und allein für
berufen zu halten und auszugeben, obwohl man von der Gründung der
Kirche generell gar nichts wußte. (Die wenigen Ausnahmen, auf die man
manchmal traf, bestätigen hier nur die Regel.) Nicht zum "hl. Petrus",
sondern zu dem nach Macht lüsternen und großmäuligen Simon Bar Jona mit
Einschluß aller Apostel sagte Christus: "Simon, Simon, siehe (=begreife
das doch endlich!), der Satan hat verlangt, euch wie den Weizen zu
sieben" (Lk 22,31). Inzwischen jedoch scheint man nicht mehr zu wissen,
daß der "Fürst dieser Welt(zeit)" weder schläft noch schlafen kann,
sondern ständig Macht ausübt, insoweit Gott es zuläßt. Niemand aber
kann Gott vorschreiben, was er an physischen und moralischen Übeln
zulassen darf oder nicht darf. Darum sollte man auch niemals vergessen,
daß das größte und schauerlichste Übel, das dem Menschen wiederfährt
bzw. wiederfahren kann, nicht der relative zeitliche, sondern der
absolute "ewige Tod" ist. Dieser bezieht sich auf die nach dem
zeitlichen Tode wiederhergestellte Leib—Seele—Einheit des Menschen und
ist in dem Sinne ewig, daß er als ein außer—natürlicher
(praeternaturalis) Dauerzustand zwar einen Anfang, aber kein Ende hat.
Auch das läßt sich aus der göttlichen Offenbarung erschließen. Und
warum eigentlich hielten bis heute so viele, die sich Christen nennen,
auch jenes Wort Christi nicht wirklich für wahr: der Teufel "war ein
Menschenmörder von Anbeginn und steht nicht in der Wahrheit, weil in
ihm nicht Wahrheit ist. (...) Mir aber, der ich doch die Wahrheit rede,
glaubt ihr nicht. Wer von euch kann mir eine Sünde nachweisen? Wenn ich
Wahrheit verkünde (aussage), warum glaubt ihr mir nicht?" Joh
(8,44-46). Der absolut Wahrhaftige und Sündelose lügt nämlich nicht nur
nicht, sondern kann weder Unwahres reden noch lügen, da Er zu so etwas
völlig unfähig ist, weil Er "die Wahrheit (nicht bloß hat, sondern)
IST".
Es sollte somit, wie aus dem obigen hervorgeht, zunächst einmal eines
klar erkannt und festgehalten werden, nämlich: Berufung (durch den
göttlichen Menschen—sohn) und Gefolgschaft bzw. Berufung zum Zwecke
einer sich bildenden Gefolgschaft sind die ersten kirchegründenden
Realprinzipien. Darum war es auch ein großer Irrtum, die Kirche für
eine "Familie Jesu" zu halten, ja sogar als "die wahre Familie Jesu" zu
bezeichnen. Eine Familie besteht aus Vater, Mutter und Kind(ern), die
eine bestimmte und begrenzte gesellschaftliche Einheit bilden; daran
ändern auch eine Großfamilie oder ein Familienklan oder eine Sippschaft
nichts. Die Familie ist, soziologisch betrachtet, eine Art Gesellschaft
und die Ur—gesellschaft schlechthin, die zwar auf Dauer angelegt, aber
nur von relativer und sehr beschränkter Dauer ist. Familien und
Geschlechter überdauern nicht die Zeiten, sondern sterben bekanntlich
aus. Außerdem hat die Familie nichts vom Wesen einer Gefolgschaft an
sich, das auf Freiheit und Freiwilligkeit beruht. Im übrigen sind
Gefolgschaftsleute weder Nach- noch Mitläufer und haben zu ihrem Führer
auch keinen Leithammel, sondern einen Herrn, und zwar nur einen
einzigen, dem sie bedingungslos folgen. In diesem Zusammenhang aber
gilt: "Der Jünger steht nicht über dem Meister, und der Knecht nicht
über seinem Herrn. Es ist genug für den Jünger, daß er werde wie sein
Meister, und der Knecht wie sein Herr" (Mt 10,24-25). Dies allerdings
ist schwer genug! Dennoch aber hat es immer kraft Berufung Christi
echte Gefolgsleute gegeben, die, wenn auch nur approximativ, wurden wie
Ihr Meister und Herr. Eine "Familie Jesu" hat es nie gegeben, weder
eine kleine noch eine große. Darum korrigierte Christus höchst
ungehalten denjenigen, der sich schon damals in diesem Irrtum befand
und etwas Unwahres redete, indem Er sofort durch eine fundamentale
Unterscheidung klarstellte: " 'Wer ist meine Mutter und wer sind meine
Brüder?' (=Leute aus der Verwandtschaft) Und er streckte die Hand über
seine Jünger und sprach: 'Seht meine Mutter und meine Brüder!' " (Mt
12, 47-49). Weder die Mutter und der Nährvater Jesu noch die 'buckelige
Verwandtschaft' noch die Hochzeitsgesellschaft zu Kana gehörten zur
Gefolgschaft Christi; sie waren weder Jünger noch Apostel. Alle, die
von einer "Familie" oder auch "wahren Familie Jesu" redeten und
predigten, wußten in Wirklichkeit nichts mehr vom Sein und Wesen der
Kirche und verdummten dadurch die "Gläubigen", gleichgültig ob mit
Absicht oder aus theologischem Schwachsinn, denn die Auswirkungen waren
die gleichen. Und auch viele 'modernen' "Bischöfe" spielten dann die
klägliche Rolle eines lieben "pater familias", wenn sie ihre Schäflein
besichtigten. Die einen waren davon sehr erbaut, die anderen aber
sagten "qualis dominus, talis et servus" (auf gut deutsch: "Wie der
Herr, so´s Gescherr!").
Es waren schon lange die Perspektiven verschoben und verdunkelt worden,
so daß auch von der im soziologischen Sinne revolutionären Idee der
Kirche nicht mehr übriggeblieben war. Dabei hatte der göttliche
Menschensohn den Ihm Nachlaufenden und Mitläufern ganz entschieden und
deutlich genug gesagt: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und
Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern und sogar sein eigenes
Leben haßt, der kann mein Jünger nicht sein" (Lk 14,26). Dieses Wort
wird den hohen Herrn in Jerusalem sicherlich auch hinterbracht und von
ihnen in seiner revolutionären Bedeutung erfaßt worden sein. Darum sei
hier noch auf folgendes hingewiesen, damit man sich auch eine kleine
Vorstellung von dem machen kann, wie ein solches Wort, das die Familie
(hinsichtlich der Gründung einer Kirche) für bedeutungslos erklärte und
sogar die Familienbande angriff, gewirkt haben muß; denn der
'traditionelle' patriarchalische jüdische Familienvater war im wahrsten
Sinne des Wortes ein "Haustyrann" und ein Familienoberhaupt dergestalt,
daß er seine Söhne und Töchter sogar als sein Eigentum betrachtete und
dann auch dementsprechend verfuhr. Wehe, wer ihm nicht "untertan" war
und ihn nicht genügend "ehrte"! Wenn in einer gläubigen und
gesetzestreuen Familie Eintracht und Frieden herrschte, dann war das
ein Glücksfall, denn Söhne und Töchter hatten gegenüber ihren Eltern so
gut wie überhaupt keine Rechte, sondern immer nur Pflichten. (Das
Gleichnis vom "verlorenen Sohn" hat etwas ganz anders zur
Voraussetzung.) Fast alle frommen Leute, einschließlich der
christlichen Künstler, und besonders die weiblichen Religiosen machte
sich ein ganz falsches Bild und geradezu kindische Vorstellungen vom
Leben der "heiligen Familie" im kleinen Nazareth und in der dortigen
Gesellschaft seßhaft gewordener Juden. In nicht bloß einer Beziehung
war die Frage verständlich: "Kann denn von Nazareth etwas Gutes
kommen?" (Joh 1,46), das zudem noch in Galiläa lag, einem Gebiet, das
fast in einem so schlechten Rufe stand wie Samaria, das von
'anständigen Juden' gemieden wurde. – Die Kirche war und ist genau so
wenig eine "Familie Jesu" wie die 'christliche Familie' eine "Kirche im
Kleinen" ist; auch dieser komplette Unsinn wurde überall verbreitet und
salbungsvoll gepredigt. Was Wunder, daß auch die katholische Kirche von
innen heraus einem Zerstörungsprozeß ausgesetzt wurde und werden
konnte, ohne daß sich ein Widerstand regte. Der göttliche Menschensohn
erschien, bildlich gesprochen, im Raum der Kirche und sprach: "O du
ungläubiges und verkehrtes Geschlecht. Wie lange noch soll ich bei euch
sein und euch ertragen?" (Lk 9,41).
Die königliche Herrschaft Jesu Christi in dieser Welt konnte sich und
kann sich nur verwirklichen durche eine Berufung vieler in ein
Gefolgschaftsverhältnis, das Ihm entspricht, nicht jedoch dem eigenen
Gutdünken. Dann aber gilt grundsätzlich und von vornherein: "wehe aber
jenem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird; besser wäre
es jenem Menschen, wenn er nicht geboren wäre!" (Mk 14,21). Das heißt,
Verrat ist jederzeit möglich und mit Verrat ist immer zu rechnen.
Außerdem sollte man Verrat (proditio) nicht mit Treulosigkeit
(perfidia) verwechseln; denn im Verrat liegt der Vorsatz, einem Feinde
Tür und Tor zu öffnen; er bezieht sich nicht bloß auf den Verratenen.
Warum werden sogar einfache Worte Christi nicht verstanden und immer
nur so dahergeplappert? Es ist auch etwas ganz Natürliches, daß ein
königlicher Herrscher eine Gefolgschaft besitzt, die (nicht ihn selbst,
sondern) seine Herrschaft trägt. Diesbezüglich macht auch der göttliche
Menschensohn keine Ausnahme, da Er kein "König—ohne—Land" ist. Das
Königtum des Menschen ist ein menschliches Urphänomen, selbst wenn das
ganze Menschengeschlecht zu 99,99% aus "Sklavenseelen" bestehen würde.
Denn Gott er—schuf nicht den Menschen, damit unter den vielen
spezifisch verschiedenen Kreaturen auch ein "animal rationale" (ein
vernuftbegabtes Lebewesen) existiere und dann "Selbstverwirklichung"
betreibe oder seine Freiheit mißbrauche, sondern er er—schuf ihn "ad
imaginem et similitudinem Dei", zu seinem Bilde (nicht: Abbilde) und
'Gleichnis'. In der Mitte dieser Schöpfung aber steht der göttliche
Menschensohn, Mensch und Gott zugleich und unvermischt und
anbetungswürdig in beiden Beziehungen. Schon Isaias hatte prophezeit:
"Denn geboren wird uns ein Kind, ein Sohn uns geschenkt, auf dessen
Schulter die Herrschaft ruht. Man nennt ihn: Wunder—Rat, Gott—Held,
Ewiger—Vater, Frieden—Fürst" (9,5). Nicht erst seit heute, gestern oder
vorgestern hat auch diejenigen, die sich Christen nennen und einem
falschen Humanismus nachlaufen, ein großes Vergessen und eine
tiefgehende Blindheit ergriffen. Darum verstehen sie auch gar nicht das
für alle Zeiten gültige Wort Christi: "Feuer auf die Erde zu werfen,
bin ich gekommen, und wie sehr wünsche ich, daß es schon entzündet
wäre" (Lk 12,49) und dann auch brennen würde. Feuer jedoch ist nicht
bloß dazu da, um zu brennen, sondern auch um etwas zu verbrennen!
Nun aber trat im Zuge der durch Christus ins Leben gerufenen
Gefolgschaft einiges in Erscheinung, das nicht nur außergewöhnlich war,
sondern auch die Oberschicht der jüdischen Gesellschaft maßlos
verärgert hat. "Selig ist, wer an mir nicht Ärgernis nimmt" (Lk 7,23)!
Denn die Berufung zum Jünger—sein oder zur Gefolgschaft vollzog sich
ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf den moralischen Wert des
Einzelmenschen, so daß fast der Eindruck purer Willkür entstand.
Außerdem werden Volksgenossen Jesu Christi zu Gefolgsmännern berufen,
die typische Durchschnittsmenschen waren: ungebildet, aber
bildungsfähig, religiös, aber nicht besonders fromm, teils gläubig
teils ungläubig... nicht jedoch 'theologisch' hochgebildete und ebenso
nicht ausgesprochen dumme Menschen, auf die sich z.B. die Worte
beziehen: "Johannes (der Täufer) ist gekommen, aß und trank nicht, und
sie sagten: Er hat einen Dämon" (=er ist vom Teufel besessen und
dadurch "unrein"): jetzt aber "ist der Menschensohn gekommen, ißt und
trinkt, und sie sagen: Seht, dieser Mensch ist ein Fresser und
Weinsäufer, ein Freund der (verachtenswerten!) Zöllner und
(öffentlichen!) Sünder!" (=er ist moralisch nichts wert, ebenfalls
"unrein", und hat vielleicht auch einen Dämon) (Mt 11, 18-19). Und
schon die damaligen "Intellektuellen" verstanden genau so wenig wie die
Dummen den Sinn des nachfolgenden Satzes: "Aber die Weisheit (Christi)
rechtfertigte sich in ihren Werken." Nicht Christus, der Erlöser,
beruft und schafft sich eine Gefolgschaft, sondern Christus, der Herr
und königliche Herrscher, indem Er zudem noch beruft, wen Er will! Dies
wiederum kann sogar völlig außerhalb der natürlichen Ordnung, gegen
alle menschliche Erfahrung und ganz massiv geschehen, wofür es dann
auch ein einzigartiges Beispiel gibt: denn der von Haß triefende und an
einem Mord beteiligte Pharisäer aus dem Stamme Benjamin, Saulus, der
erste Christenverfoger 'von Amts wegen', mußte bei seiner Berufung zum
Apostel, damit ihm auch fühlbar wurde, auf welche Abwege er geraten
war, zuerst einmal vom Pferde geworfen und auch physisch blind gemacht
werden, um dann als Paulus "sehend" und schließlich heilig zu werden.
Als königlicher Herrscher und berufender Herr klopf Christus nicht
sanft an die Tür und lispelt 'Friede sei mit dir'! -Wir sagen es
deutlich, da wir unser Heil nicht auf Menschen setzen: wenn die Kirche,
wie klerikalistische Priester und Theologen schon seit sehr langer Zeit
verbreiteten, ihren Anfang mit der "Wahl der Apostel" genommen hätte,
dann wäre sie nie entstanden. Eine solche Auffassung war nichts anderes
als das geistlose Produkt aus einem leeren Rationalismus und primitiven
Naturalismus. Die Auswirkungen waren dementsprechend und führten dann
auch in einen Abgrund.
Die Berufung zur Gefolgschaft Christi (die man nicht mit der
religiös—moralischen "Nachfolge" verwechseln sollte) schließt ein
"sanftes Joch" aus. Denn sie impliziert ein schweres Joch, ohne daß
dieses jedoch ein bedrückendes und unerträgliches wäre. Dies beweist
bereites das harte und kompromißlose Wort des königlichen Herrn: "Wer
nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt,
der zerstreut" (Mt 12,30). Oder war Christus etwa ein naiver
philanthropischer sentimentaler Schwätzer, der die gesellschaftliche
Situation völlig verkannte, in der Er und seine Volksgenossen lebten?
Niemand machte sich über Ihn lustig. Im Gegenteil, man lästerte und
fürchtete Ihn und hielt Ihn sogar für einen raffinierten Demagogen, wie
die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer. (Ausnahmen
bestätigen nur die Regel.) Warum eigentlich leugnete und leugnet man,
insbesondere aber heutzutage, die Wahrheit, daß dieses Wort Christi ein
Freund—Feind—Verhältnis begründet? Man muß in seiner "Christlichkeit"
doch schon ziemlich degeneriert sein, um dies mit unverschämter
Dreistigkeit zu leugnen. Wir sprechen hier erst gar nicht von der
Qualität des Glaubens an die heil—samen Worte Christi in ihrer
zeitlosen Gültigkeit. Das von Christus Gemeinte und sich auch sonst im
öffentlichen Leben (in Staat und Gesellschaft) findende
Für—jemanden—sein hat nicht die Bedeutung einer subjektiven und
privaten Gesinnungs—Haltung, wie wenn man jemandem wohlgesinnt ist oder
sich ihm gegenüber wohlwollend verhält; vielmehr ist gemeint ein
aktives, tätiges und rückhaltloses Mit—sein eines Berufenen in einem
Gefolgschaftsverhältnis, so daß, wenn sich das Für—Ihn-–sein nicht
aktualisiert, sich das Mit—sein sofort in ein feindseliges
Gegen—Ihn—sein verwandelt, d.h. in Feindschaft umschlägt, die im
übrigen viele Gesichter hat. Als Simon Petrus einmal den Versuch
machte, Christus von Seinem Wege abzubringen, da bezeichnete Er ihn als
einen "Satan", d.h. als einen momentanen Gefolgschaftsmann des
personalen Bösen. Deshalb sollte man auch nicht übersehen, daß ein
Gegen—Christus—sein zugleich und immer ein Für—jemanden—sein bedeutet,
der ein Feind Christi ist; und so findet sich dann auch bald zusammen
in einer heil—losen "Sammlungsbewegung" das Gesindel der "Kinder der
Finsternis", die den Teufel zu ihrem geistigen 'Nährvater' haben. Auch
der "Fürst dieser Welt(zeit)"hat seine Jünger, Apostel, Nach- und
Mitläufer; er imitiert sogar die Gründung der Kirche durch Produktion
kirchenähnlicher Gebilde, großer und kleiner, um letztendlich zu einer
einheitlichen "Synagoge Satans" zu gelangen und weltweit kultisch
angebetet zu werden.
Niemand vom gebildeten Tempeljudentum verstand, was Christus meinte,
als Er sagte: "Ich nehme nicht (wie ihr, die ihr das Gesetz verletzt
und mißbraucht!) Ehre von den Menschen entgegen; aber von euch weiß
ich, daß ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt (also Gott haßt). Ich
bin gekommen im Namen meines Vaters; aber ihr nehmt mich nicht an; wenn
(aber) ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr
annehmen"! (Joh 5,41-43). Diese Juden waren überhaupt nicht mehr in ein
Gefolgschaftsverhältnis zu Christus berufbar und schlimmer noch als die
Heiden. Viele Worte Christi sind nur dann richtig zu verstehen, wenn
man auch die vorgegebene konkrete Situation beachtet, in der sie
gesprochen wurden und an welche Leute sie dabei gerichtet waren. Die
jüdische Gesellschaft war trotz aller Klassengegensätze eine
geschlossene und streng reglementierte. Dies lag in der Natur der Sache
eines theokratischen Systems, das als eine Volksreligion zugleich
anziehend und abstoßend wirkte. Der einzelne fromme Jude aber war zu
einem servilen Menschen degradiert worden und stöhnte unter der Last
eines pervertierten Zeremonialgesetzes mit seinen absurden
Vorschriften. Von diesem Hintergrund her versteht man leicht jenen
Hinweis: "Der Sohn Gottes aber ist dazu erschienen, daß er die Werke
des Teufels vernichte" (1 Joh 3,8), denn dieser hatte ja auch seine
'Gefolgschaft', damals wie heute. Nach seinem öffentlichen Auftreten
wirkte der göttliche Menschensohn 'in Wort und Werk', d.h. kraft Seiner
heilsvermittelnden Worte und Taten, wie ein Befreier. Aber Er versprach
niemandem Freiheit, sondern sagte klar und deutlich zu den von Ihm
Berufenen und an Ihn Glaubenden: "Wenn ihr in meinem Worte verbleibt,
werdet ihr wahrhaft meine Jünger sein; ihr werdet die Wahrheit
erkennen, und (nur) die Wahrheit wird euch freimachen" (Joh 8,31-32).
In der Tat, 'wenn das liebe Wenn nicht wär'...dann gäbe es vielleicht
die totale Emanzipation in einem Paradies auf Erden, eine Freiheit des
Menschen von und zu allem, wovon so manche träumen. Das tatsächliche
Verbleiben im Worte Christi und in Ihm aber setzt voraus eine
rückhaltlose Unterwerfung und ein Sich—beugen unter die erkannte
göttliche Wahrheit im Denken und im Tun, was überhaupt kein "sanftes
Joch" ist. Dies lehrt schon die Erfahrung, wenn man sich sozusagen 'mit
Christus einläßt' und sich nicht ein lächerliches Phantasiebild von
irgend einem "guten Hirten" oder "lieben Jesus" vorgaukelt. Tragbar und
ertragbar indes wird diese Joch allerdings nur durch eine spezifische
Christus—Gnade, die Christus, der Herr, gewährt, und zwar nicht aus
Mitleid (compassio) oder aus Barmherzigkeit (misericordia), sondern
allein aus Wohlwollen (benevolentia). Deshalb kann man diese Gnade auch
wieder verlieren und dies schneller, als man glaubt. "Selig, die
Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen; denn ihrer ist das
Himmelreich" (Mt 5,10)! Gerechtigkeit ohne Wahrheit aber gibt es nicht,
weder im natürlichen noch im übernatürlichen Lebensbereich des Menschen.
Zudem verursachte das öffentliche Auftreten Christi als Lehrer Israels
und Prophet im jüdischen Volke eine 'religiöse Bewegung', die sogar
Heiden miteinbezog (jeder Nichtbeschnittene galt bei den alten Juden
als Heide) und überhaupt nicht in das Konzept derjenigen paßte, welche
die Macht in den Händen hatten und Gerichtsbarkeit ausübten. Die Sache
'lief gegen sie', beunruhigte ihre Gemüter und flößte ihnen Furcht ein.
So verhält es sich nun einmal bei allen "Volksbewegungen"
re—volutionären (um—wälzenden) Charakters. Darum sah sich Christus
veranlaßt, diesen "Theokraten", deren Hochmut und Ehrsucht bekannt war,
ins Stammbuch zu schreiben und öffentlich klarzustellen: "Meint (doch)
nicht, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben.
Ich bin nicht gekommen aufzuheben, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich,
sich sage euch: Bis der Himmel (=das Firmament) und die Erde vergehen,
wird nicht ein Jota oder ein Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles
geschieht" (Mt 5,17-18). Nun aber blieb es nicht bei einer religiösen
Bewegung oder bei einem religiösen Aufbruch 'zu neuen Ufern' (new
frontiers), ganz abgesehen davon, daß solche Bewegungen und Aufbrüche
sich bald wieder abnutzen und erschöpfen, da sie nie von der ganzen
Gesellschaft in einem wie auch immer gearteten öffentlichen Gemeinwesen
(res publica) getragen werden. Man muß sich das, was sich damals in der
jüdischen Bevölkerung ereignete und abspielte, einmal realistisch vor
Augen stellen und den 'Ernst der Lage' erfassen. Denn alle diejenigen,
die in ihren Überlegungen glaubten oder hofften, Christus sei ein neuer
religiöser Volks—führer bzw. Volks—verführer, befanden sich in einem
fundamentalen Irrtum. Irrtümer im Denken und im Glauben aber erzeugen
zwangsläufig ein falsches Tun und Sichverhalten, was sich hernach
verheerend auswirkt, insbesondere im religiösen Bereich, da die
Religion den ganzen Menschen 'vereinnahmt', gleichgültig ob es sich
dabei um eine wahre oder falsche (unwahre) handelt. (Es gibt keinen
religionslosen Menschen, wohl aber gottlose Individuen im moralischen
Sinne.) Dies alles sollte bedacht werden, um zu verstehen, warum selbst
dieser Irrtum die Gründung einer Ek—klesia. die doch ein spezifisches
Gesellschafts—Gebilde religiöser Natur ist, dennoch nicht vereiteln
konnte. Man unterschätzt die damalige religiöse Bewegung im jüdischen
Volke oder tut so. als habe es sie gar nicht gegeben (wie leider auch
Henri Daniel—Rops). Dann aber wird der wachsende Haß und die sich
zuspitzende Feindseligkeit des Tempeljudentums gegen Christus und Seine
zunehmende Anhängerschaft überhaupt nicht mehr verständlich. Im übrigen
sagte es doch Christus selbst in aller Öffentlichkeit, daß man darauf
aus war, Ihn zu töten, ja Ihn und Sein Werk zu vernichten. Oder will
man auch das nicht mehr wahr haben? Im Hohen Rat in Jerusalem ballte
sich die Wut zusammen.
Christus nahm diese durch Ihn ausgelöste 'religiöse Bewegung' auf
(Christus war kein "Religionsstifter"!), indem Er ihr zugleich ein
individuell—konkretes Ziel auf Ihn hin gab, und griff dann tief und
kompromißlos in ein traditionelles Gesellschaftsgefüge ein, angefangen
bei der Familie, dem tragenden Grund und Kernstück eines jeden
Gesellschafs—Ganzen. Dieser Eingriff kam fast einer Zerstörung gleich
und hat dann auch viel 'böses Blut' hervorgerufen und tiefgreifende
Spaltungen verursacht. Es "wandelte" kein leutseliger Mann und frommer
Enthusiast aus Nazareth in der Gegend umher, um armen Leuten eine neue
Hoffnung auf ein besseres Leben einzuflößen oder um seinen
Volksgenossen eine allgemeine Menschenliebe an's Herz zu legen, damit
sie in den Himmel kommen. Vielmehr sagte der göttliche Menschensohn
Dinge aus, die vielen aber auch restlos 'gegen den Strich gingen' und
die sie gar nicht hören wollten, z.B.: "Wer Vater und Mutter mehr liebt
als mich, ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt
als mich, ist meiner nicht wert", was nicht bloß die 'Gebildeten'
sicherlich für Hochmut gehalten haben werden; oder: "Glaubet nicht, daß
ich gekommen bin, Frieden auf die Erde zu bringe; ich bin nicht
gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. – Denn ich bin
gekommen, den Menschen 'zu entzweien mit seinem Vater, die Tochter mit
ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und
des Menschen Feinde werden seine Hausgenossen sein' (Mich 7,6)" (Mt
10,34-37). Dies ging sogar über die Familie hinaus und stellte die
ganze individuell—konkrete Lebenslage von Menschen in Frage. Wenn man
nicht wüßte, wer so etwas 'gepredigt' hat, dann könnte man diesen
"Jesus" für einen demagogischen Sozialrevolutionär halten, ja sogar für
einen verrückt gewordenen Juden, der einem religiösen Wahnsinn
verfallen war. Wie aber paßten dann solche offensichtlichen
"Gewalt—Lehren" wieder zusammen mit der freundlichen Einladung; "Kommt
zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch
erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin
sanftmütig und demütig von Herzen, und ihr werdet Erquickung finden für
eure Seelen; denn mein Joch ist sanft und meine Bürde ist leicht" (Mt
11,28-30)? Wenn solche Lehren in ihrer Bedeutung von vielen verstanden
und wirklich angenommen werden, dann müssen sie eine "geschlossene
Gesellschaft" religiöser Natur sprengen. Auch der Hohepriester Kaiphas
hatte dies auf seine Weise begriffen, als er in einer einberufenen
Ratsversammlung zu den Pharisäern sagte: "Ihr wißt nichts", d.h. ihr
begreift die schon eingetretene Situation in ihrer Gefährlichkeit
nicht, "und bedenkt nicht, daß es besser für euch ist, daß ein einziger
Mensch für das Volk stirbt, als daß das ganze Volk zugrunde geht" (Joh
11, 49-50). Anderseits war sich Kaiphas gar nicht bewußt, was er damit
zudem noch aussagte. Furcht und Verwirrung hatten auch im Hohen Rat um
sich gegriffen. So aber ist es immer, wenn blanker Haß und Mordgedanken
den menschlichen Geist verfinstern. Es läßt sich jedoch eine im Volk
und Gesellschaft aufgebrochene 'religiöse Bewegung' niemals durch die
Ermordung ihres "Anführers" aus der Welt schaffen, sondern nur
unterdrücken, aber ohne es verhindern zu können, daß sie im
"Untergrund" weiter lebt. Und außerdem konnte man ja auch nicht alle
"Jünger" umbringen oder in Kerkern verschwinden lassen. Es besagt gar
nichts, daß von ihnen am blutigen Karfreitag in Jerusalem nichts zu
sehen und zu hören war. |