Leser fragen
Frage:
Es gibt seltsame und verwirrende Ideen, die als katholisch unter denen
verbreitet werden, die von sich behaupten, den Modernismus zu
verurteilen. Es gibt Kreise, die sagen, Johannes Paul II. sei nur
"materialiter", nicht aber "formaliter" Papst. Kann man eine solche
Disjunktion realiter überhaupt aufrecht erhalten oder ist dies nicht
eher ein Beispiel, um mit einem "Deus ex machina" zu operieren?
F. L. aus Sun City, Arizona
Antwort:
Für jene Leser, welche mit dem lateinischen Ausdruck "Deus ex machina"
nichts anfangen können, hier zunächst einmal eine kurze Erläuterung:
"Deus ex machina" heißt wörtlich: "ein Gott aus der Maschine". Man
bezeichnet damit eine Person (oder ein Ding), welche(s) man künstlich
einführt, z.B. in eine Geschichte, um eine Schwierigkeit zu lösen (die
normalerweise unlösbar wäre, Anm.d.Red.) Wenn der Unterschied zwischen
"materialiter" und "formaliter" korrekt verstanden und richtig
angewandt wird, erscheint es klar, daß das, was die Verfechter solcher
Ideen tun - bewußt oder unbewußt - die Einführung einer künstlichen
Unterscheidung allein zum Zwecke der Lösung von gewissen
Schwierigkeiten ist. Die Unterscheidung ist illegitim, sie ist in der
Tat absurd. Viele Leute sind nicht mit der philosophischen Terminologie
vertraut. Auch diejenigen, welche mit einer solchen Terminologie
vertraut sein sollten, verwirren sich oft selbst in ihrem Eifer,
Schwierigkeiten zu lösen, deren Konsequenzen sie vermeiden wollen.
Die Termini "Materie" und "Form" sind der Ontologie entnommen. Wenn
z.B. ein konkretes Wesen eine Änderung erleidet, liegt dem immer eine
potentielle Realität zugrunde, in welcher die Änderung stattfindet.
Diese zugrunde liegende Realität wird Materie genannt. Die Vollendung
oder Wirklichkeit, die entweder gewonnen oder verloren wird, heißt
Form. Die stattfindende Änderung endet immer für die Realität in einem
neuen positiven Zustand ihrer Existenz bzw. Soseins, denn es ist jetzt
etwas, was es vorher nicht war. Die Änderung ist der Übergang von der
Möglichkeit zur Wirklichkeit. Das Prinzip der Änderung legt dar, daß
"alles, was sich ändert, durch ein anderes verändert wird."
Außerdem hat derselbe Grundsatz der Änderung diesen genauen Sinn: Kein
Geschöpf ist imstande, sich selbst von der aufnahmefähigen Möglichkeit
zur Verwirklichung derselben zu führen. Mit "Wirklichkeit" ist jede
Wesenheit gemeint, die ein Ding in seinem Sein bestimmt oder vollendet.
Beispiel: Ein Kardinal, der nur die Möglichkeit, Papst zu werden,
besitzt, wird im Falle seiner Wahl von der Möglichkeit in die
Wirklichkeit überführt. Seine Wahl mittels der anderen Kardinale hatte
ihn verändert und ihn in seinem Sein bestimmt und vollendet. Nichts
geht über von der aufnahmefähigen Möglichkeit zur Verwirklichung außer
mittels Einflusses durch ein anderes Wesen, das bereits in Tätigkeit
ist. Dies trifft auch zu im Falle einer Papstwahl, wobei die
Verwirklichung dadurch herbeigeführt wird, daß sich der Heilige Geist
der Mitwirkung von Menschen (Kardinalen) bedient, um einen Mann von
einer Sache (dem Dasein eines Kardinals) zu einer anderen (dem Dasein
als Papst) zu überführen. Die Kardinäle 'machen' keinen Papst. Der
Heilige Geist tut dies. Und so ist das Prinzip der Änderung wahr: Da
Gott reiner Akt ist, so ist es Gott, der in diesem Fall eine
Möglichkeit in eine Wirklichkeit überführt. Kein Mensch vermag einem
anderen das Charisma der Unfehlbarkeit zu verleihen.
Was ist "Materie"? Materie ist die potentielle Wirklichkeit zum
Verändern. Materie ist indifferent. Sie existiert nicht ohne Form, weil
sie die Empfangs-Basis oder Grundlage ist, die von der bloßen
Möglichkeit zur Wirklichkeit übergeht. Sie ist passiv. Sie empfängt
etwas, die Form, die sie verändert und zum wirklichen Sein erhebt.
Materie kann realiter nicht ohne Form sein. Form und Materie kommen
immer nur an- und miteinander vor. Wie gesagt: Materie ist passiv; sie
empfängt die Form, und die Form ist es, die sie zu dem macht, was sie
ist. Wenn wir nun diese Wahrheit wieder auf unser Beispiel aus dem
kirchlichen Bereich anwenden, wie eben die Wahl eines Papstes, so sehen
wir, daß ein Kardinal als die "Materie", die fähig ist, eine (neue)
"Form" zu empfangen, angesehen werden kann (durch die Wahl zum Papst
und mit der diesem Amt eigenen Vollmacht).
Die "Materie" ist bestimmbar: Der Kardinal ist bestimmbar - er kann das
Amt des Papstes erlangen. Es ist die Form, mittels welcher die Materie
(Kardinal) umgewandelt wird in ein neues Wesen und zu dem gemacht
wurde, was sie nun ist (Papst). Zu sagen, daß ein Papst ein Papst
"materialiter" sein kann, während er es nicht auch "formaliter" ist,
ist in sich absurd. Es kann unmöglich ein solches Ding wie einen Papst
"materialiter" geben, denn es muß die Form, die präzise einen Papst
bildet, gegenwärtig sein. Ist die Form abwesend, gibt es keinen
wirklichen Papst (...).
Die Auffassung, die versucht zu teilen, was nicht zu teilen ist, wurde
zum erstenmal von dem inzwischen verstorbenen Dominikaner, Mgr. Guerard
des Lauriers O.P. verbreitet. Sie ist das Resultat falscher Logik und
falschen Verstehens metaphysischer Prinzipien. Sie ist in letzter
Zergliederung ein Leugnen der ersten Prinzipien der wahren Vernunft.
Ein Ding ist oder ist nicht. Ein Ding kann nicht zu gleicher Zeit sein
und nicht sein. Entweder ist ein Papst ein Papst, oder er ist es nicht.
Es ist die Form, die ihn zum Papste macht. Besitzt er nicht die Form
des Papstes - wie uns diese Meinung glauben machen will - dann ist er
eben kein Papst. Jeder Katholik männlichen Geschlechtes besitzt die
Möglichkeit, Papst zu werden. Daß nicht jeder männliche Katholik Papst
ist, beruht auf der Tatsache, daß er nicht die Form dessen, was einen
Papst ausmacht, erhielt.
Jeder römisch-katholische Kardinal, der kraft des kirchlichen Gesetzes
die Papstwahl leitet, ist ein Papst "materialiter", denn er hat die
Möglichkeit, für das Papstamt erwählt werden zu können. Er ist ein
"möglicher" Papst. Dieser "mögliche" Papst wird nur dann ein "formaler"
Papst, ein wirklicher Papst, mit all dem, was diese Wahl einschließt,
wenn er tatsächlich gewählt wird und der Heilige Geist ihm das gibt,
was zum Amt eines Papstes wesentlich ist. Daher verlieren diejenigen,
welche gerne Johannes Paul II. als einen Papst "materialiter", aber
nicht "formaliter" ansehen möchten, die Sicht auf die grundlegendsten
metaphysischen Wahrheiten (...).
Und die Konsequenz? Wenn ein Mann nicht ein Papst "formaliter" ist, so
ist er überhaupt kein wirklicher Papst. Diejenigen, welche solche Ideen
vorlegen, besitzen zwei Alternativen: entweder begründen sie, weshalb
sie den derzeitigen Okkupanten von Petri Stuhl als Nicht-Papst ansehen,
oder, wenn sie diesen Okkupanten als wirklichen Papst anerkennen, aber
sind sie verpflichtet, sich seinen Lehren und disziplinären Anordnungen
zu unterwerfen. Mit einem Wort, sie müssen entweder seine Autorität
anerkennen oder sie verwerfen. Beide Wege gleichzeitig aufrecht zu
erhalten, ist nicht möglich. Es mag hinzugefügt werden, daß die
Lefebvreisten fortfahren, genau mit dieser ontologischen Wahrheit zu
spielen, den auch sie sind gezwungen, einen "Deus ex machina" zu
verwenden.
Aus: THE SERAPH, April 199o, übers, von Eugen Golla
Anmerkung der Redaktion:
Auch wenn die terminologische Widerlegung das Problems eines
"materialiter"-Papst/"formaliter"-Nicht-Papst nicht ganz löst - Mgr.
Guerard des Lauriers meinte einen etwas anderen Sachverhalt, so ist
doch zumindest nachgewiesen, daß die Terminologie des Dominikaners
ungenau bzw. auf den Sachverhalt, den er meint, nicht anwendbar ist.
Ich bitte die Leser gegebenenfalls um Stellungnahmen. Denn es ist so,
daß dieses 'Gespenst' vom Papst/Nicht-Papst immer noch in einer ganzen
Reihe von Köpfen spukt, was derart gravierend ist, daß z.B. ein
gemeinsames Handeln mit Mgr. McKenna nicht möglich ist: er wartet, wie
das auch Mgr. Guerard des Lauriers tat, auf die Bekehrung seines
"materialiter"-Papst... ich habe dieses Warten schon früher einmal mit
Beckets "Warten auf Godo" verglichen, ein absurdes Warten, das nie
erfüllt werden kann.
E. Heller
P.S. In einem der nächsten Hefte werden wir die These von dem
inzwischen verstorbenen Mgr. Guerard des Lauriers in der Darstellung
von Mgr. McKenna abdrucken und kommentieren, um so zu Durchklärung
dieser strittigen Position beizutragen.
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