"Den Keuchenden auf den Straßen und auf Flüssen"
- Franz Werfel und die armenische Tragödie -
eine Erinnerung an den Genozid vor 90 Jahren
von
Magdalena S. Gmehling
Vor 60 Jahren am 26. August 1945 verstarb Franz Werfel
fünfundfünfzigjährig in Beverley Hills (Kalif.). Er hinterließ ein
umfangreiches Werk, das über Völker -und Klassenkampf hinweg von tiefer
Menschenliebe zeugt. Dem in Prag geborenen Juden Werfel gelingt es, in
seinen Romanen, im Schutt und Unrat einer heillosen Zeit fündig zu
werden und Glanz und Elend christlich-jüdischer Glaubenswelten
aufscheinen zu lassen. Werfel ist einer jener wenigen Literaten und
Pazifisten, der die Öffentlichkeit für die Katastrophe der Armenier
sensibilisierte. Wie kam es zur Berührung mit diesem Thema?
Am 8. Juli 1929 heiratet der Dichter Alma Mahler-Gropius. Im gleichen
Jahr tritt er mit seiner Frau eine Reise nach Ägypten und Palästina an.
Beide besuchen den Libanon, Syrien und Damaskus. Dort hat der Dichter
in der größten Teppichfabrik ein Schlüsselerlebnis. "Der Besitzer
erschien und übernahm die Führung durch sein riesiges Etablissement.
Wir gingen die Webstühle entlang und überall fielen uns ausgehungerte
Kinder auf mit bleichen El-Greco Gesichtern und übergroßen dunklen
Augen." Werfel frug den Besitzer, was das für merkwürdige Kinder seien.
Er antwortete: "Ach, diese armen Geschöpfe, die klaube ich auf der
Straße auf ...Es sind die Kinder der von den Türken erschlagenen
Armenier...".
Werfel versuchte sofort überlebende Erwachsene ausfindig zu machen und
Notizen zu fertigen. Seine Recherchen waren allerdings nur deswegen
möglich, weil sie in einer Gegend stattfanden, die zur französisch
kontrollierten Republik von Adana gehörte. Noch während der Reise
skizzierte er eine Romanidee. Es gelang ihm, über den Gesandten Graf
Clauzel alle Protokolle der türkischen Greuel aus dem Pariser
Kriegsministerium zu erhalten. So entstand von 1932 bis 1933 die fast
tausendseitige Romantrilogie "Die vierzig Tage des Musa Dagh", eine
ergreifende Schilderung des heldenhaften Armenierkampfes gegen die
jung-türkische Ausrottungspolitik.
Der Roman wurde 1935 von den Nationalsozialisten auf ein Gesuch der
türkischen Regierung hin verboten. Hitler soll zu Beginn des Krieges
gegen Polen am 22. August 1939 vor den obersten Wehrmachtchefs auf dem
Obersalzberg folgende verräterischen Sätze über seine wahren Absichten
und Zukunftspläne geäußert haben: "Dschingis Chan hat Millionen von
Frauen und Kindern in den Tod gejagt. Wer redet heute noch von der
Vernichtung der Armenier?" Hatte er die Taktik der SS-ähnlichen
Spezialorganisation Teskilat-i Mahsusa studiert? Kannte er den Namen
des Todeslagers Deir-es-Zor, des armenischen Auschwitz?
2004 forderte der Sprecher des Armenischen Zentralrates Minas Awakian
vor dem Beginn der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei, eine
erneute Aussprache über den Genozid. Auch in Frankreich verlangte
Außenminister Michel Barnier, "die Türkei sollte mit ihrer
Vergangenheit ins reine kommen". Deutschland nimmt bisher eine
zwiespältige Haltung ein.
Heute noch wird die Frage gestellt, ob der Eintritt der Türkei in den
Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands nicht mit der Absicht zum
Völkermord gekoppelt war. Kaiser Willheim II., ein erklärter Freund der
Osmanen, stellte sich allen Greuelberichten gegenüber taub. Die Türken
galten als wichtigster Bündnispartner gegen die Russen. Hunderte
deutscher Offiziere standen als Militärausbilder in türkischen
Diensten. Wolfgang Gust nennt in seinem Werk "Der Völkermord an den
Armeniern" eine Vielzahl schwer belasteter deutscher Namen.
Um den historischen Hintergrund von Werfels reifstem Erzählwerk und die
religiös-nationale Tragik der Verfolgten zu begreifen, ist ein Blick
auf die armenische Geschichte unerlässlich. Die hoch-begabten Armenier,
ältestes Christenvolk der Welt, hatten Jahrhunderte lang stärkstem
Assimilierungsdruck standgehalten. Das Gebirgsland im nördlichen
Vorderasien gehörte teils zu Persien und Kleinasien, teils zur Türkei,
teils zu Russland. Seit dem 6. Jahrhundert gibt es die monophysitische
armenische Kirche (Gregorianer), daneben die katholischen Unierten
Armenier. Das Land wurde immer wieder von Usurpatoren heimgesucht.
Teilweise kam es zu verwickelten politischen Verhältnissen. Nach der
Eroberung durch die Osmanen lebten die Armenier dank des eingeführten
Millet-Systems (Zugehörigkeit zu nationalen Religionsgemeinschaften)
bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in relativer Ruhe. Der Preis
war hoch. Etwa zwei Tonnen armenisches Gold füllten jährlich die Kassen
des Sultans. Nach dem russisch-türkischen Krieg 1877/78 sah der
Berliner Kongress eine Behandlung der "Armenischen Frage" vor.
Reformbeschlüsse wurden gefasst, die jedoch der Armenienhasser Sultan
Abdül Hamid II. schlau zu hintertreiben wusste. Zwischen 1894 und 1896
kam es unter Duldung der 'christlichen' Großmächte zu brutalsten
Metzeleien. "In Urfa, dem antiken Edessa, hatten die Türken den
Armeniern Schutz versprochen, wenn diese ihre Waffen abgeben würden,
was die Armenier auf Rat ihres Oberhirten auch taten. Doch dann
umstellte ein angeblich zu ihrem Schutz ausgerücktes Bataillon das
armenische Viertel. 3000 Armenier flüchteten in die Kirche, die
daraufhin von den Angreifern angezündet wurde. Ein Scheich zwang 100
Armenier, sich auf den Rücken zu legen, und lies sie unter Rezitation
von Koranversen nach dem Ritus des Hammelopfers abschlachten. ) "Den
Massakern von 1894/96 fielen zwischen 50 000 und 300 000 Menschen zum
Opfer.
1909 übernahmen die Jung-Türken unter Enver Pascha, Talaat Pascha und
Dschemal Pascha die Macht. Die Partei "Ittihat-i-Osmani" wurde
gegründet. Im Reich glaubten die Minoritäten den Freiheitsbeteuerungen
der Jung-Türken, ja "man lag sich in echt orientalischem Überschwang in
den Armen und gab sich den Bruderkuss", wie der Missionar Ernst J.
Christoffel schrieb.
In eben diesem Milieu und dem durch Ausbruch des Ersten Weltkrieges
gekennzeichneten Zeitraum zwischen 1914/15 bewegt sich Franz Werfels
teils authentische, teils fiktive Romanhandlung. Die Hauptfigur, der
Armenier Gabriel Bagradian, Erbe eines berühmten Stambuler Welthauses
mit Niederlassungen in Paris, London und New York, fühlt sich als
Wahlfranzose. Er hat 23 Jahre völliger Assimilation hinter sich, ist
mit Juliette, einer Französin, verheiratet, und meldete sich bei
Ausbruch des Balkankrieges freiwillig zu den Waffen. Als ottomanischer
Reserveoffizier besitzt er auch Freunde unter den Jung-Türken. Wie sein
14jähriger Sohn Stephan fühlt sich Gabriel armenischer Lebensart
zunächst entfremdet, als er nach dem Tode seines Bruders Awetis in die
Heimat nach Yoghonoluk am Gebirgsmassiv des Musa Dagh, zurückkehrt.
Werfel schildert das kulturell bunte Leben der Armenier, ihre geistige
Vitalität und Hoffnungskraft. Bagradian und sein Sohn finden rasch
zurück zu ihren Wurzeln. Sie können sich nicht losketten vom Schicksal
ihres Volkes.
Gabriels Träume von einer friedlichen Koexistenz zerrinnen. Er erlebt
die Wortbrüche der türkischen Landesherren, die osmanische Tradition
des Zurechtbiegens (kitaba uydurmak), der verschleiernden Doppelbefehle
und offenen Ungerechtigkeiten. Der protestantische Pastor Aram Tomasian
kommt mit furchtbaren Nachrichten von Deportation und Massakern aus der
Bergfeste Zeitun zurück in seine Heimat Yoghonoluk. (Seine Existenz ist
geschichtlich nachweisbar. Er hieß eigentlich Digran Andresanian und
hat den Kampf der 5000 Armenier am Musa Dagh aufgezeichnet). Als sich
die Situation dramatisch zuspitzt und die Austreibung bevorsteht,
entscheiden sich 800 Familien für den Widerstand unter der geistlichen
Führung des Priesters Ter Haigasun und dem militärischen Oberbefehl
Bagradians. "Es war nicht eigentlich Hass, sondern ein heiliger und
zugleich lustiger Zorn, der aus Bagradians Augen flammte. Es schien,
als freue er sich, allein gegen die Millionenarmeen Enver Paschas zu
stehn. Wie Wahnsinn hob es ihn vom Sitz und trieb ihn durchs Zimmer." )
Franz Werfel selbst schreibt, er habe anlässlich einer Vorlesereise
stets das fünfte Kapitel des ersten Buches ausgewählt. Dieser Text, der
betitelt ist "Zwischenspiel der Götter" schildert historisch
Verbürgtes, nämlich die Begegnung des Protagonisten für die armenische
Sache, des Pastors Johannes Lepsius, mit Enver Pascha. Der 1858 in
Berlin geborene hochgebildete Dr. Lepsius war der Sohn des
Linguistik-Professors und Begründers der Ägyptologie Karl Richard
Lepsius. Der Vater, Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek,
hatte beste Verbindungen in den Orient. Johannes Lepsius bereiste
bereits 1896, also noch zu Zeiten der Verfolgung unter Abdül Hamid II.,
als Teppichfabrikant getarnt, Anatolien. Die Sache des geschundenen
Armeniervolkes wurde sein Herzensanliegen. Seine Bücher und die von ihm
herausgegebenen diplomatischen Akten, gelten noch heute als wichtigste
authentische Quellen. Ihm verdanken wir auch die Erinnerung an mutige
Missionare wie Karen Jeppe, und das sogenannte Litten-Dokument, welches
im deutschsprachigen Bereich 1920 als Flugblatt, betitelt "Der Weg des
Grauens", erschien.
Werfel schildert psychologisch meisterhaft das lange Gespräch zwischen
dem zu Tode erschöpften Pastor und dem zynischen Generalissimus. Er
beschreibt die fast tänzerische Erscheinung des jugendlichen türkischen
Mars, des "kindlichen Antichrists" - wie er ihn nennt. "Dieser
verspielte und verzogene Knabe dort ist der unbeschränkte Herr über
eine Weltmacht. Sein feingemodeltes verführerisches Köpfchen brütet
Zahlen aus, die jeden Kenner der Wirklichkeit in Erstaunen setzen
müssen ... Er lächelt nicht mehr zurückhaltend, seine Augen werden
starr und kalt, die Lippen weichen von einem großen, gefährlichen
Gebiss: 'Zwischen dem Menschen und dem Pestbazillus' sagt er, 'gibt es
keinen Frieden.'" )
Der Deutsche kämpft verzweifelt. Er weiß über die Deportationen genau Bescheid:
"Um diese Durchführungen handelt es sich ja. (...) Ist es vielleicht
Ihr Wille oder der Wille des Mi-nisters, dass Frauen auf offener Straße
niederkommen und sofort mit dem Knüppel weitergehetzt werden? Ist es
vielleicht Ihr Wille, dass ganze Landstriche von verwesten Leichen
verpestet sind, dass der Euphrat dick von Toten ist? (...) Geben Sie
mir die Vollmacht, die Verschickungstransporte zu organisieren. Gott
wird mir die Kraft schenken und Erfahrung besitze ich wie kein zweiter
. (...) Schon einmal ist mir ein großes Hilfswerk gelungen, ich habe
viele Waisenhäuser und Hospitäler gegründet. (...) Ich werde trotz des
Krieges dasselbe und Größeres noch zustande bringen und nach zwei
Jahren werden Sie selbst, Exzellenz, mir dankbar sein." )
Der Türke, dessen knabenhafter Gesichtsausdruck die "fast unschuldige
Naivität der vollkommenen Gottlosigkeit" spiegelt, rafft sich zu einem
Gegenvorschlag auf:
"Sammeln Sie Geld, sammeln Sie bei Ihren Hilfsvereinen in Amerika und
Deutschland viel Geld. Die aufgebrachten Mittel bringen Sie dann mir.
Ich werde sie ganz in Ihrem Sinn und nach Ihrer Bestimmung verwenden.
Doch ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich keine Kontrolle durch
Deutsche und andere Ausländer dulden kann." )
Es gibt in der Geschichte des Zweiten Weltkrieges eine, in ihrem
Zynismus analoge Szene, von der Werfel allerdings nichts wissen konnte,
da sie sich über 10 Jahre nach Erscheinen seines Romans abspielte. Es
handelt sich um den Bericht des Sprechers der ungarischen Juden, Joel
Brand. Im April 1944 wird er zu Eichmann befohlen, um mit dem
Obersturmbandführer über den Verkauf von 1 Million Juden zu verhandeln:
"Ware für Blut - Blut für Ware". )
Am 30. Juli 1915 erreicht der Befehl, innerhalb von 7 Tagen für die
Deportation bereit zu sein, auch die Dörfer um den Musa Dagh. Nur der
Pastor Nokhudian und einige seiner Leute aus dem Dorf Beitias wollen
die Verbannung in die mesopotamische Wüste antreten. Etwa 5000 Menschen
widersetzen sich dem Befehl und ziehen sich mit 120 Büchsen und
Gewehren, mit alten Feuersteinschloßgewehren und Sattelpistolen auf den
wasserreichen Berg zurück. Man treibt die Schaf- und Ziegenherden
hinauf auf die Hochweiden. Die Verteidiger heben Gräben aus und
errichten Steinwälle. Jede Klippe, jede Schlucht ist den Armeniern
bekannt. Es gelingt ihnen, eine türkische Vorhut von 200 Mann
zurückzuwerfen. In einem tollkühnen Streich erobert Stefan Bagradian
die Feldkanonen. Bei einem armenischen Ãœberraschungsangriff werden den
Türken 7 Mausergewehre und reichlich Munition abgenomrnen. Doch die
Ernährungslage ist prekär, da ein gewaltiger Regen fast den ganzen
Brotvorrat vernichtet. Täglich werden nun Schafe und Ziegen
geschlachtet. Inzwischen nähert sich ein Heer von 8000 Feinden dem
Berg. Hungertod bedroht die Armenier. Die Frauen haben eine riesige
Fahne genäht, auf der zu lesen steht "Christen in Not". Sie wird am
Meer gehisst.
Nach Franz Werfel ist es aber die gotteslästerliche "Altarflamme", eine
auf Brandstiftung zurückgehende Feuerfahne, welche am 36. Tag der
Belagerung nicht nur fast alle Unterkünfte der Armenier zerstört,
sondern auch den französischen Kreuzer "Guichen" auf die verzweifelte
Lage der Todgeweihten aufmerksam werden lässt. Der ehrfurchtgebietenden
Priestergestalt des Ter Haigasun legt der Dichter die Worte in den
Mund: "Das Böse ist nur geschehen, damit die Gnade Gottes möglich
werde."
Kapitän Brisson, welcher die "Guichen" befehligte, erstattet sofort
seinem Admiral auf der "Jeanne d'Arc" Meldung. Drei weitere französiche
Schiffe und ein britisches erscheinen. 4058 Menschen werden gerettet.
Dennoch endet der Roman tragisch.
Gabriel Bagradian, dessen Sohn Stefan von den Türken bestialisch
ermordet wurde, fällt dem Feind in die Hände. Auf dem Grabhügel seines
Sohnes trifft ihn der Tod. "Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm
die Schläfe. Er klammerte sich ans Holz, riß es im Sturze mit. Und das
Kreuz des Sohnes lag auf seinem Herzen." )
Das weitere Flüchtlingsschicksal der Armenier vom Musa Dagh ist der
Weltöffentlichkeit fast unbekannt. Zunächst brachte man die Menschen in
ein Internierungslager nach Port Said. Nach dem Kriege kehrten die
Exulanten unter dem Schutz der Franzosen in ihre angestammte Heimat
zurück. Ein Jahrzehnt nach dem Völkermord mussten die Armenier ihre
eben wieder aufgebauten Siedlungen emeut verlassen, da die Orte in dem
von den Franzosen der Türkei übergebenen Sandschak (Regierungsbezirk)
von Alexandrette lagen. Die Musa Dagh Armenier siedelten schließlich in
Anjar im Libanon. Dort lebt bis heute ein Großteil ihrer Nachfahren.
1936 bereiteten die Exil-Armenier Franz Werfel in New York großartige
Empfänge. In Paris traf er mit dem Kommandanten des Schiffes "Jean
d'Arc" zusammen. Metro-Goldwyn-Meyer plante seinen Bestseller zu
verfilmen. Daraufhin reichte der türkische Botschafter Munir Ertegun
eine Protestnote beim Außenministerium der Vereinigten Staaten ein und
drohte mit Boykott sämtlicher amerikanischen Filme in der Türkei. Nach
einem Jahr wurde das Projekt zurückgezogen.
Die treffendste Aussage über den Sänger der unendlichen
Erlösungssehnsucht stammt von einem armenischen Prediger, der
feststellte:
"Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben."
Weiterführende Literatur:
Alma Mahler-Werfel: Mein Leben. Frankfurt 1963.
Wolfgang Benz: Der Völkermord an den Armeniern. Vortrag v. 24. April 2004 in Frankfurt a. Main.
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