"Wir sind Hierarchisten!"
Theodor Haecker und das Elend des deutschen Geistes
Ein katholischer Philosoph und Laien-Theologe
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
In den trüben, verregneten Novembertagen 2004 blätterte ich in dem
angeblich höchsten Ansprüchen genügenden Monumentalwerk "Enzyklopädie
Philosophie und Wissenschaftstheorie" des international angesehenen
Bibliographischen Instituts zu Mannheim. Das von Jürgen Mittelstraß
herausgegebene Lexikon berücksichtigt sogar so abseitige Gestalten wie
den englischen Rassisten und Antisemiten Houston Stewart Chamberlain
und den noch rabiateren Judenfeind Eugen Dühring, der als bedeutender
deutscher "Positivist" gewürdigt wird. Auch Friedrich Engels, dem
italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, dem von Stalin liquidierten
Bolschewiken Nikolai Bucharin und der, zumindest in philosophischer
Hinsicht, wirklich nicht bedeutsamen linksradikalen Publizistin und
Agitatorin Rosa Luxemburg werden Artikel mit bibliographischen
Hinweisen gewidmet. Sogar Lenin und atheistische Modedenker wie Ernst
Bloch und Herbert Marcuse genießen Bürgerrecht in der
philosophisch-wissenschaftstheoretischen Enzyklopädie. Wer aber
christliche, insbesondere katholische, oder auch nur
religions-philosophisch erhebliche Denker wie Peter Bergiar, Joseph M.
Bochenski, Louis de Bonald, Bela von Brandenstein, Hedwig Conrad
Martius, Dante Alighieri, Alois Dempf, Max Dessoir, Martin Deutinger,
Ferdinand Ebner, Hans Eibl, Mircea Eliade, Hugo Fischer, Leo Gabriel,
Etienne Gilson, Joseph Görres, Romano Guardini, Friedrich Heiler,
Johannes Hessen, Dietrich von Hildebrand, Justinos den Märtyrer, Rudolf
Kassner, Karl Kerényi, Gerhard Kruger, Helmut Kuhn, Ernst von Lasaulx,
Louis Lavelle, Joseph de Maistre, Gallus Manser, Friedrich Meinecke,
Traugott Konstantin Oesterreich, Rudolf Otto, Walter F. Otto,
Athanasius Sendlinger, Johannes Ude und Diana C. Wyssdom in dem
genannten Nachschlagewerk sucht, wird bitter enttäuscht sein.
Fehlanzeige auch bei Theodor Haecker, dem vor sechzig Jahren, am 9.
April 1945, verstorbenen Konvertiten, Polemiker, Satiriker,
Kierkegaard-, Belloc- und Newman-Übersetzer, Essayisten, Ästhetiker,
Laientheologen, christlichen Existentialisten, Kultur-, Geschichts- und
Religionsphilosophen, dem wir Bücher wie diese verdanken: "Christentum
und Kultur", "Sören Kierkegaard und die Philosophie der Innerlichkeit",
"Wahrheit und Leben", "Vergil, Vater des Abendlandes", "Der Begriff der
Wahrheit bei Sören Kierkegaard", "Was ist der Mensch?", "Schöpfer und
Schöpfung", "Der Christ und die Geschichte", "Schönheit. Ein Versuch",
"Die Versuchungen Christi", "Metaphysik des Fühlens".
Kein einziges dieser Werke, die bis in die siebziger Jahre hinein
lieferbar gewesen sind, taucht in den aktuellen Verlagskatalogen auf.
Sie sind meist nur unter großer Mühe in Antiquariaten,
Klosterbibliotheken oder universitären Büchersammlungen erhältlich. Als
ich vor zehn Jahren den Kösel-Verlag in München brieflich befragte, ob
er zum fünfzigsten Todestag seines einstigen Hausautors irgendetwas zu
unternehmen gedenke, erhielt ich am 17. März 1995 die schnöde Antwort,
dass man nichts vorhabe, "da das Gesamtwerk bei uns mittlerweile
vergriffen ist, obschon die Rechte noch bei uns liegen." Lediglich die
"Tag- und Nachtbücher 1939-1945" seien als Band neun der
"Brenner-Studien" über den Innsbrucker Haymon Verlag lieferbar. Und bei
Schöningh in Paderborn ist 1994 eine knappe, allzu knappe Einführung in
Haeckers Werk erschienen, die Florian Mayr verfasst hat. Das ist alles,
was heute von und über Haecker im Buchhandel zu bekommen ist. )
Wer war Theodor Haecker, dessen schönste, reifste und beglückendste
Schrift den römischen Dichter Vergil als einen "adventlichen Heiden",
als reinste Verkörperung einer "anima naturaliter christiana" deutet;
der öffentlich erklärte, dass mit dem Liberalismus der Ernst aufhöre
und der Spaß beginne; der bedauerte, dass Luther nicht in einem
"feurigen Akt der Liebe" als Ketzer verbrannt worden sei; der bereits
vor Hitlers Machtergreifung das nationalsozialistische Hakenkreuz als
"Zeichen des Tieres", als satanisches Emblem, als "das Symbol des
Drehs", des subjektiven wie objektiven Schwindels, angeprangert hat; in
dessen Gefolge Erik Peterson, Karl Thieme, Max Picard, der Maler,
Zeichner, Illustrator und Kunstforscher Richard Seewald, die
Schriftsteller Wilhelm Hausenstein, Sigismund von Radecki, Werner
Bergengruen und Edzard Schaper, die Verleger Jakob Hegner und Heinrich
Weiß, die Schauspieler Ernst Ginsberg und Kurz Horwitz zum katholischen
Glauben fanden; der Thomas Mann, Stefan George, Georg Simmel, Oswald
Spengler und andere Hohepriester der literarischen und akademischen
Szene vernichtend kritisierte, sofern er bei ihnen auf Misslungenes
oder Verfehltes stieß; der mit seinen Büchern und Aufsätzen den
Widerstandskreis um Hans und Sophie Scholl geistig armierte, so dass
man sagen konnte: "Die 'Weiße Rose' erwuchs, blühte und duftete auf dem
Boden des Haecker'schen Werks"; und der einmal bekannte: "Alle großen
Dinge fangen auf der Stelle mit den Gipfeln an, und von ihnen haben sie
ihren Namen. - Dass die Dinge zuerst den Klang haben und dann erst den
Missklang - das ist das erste Prinzip meiner Philosophie. Also: dass
das Gute vor dem Bösen ist, die Wahrheit vor der Lüge, das Schöne vor
dem Hässlichen. Das ist meine ganze Philosophie. - Das Höhere kann das
Niedere erklären, niemals das Niedere das Höhere".
Substantielles Sein und gesetzmäßiges Tun
"Le style c'est l'homme", lautet ein bekanntes Wort des Naturforschers
Buffon: "Wie der Stil, so der Mensch." Haeckers Stil spiegelt seinen
Charakter, seine Persönlichkeit, seine Katholizität, seine
Universalität und Wirklichkeitsehrfurcht. Es ist ein wuchtiger, ein von
lateinischer Prägnanz erfüllter Stil voller Adel, Würde, Leidenschaft
und Glaubenskraft. Wer sich auf Haecker einlässt, betritt eine Welt des
Lichtes, der Klarheit, der vornehmen Stufungen. Haecker lässt den Leser
aufatmen, indem er ihn aus den Niederungen des Geschwätzes, des Miefs
und der Platitude in Hochgebirgsluft versetzt. Der Niedergang im
Geistigen und Geistlichen, der inzwischen sogar das Niveau, das im
"Dritten Reich" in gewissen Enklaven möglich war, noch grauenhaft
unterbietet, schreitet erbarmungslos fort. Im Jahre 1902 empfing ein
Theodor Mommsen als erster Deutscher den Nobelpreis für Literatur, gut
hundert Jahre darauf wurde er einer Elfriede Jelinek verliehen.
Nichts enthüllt klarer den Verfall deutscher Kultur als der Abstand
zwischen diesen beiden Autoren. Wer Hans Küng, K.J. Kuschel oder Karl
Rahner gelesen hat und dann zu Theodor Haecker greift, um hier
beispielsweise zu lesen, was Natur im philosophischen Sinne bedeutet,
fühlt sich in ein Pa-radies entrückt, wo Dionysius Areopagita,
Augustinus, Thomas, Bonaventura sich ähnlich unterreden wie die antiken
Weisen auf Raffaels visionärem Gemälde "Die Schule von Athen" in der
Stanza della Segnatura des Vatikanpalastes:
"Unter Natur verstehen wir ein substantielles Sein und ein
gesetzmäßiges Tun, dass die Gestirne ihre Bahn gehen nach dem Willen
eines erhabenen Geistes oder, was dasselbe ist, nach den Gesetzen ihres
Seins; unter Natur verstehen wir, dass ein Stein fällt, dass Gold nicht
rostet, dass Wasser bergab fließt, vom Wind zu Wellen gepeitscht, vom
Monde sacht angezogen wird, dass Feuer brennt und die Erde den Samen
sprengt und nährt; unter Natur verstehen wir, dass die Pflanze in der
Nacht der Erde und im Lichte der Sonne wächst, dass Tiere ihre
Instinkte haben und nach ihnen leben; unter Natur verstehen wir, dass
die Dinge in all ihrer Beweglichkeit und relativen Veränderlichkeit ihr
sicheres Wesen haben und behalten, und auf Grund dieses Wesens auch ihr
Wirken und dass sie, die Natur, eine und dieselbe ist in allen ihren
Gestalten, zauberisch ohne Zauberei. Die Kristalle schießen zusammen,
der Vogel fliegt, der Fisch schwimmt: Das alles und vieles andere dazu,
wie der Tod, und nichts davon fällt heraus, ist für uns, die Menschen,
die Natur selber und ihr eigenes Urbild, ist unmittelbar gegebene, sich
gebende Natur, nach deren Analogie wir auch alles andere, was Natur
sein könnte oder sein sollte, sei es erschaffener oder unerschaffener
Art, betrachteten und beurteilen." ("Was ist der Mensch?" München 1965,
S. l40 f.)
"Wird aber nicht zuweilen einer vom Geiste hingerissen, mit den Flügeln
des Adlers zu steigen zu höherem Sein, wie eine steile Flamme zu noch
hellerem Lichte, und ist nicht das eher die Natur des Geistes? Und der
Geist hat auch eine Natur und ist deshalb Natur; das ist das erste und
Wichtigste, was der heutigen Philosophie zu sagen ist. Wenn der Christ
von Natur und Ãœbernatur redet, versteht er ja unter Ãœbernatur nicht nur
nicht etwas, das wider die Natur wäre, sondern auch nicht etwas, das
ohne Natur wäre: auch Gott hat Seine Natur oder vielmehr ist seine
Natur, d.h. Seine Unerschaffene Natur." (Ebenda S. 143 f.)
"Ohne den christlichen Glauben ist Europa nur ein Sandkorn im
Wirbelwind der Meinungen, Ideen und Religionen, es wird morgen auf den
Knien liegen vor den Russen, übermorgen vor den Japanern, in drei Tagen
vor den Chinesen, in vieren vor den Indern, am letzten aber ganz gewiss
die Beute der Neger sein; es wird morgen das Matriarchat haben und
übermorgen die Pornokratie, seine Literatur wird nur mehr kennen und
sagen die ungeistigen Dinge, nämlich die gnostischen, die
unterseelischen, nämlich die psycho-analytischen, die unterleiblichen,
nämlich eben diese in Unzucht und Perversion. Wenn es so weit noch
nicht ist, dann nur, weil da immer noch siebentausend Gerechte sind,
die ihres Glaubens leben. Wir wissen aus dem Alten Testament, was
gezeichnete Völker sind, die durch bewussten Abfall oder Revolte ihres
letzten Sinnes verlustig gingen, der gleich einem Schutzengel sie immer
geführt und gelenkt und abgehalten hatte, eine Wolkensäule am Tage,
eine Feuersäule in der Nacht."
"Wenn es keinen anderen alles fassenden Satz gibt als Antwort auf die
Frage: Was ist der Mensch? als den der Offenbarung, dass er nach dem
Bilde Gottes geschaffen ist, keinen andern, bei dem der Geist des
Menschen trotz aller übrig bleibenden Rätsel sich beruhigen könnte in
der Erwartung der Erfüllung verheißener Offenbarung, dann ist eines
ohne weiteres ganz klar, nämlich, dass, ebenso wie der Mensch real, als
Geschöpf, nicht zu seinem letzten Ziele, welches Gott ist, ohne Gott
gelan-gen kann, wiewohl er es immer wieder versucht, so der Mensch als
Philosoph nicht zu einem Wissen über den Menschen kommen kann ohne
Theologie, wiewohl er es immer wieder versucht. Wir sind
Hierarchisten... In die Hände der Theologen ist ein großes Werk, auf
ihre Schultern eine schwere Verantwortung gelegt. Sie werden auf
schwierige Fragen antworten müssen, ohne die Beantwortung abwälzen zu
können auf niederere Wissenschaften als ihre eigene, denn von diesen
werden die Frager genug und übergenug haben." ("Was ist der Mensch?",
S. 159 f.)
"In die Religion, Lehre und Leben, tritt das Chaos, das menschliche,
also die Pervertierung eines ordo, durch die Wunde ein, die einer
wesenhaften Autorität geschlagen wurde. Wird die Einheit der
christlichen Religion gestört - nur sie hat eine Einheit und ist eine
Einheit -, so ist theologisch auf der Stelle und primär die Frage der
Autorität als erste und als letzte angerührt... Eine jede häretische
'Kirche' ist notwendig dem Untergang geweiht noch vor dem Untergang der
Welt, ja noch vor dem Untergang des Abendlandes! ... Wenn die
Anthropologie zur Theologie wird und umgekehrt, dann wird alles
peinlich..."
"Wenn ich heute stürbe (vor dem Tod als solchem habe ich keine Furcht
mehr, im Gegenteil: sei gegrüßt!), wenn ich heute stürbe, reichlich
traurig und schwermütig, wie alle Reife dieser Welt, schwarzsehend,
nämlich darke ages, die wiederkommen - verzweifelt würde ich doch nicht
sterben. Es scheint, dass nun nichts mehr den Glauben mir rauben kann.
Möge es so bleiben! Mein Gott, möge es so bleiben! Wenn ich heute
stürbe, völlig uneins mit dem herrschenden Geiste meines Volkes, ich
würde nicht verzweifelt sterben, und wäre das nicht doch auch ein
Zeugnis? Denn traurig, meine Freunde, traurig darf man doch sein heute?
Nicht wahr? Ich habe Schwierigkeiten und lebe unter einer Wolke, aber
ich habe eine unfehlbare Methode: wenn die Schwierigkeiten zu groß
werden, stürze ich mich in die Unbegreiflichkeit Gottes. Sie birgt
mich. Nicht sie allein natürlich, sondern die Gnade Gottes. Sie trägt
mich auch in diesem Abgrund..." ("Tag- und Nachtbücher")
"Dennoch besteht eine geheimnisvolle Analogie, ja Verwandtschaft
zwischen Genialität und Heiligkeit, insofern keine vollendete
Genialität - im Unterschied zum Talent - sich vorstellen lässt, ohne
einen perspektivischen Hinweis auch auf die ganz andere Sphäre der
Heiligkeit, mag ihr Träger real auch noch so fern von ihr sein;
insofern aber auch - und das ist viel mehr! - als vollkommene
Heiligkeit immer auch einen Aspekt haben wird, der anders als genial
eben nicht adäquat benannt werden kann, mag ihr Träger auch noch so
weit davon entfernt sein, in irgendeiner Form Kulturwerke zu schaffen."
Beispiele für Theodor Haeckers mehrfach zusammengesetzte, meisterlich
gebaute Satzgefüge, die zur Rezitation einladen, zu lautem Lesen. Wem
so viel darauf ankam, keine wesentliche Unterscheidung auszulassen,
konnte unmöglich anders schreiben als in hierarchischen, beinahe
liturgisch tönenden Perioden. Theodor Haecker starb mit sechsundsechzig
Jahren am 9. April 1945. Wer sich in seinen Schriften auskennt, wer sie
vielleicht schon seit Jahrzehnten immer wieder befragt, kann nicht
darüber im Zweifel sein, wo dieser Schöpfer flammenschwangerer,
festlich emporreißender Formulierungen, lebte er heute noch, stehen
würde.
Eine gewisse Schwermut...
Zu den Grundbausteinen von Haeckers Leben gehört seine hohenlohische
Abkunft. Er wurde am 4. Juni 1879 in Eberbach an der Jagst geboren.
Sein Vater wie seine Mutter waren Protestanten. Unter den Vorfahren
väterlicherseits, die ursprünglich in der Gegend von Vaihingen an der
Enz ansässig gewesen waren, befanden sich Metzger, Bäcker, Müller und
Schultheißen. Bis 1868 befand sich die Haecker-Mühle bei Sersheim in
Familienbesitz. Um 1700 wandten sich die Ahnen in hohem Maße geistigen
Berufen zu. Ein Aaron Haecker war Amtsbürgermeister von Sersheim.
Dessen Enkel wirkte als Lehrer und Orgelspieler, zuletzt in Schwäbisch
Hall. Dessen Sohn, Adolf Haecker, 1816 bis 1890, Theodor Haeckers
Großvater, bekleidete das Amt eines Gerichtsnotars in der
hohenlohischen Stadt Crailsheim. Der Vater unseres Schriftstellers war
seit 1883 Ratsschreiber und Bezirksnotar in Esslingen. Haeckers
Großmutter väterlicherseits war die Tochter eines protestantischen
Pastors, seine Mutter die Tochter eines Schultheißen in Riedbach bei
Künzelsau.
Als sie starb, war Theodor Haecker erst zwölf Jahre alt. Die Jugend war
düster. Eine gewisse melancholische Grundstimmung, die, wenn man
Schopenhauer glauben darf, zum Ausweis genialer Anlagen gehört, war
Haecker lebenslang eigentümlich. Er scheint kein guter, auf jeden Fall
kein bequemer Schüler gewesen zu sein; er war jedoch von Kindesbeinen
an ein eifriger Bücherleser und Büchersammler. Aus Liebe zu Kierkegaard
erlernte er durch Selbststudium das Dänische. Um Newman übersetzen zu
können, brachte er sich das "königliche Englisch" bei. Die Zuneigung zu
Vergil und die Ãœberzeugung, dass die Sprache der katholischen Liturgie
wie der abendländischen Kirchenväter nicht zufällig die lateinische
sei, ließen ihn die Sprache der alten Römer wie Augustinus' und Thomas
von Aquin sich aneignen.
Es heißt, er habe eine Zeitlang davon geträumt, ein Schauspieler zu
werden; aber sein Gesicht war seit frühen Jahren durch eine ungünstig
verlaufene Nasenoperation entstellt. Der junge "Mann mit der
zerbrochenen Nase" durchlief eine ihm unliebsame kaufmännische
Ausbildung in Esslingen und Antwerpen. Von 1901 bis 1903 weilte er in
Berlin, wo er Vorlesungen des Naturforschers Rudolf Virchow, des
protestantischen Hegelianers Adolf Lasson (als einzigem Philosophen),
der Historiker Kurt Breysig und Hans Delbrück, der Altphilologen und
Altertumswissenschaftler Wilamowitz-Moellendorf, Vahlen und Eduard
Norden hörte.
Erst 1905 holte Haecker das Abitur in Esslingen nach und ließ sich
darauf in München nieder. Die bayerische Hauptstadt wurde ihm Heimat.
Hier besuchte er Vorlesungen und Seminare des Philosophen, Psychologen
und "Einfühlungs-Ästhetikers" Theodor Lipps (1851-1914) und des
"mittleren" Max Scheler (1874-1928), der gerade im Begriffe war, sich
katholischer Theologie (insbesondere der des Heiligen Augustinus) und
phänomenologisch begründeter "Wesensschau" sowie "materialer Wertlehre"
zuzuwenden. Haecker saß von 1907 bis 1910 zu Füßen Schelers, des damals
als "katholischer Nietzsche" und "Ãœberwinder Kants" gefeierten
Philosophen, Ethikers und Wissenssoziologen, dem er später nachrühmte,
dass er "die geistigen Werte sah und darzustellen und hierarchisch zu
ordnen wusste wie keiner sonst", "weil ihm in erstaunlichem Grade
gegeben war die 'natürliche' Übereinstimmung einer großen, weiten,
weltumspannenden Vernunft mit katholischem Geiste." Die Wende des
späten Max Scheler zu einer gnostizistisch-pantheistischen Metaphysik
des "All-Lebens", des "werdenden Gottes" und der "Ohnmacht des Geistes"
hat Haecker nicht nur nicht mitgemacht, sondern kompromisslos als
Abfall von der christlichen Offenbarung verworfen.
Im Grunde seines Wesens war und blieb jedoch Theodor Haecker ein
Autodidakt und Selbstdenker, der, wie schon oben angedeutet, das meiste
seiner Bildung intensiver Lektüre und leidenschaftlichem Eigenstudium
verdankte. Den gängigen akademischen Wissensvermittlungsbetrieb
verachtete er ebenso wie die tonangebende Berliner und Frankfurter
Presse. Sein Brotberuf war der eines Redakteurs und Verlagsangestellten
im Schreiber-Verlag zu München, welcher der Familie eines Esslinger
Schulfreundes gehörte. In ihm erschien die humoristische Wochenschrift
"Meggendorfer Blätter", die dann 1928 mit dem älteren Witzblatt
"Fliegende Blätter" vereint wurden. Haecker stieg im Laufe der Jahre
1911 bis 1944, als die Zeitschrift wegen kriegsbedingten Papiermangels
und Bombenterrors eingestellt wurde, zum stellvertretenden
Hauptschriftleiter auf. Von ihm selbst gezeichnete Artikel sind jedoch
in den Hauszeitschriften, zu denen auch "Die Meister" zählten, nicht
nachzuweisen, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sich seine
redaktionell-editorische Tätigkeit bloß auf das Druckreifmachen fremder
Texte beschränkte.
Autodidakt, Nachtarbeiter und Konvertit
Seine eigenen Bücher, die fast durchweg in anderen Verlagen erschienen,
hat er ausschließlich nachts geschrieben. Seiner 1918 geschlossenen Ehe
entstammten drei Kinder: Johannes, Irene und Reinhard. Die Mutter starb
schon 1935 an Krebs, der halbwüchsige Sohn Reinhard - von der Schulbank
weg strafweise zum "Arbeitsdienst" eingezogen und ins Kampfgebiet
verschleppt (weil er es gewagt hatte, das von den Nazis aus den Schulen
entfernte Kruzifix im Klassenzimmer wieder anzubringen) - kam in den
letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges um.
Durch Max Scheler war Theodor Haecker schon vor dem Ersten Weltkrieg
auf den vom Anglikanertum zur katholischen Kirche übergetretenen
Theologen, Schriftsteller, Prediger und späteren Kardinal John Henry
Newman (1801-1890) aufmerksam gemacht worden. Bei Newman fand er die
befreiende, für ihn zeitlebens maßgebende Einsicht: "Tief eindringen in
die Geschichte heißt: aufhören, ein Protestant zu sein. Das Christentum
der Geschichte ist nicht Protestantismus." Die Behauptung Luthers und
anderer "Reformatoren", sie trachteten nach einer Rückkehr der
"entarteten" Kirche zum reinen Geist des "Urchristentums", sei eine
anmaßende und illusionäre Unterstellung. Wir wüßten viel zu wenig über
das von den meisten ahnungslosen Zeitgenossen für eine jüdische Sekte
gehaltene Urchristentum, also über die Zeit zwischen der Auferstehung
Christi und den ersten zuverlässigen literarischen Bekundungen
christlichen Geistes. Erst die Epoche der griechischen und lateinischen
Kirchenväter - von Justinus Martyr bis Dionysius Areopagita, von
Clemens Alexandrinus bis Athanasius, von Ambrosius bis zu Augustinus,
von Tertullian bis zu Boethius und Gregor dem Großen - zeige die
providentielle Wende zur Universalität, zu klassischer christlicher
Theologie, Dogmenentfaltung und "Taufe" des Wahren, Gültigen und
Bewunderungswürdigen, was die Antike hervorgebracht habe.
All diese typisch Newman'schen Einsichten überzeugten Theodor Haecker.
Er empfand sie als Befreiung aus sektiererischer Engherzigkeit und
puritanisch-pietistischer Konventikelfrömmigkeit. So trat er
entschlossen zur römisch-katholischen Kirche über; es war im Jahre
1920. Auch seine Frau folgte ihm alsbald auf diesem Glaubensweg, obwohl
sie dadurch ihr entschieden protestantisches Elternhaus befremdete.
Über die näheren Umstände und Einzelheiten der Konversion Haeckers
wissen wir trotz der verdienstvollen Hinweise Werner Beckers, Theodor
Blessings, Bernhard Hansslers, Florian Mayrs, Diana C. Wyssdoms und vor
allem Curt Hohoffs nur sehr wenig. Haecker war ein überaus schweigsamer
und verschlossener Mensch. Seine innersten Gedanken und Erlebnisse hat
er - der geniale Schriftsteller, der größte, der ethisch reifste und
besonnenste Satiriker im gesamten deutschen Sprachraum neben Karl
Kraus, in der katholischen Geisteswelt sogar der einzige - nicht zu
Papier gebracht und schon gar nicht öffentlich ausposaunt oder
breitgetreten, sondern einzig im Gebet dem Schöpfer des Himmels und der
Erde demütig anvertraut.
Von den Tränen der Dinge
Die grüblerische Schwermut, die er mit manchen seiner schwäbischen
Landsleute wie mit dem Dänen Kierkegaard teilte, war ihm eine treue
Begleiterin. Er empfand sie als gottgewollte, aber auch als dämonische
Prüfung, als ein ihm auferlegtes Hiobsios. Er wusste tief Bescheid über
die Ausgesetztheit und Gefährdetheit der Kreatur nach Adams Fall, über
die Tränenabgründe des Daseins. Nicht von ungefähr stellte er kühn
Vergils lapidares Wort "sunt lacrimae rerum" (es steht in der "Aeneis",
dem Epos dieses römischen Zeitgenossen Jesu Christi) neben die
erhabene, mit dem Siegel geoffenbarter Wahrheit versehene Feststellung
im Römerbrief des Völkerapostels Paulus (des Lyrikers und Hymnikers
unter den Briefschreibern des Neuen Testaments): "Denn wir wissen ja,
dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburtswehen
liegt bis jetzt"; sie seufzt "auf die Hoffnung hin, dass auch sie von
der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werde zur Freiheit
der Herrlichkeit der Kinder Gottes" (8, 19-22).
"Sunt lacrimae rerum", dieses Paulus so nahekommende, vielleicht sogar
ihm, dem römischen Staatsbürger, bekannt gewesene Wort des Lateiners
Vergil bedeutet: Die Dinge selbst haben ihre Tränen, nicht nur die sie
beweinenden Menschen. Dem eine ganze pneumatische Kosmologie,
Soteriologie und Eschatologie enthaltenden Halbvers aus der "Aeneis"
hat Haecker in seinem unverwelkten Buch "Vergil - Vater des Abendlands"
ein ergreifendes Kapitel gewidmet. Der katholisch gewordene Liebhaber
lateinischer Klassik deutet ihn am Ende so: "dass da Dinge sind, die
mit keiner anderen Antwort zufrieden sind als mit Tränen, die durch
nichts wirklich erkannt werden, durch nichts anderes ausgeglichen
werden können als durch Tränen und zuweilen selbst durch sie nicht...
Die Träne hat fast die Kraft der Rechtfertigung."
Nur in solcher Weise, also verschlüsselt und einen Dichter von Weltrang
im Lichte des Evangeliums auslegend, war Haecker bereit, zumindest
mittelbar von seiner Grundstimmung, von seinem persönlichen, seinem
existentiellen Weltgefühl etwas zum Ausdruck zu bringen. Eine tiefe
Scheu hinderte ihn, im Zeitalter rasender Indiskretion und
schamlosester Geschwätzigkeit seine innersten Erfahrnisse preiszugeben.
Dies gilt für seine privaten und familiären Verhältnisse, es gilt auch
für seinen Weg zu Gott, seine beispielhafte und mustergültige
Konversion zur Kirche. Ihm waren Neugier und Klatsch schlichthin
widerwärtig. So wie er das strenge Gegenteil eines Voyeurs war, so auch
der Antipode eines Exhibitionisten. Er wollte ausschließlich mit seinen
religions-, kultur- und geschichts-philosophischen, einzig mit seinen
literatur-theologischen, ästhetischen und anthropologischen Essays,
Abhandlungen und Büchern, nicht aber durch Selbstenthüllung oder
Selbstanpreisung eigener mystischer Widerfahrnisse intimer Art andere
zur Umkehr bereitmachen. Er kargte deshalb auch gegenüber guten
Freunden mit Mitteilungen über sein Leben.
So wundert es nicht, dass es bis heute keine Haecker-Biographie gibt;
und wir dürfen mit guten Gründen vermuten, dass der Philosoph,
Schriftsteller und Laientheologe niemals darauf den geringsten Wert
gelegt hätte. Curt Hohoff, der ihm noch persönlich begegnet ist,
bemerkt dazu: "Haecker existierte schon zu Lebzeiten nur als
Schriftsteller, als Autor. Ãœber den Menschen wusste man so gut wie
nichts. Er sprach nicht darüber. Auch die engsten Freunde haben gewisse
Umstände nie erfahren, was es nämlich auf sich hatte mit seiner
Herkunft und Jugend. Ihm genügte es, Kierkegaard und Newman als
Exemplare schriftstellerischer Existenz vorzuführen. Die wenigsten
ahnten, dass darin Haeckers Selbstdarstellung lag, dass es kein Zufall
war, wenn er sie gewählt hatte; so wie es auch kein Zufall war, dass er
immer wieder Christoph Blumhardt, Pascal und Vergil beschwor. Seine
Schriften faszinierten die Leser mit einem lockenden, drohenden,
beschwörenden Ton. Hier war das Christliche so eng verbunden mit der
Erwählung und dem Adel der Person, dass es den liberalen und
demokratischen Plattheiten ins Gesicht schlug und den Sinn für die
Freiheit und die Demut des Volkes Gottes weckte."
Das Römische Reich ist nicht ganz untergegangen
Als manche ideologisch-politische Großväter und Zuchtammen der postumen
selbsternannten "Antifaschisten" von heute noch mit dem aufsteigenden
Nationalsozialismus liebäugelten und in ihm bloß eine etwas
fehlgeleitete national-revolutionäre Arbeiterbewegung erblickten; als
der Kommunist Walter Ulbricht und Hitlers Sprachrohr Joseph Goebbels
während des Berliner Verkehrsstreiks 1932 einträchtig gegen die
bürgerliche Demokratie der Weimarer Republik hetzten; als späterhin
Ribbentrop und Molotow, die Außenminister der beiden kriminellen Regime
in der Mitte und im Osten Europas, welche sich zeitweilig als Todfeinde
ausgegeben hatten, sogar einen "Freundschaftspakt" auf Kosten Polens
und der baltischen Staaten abschlossen (am 28. September 1939) - da
stand für den katholischen Hierarchisten fest, dass es,
weltgeschichtlich, ja heilsgeschichtlich betrachtet, nur ein einziges
"Reich" auf dieser Erde gab und geheimnisvoll immer noch unsichtbar
gibt: das Imperium Romanum, unter dessen Kaiser Augustus die
Menschwerdung der zweiten Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit
sich ereignet hat, unter dessen Nachfolgern die Bekenner des
auferstandenen Gekreuzigten mörderisch verfolgt wurden und das
schließlich dennoch den christlichen Glauben freiwillig zur
Reichsreligion erhoben hat. Und dies stand für Haecker ebenso
unwandelbar fest: die Berufung der Europäer und des "Westens", die
Berufung insbesondere der Deutschen zum "Reich" ist gebunden an deren
Treue zum katholischen Christentum und zur abendländischen
Ãœberlieferung. Alles Gerede von einem "zweiten" oder "dritten Reich"
erschien dem katholischen Glaubensverteidiger als provinzielle, als
plebejische, ja als bodenlose, als betrügerische Propaganda.
Kein Wunder, dass die Büttel der soeben erst zur Macht gelangten
Nationalsozialisten bereits 1933 Haecker in München verhafteten (und
ihn nach seiner Freilassung bis zum Untergang des Greuelstaates
argwöhnisch beobachteten), weil er schon im Herbst des Jahres zuvor die
prophetischen, die 1945 grauenhaft in Erfüllung gegangenen Sätze
publiziert hatte:
"Welche Provinzen wird den Deutschen das dritte Reich kosten? Bleibt im
deutschen Reiche die Hegemonie bei Preußen, so ist Ostpreußen mit
absoluter Sicherheit verloren, so werden die Sudetendeutschen
unaufhaltsam tschechisiert werden. Der Fluch des preußischen Geistes
wird nicht vorher enden."
Kardinal Faulhaber und Carl Muth, dem "Hochland"-Herausgeber, gelang es
damals, Haeckers Ver-haftung rückgängig zu machen. Doch bereits 1935
verhängten die zur Alleinpartei gewordenen Nationalsozialisten über
Haecker Redeverbot, über jenen Haecker, der schon in den zwanziger
Jahren in der totalitären Vergötzung des Machtstaates nichts anderes
als die "Bestifikation", die Tierwerdung, die Vermonsterung des
Menschen gewahrte. Durfte er anfangs keine Vorträge und Vorlesungen
halten, so seit 1938 auch keine selbständigen Bücher mehr
veröffentlichen. Nur bei den "Fliegenden Blättern" blieb er offiziell
unbehelligt; und in der einst führenden katholischen Kultur- und
Literaturzeitschrift "Hochland", an der er seit 1923 mitgearbeitet
hatte, erschienen von ihm noch einige große Beiträge bis 1941, als das
letzte Heft herauskam.
Sogar Kirchenfeinde, Nichtchristen, Atheisten, die nun Hitler das
Fürchten gelehrt hatte, bewunderten Haeckers Mut und ethisch-religiös
fundierten Widerstand. Ein national fühlender Kommunist ließ dem
katholischen Hierarchisten einen huldigenden Brief zukommen, "ihn
grüßend mit gesenktem Säbel aus dem feindlichen Schützengraben heraus."
Marxistische Sozialtheoretiker großbürgerlicher Herkunft, die damals
exiliert waren, wie Walter Benjamin, Max Horkheimer und Leo Löwenthal,
hielten es dagegen nicht unter ihrer Würde, dem ähnlich wie Ernst
Jünger in der "inneren Emigration" hochgefährdet lebenden
Glaubensstreiter, "Aftertheologie", "kindlichen Glauben", "Idolatrie
des Geistes", "privilegiertes Denken", "Gespensterfreundschaft" und
sogar ideologische Nähe zum "Faschismus" zu bescheinigen (der zuletzt
erwähnte Vorwurf ist um so erstaunlicher, als der "Faschismus", wie
bekannt, eine ausgesprochen italienisch-mediterrane Erscheinung gewesen
ist, der gegenüber dem teutonisch-"nordischen" Nationalsozialismus,
trotz außen- und militärpolitischer Zusammenarbeit, bis zuletzt seine
Eigenständigkeit und geistige Überlegenheit dezidiert hervorhob).
Theodor Haecker litt furchtbar unter dem, was in diesen düsteren Jahren
geschah. Er war schwer gebeugt durch das Schicksal Deutschlands, der
Juden und der von Gewalt und Lüge verheerten Welt. In Hitler und seinem
Anhang sah er Vorboten des Antichrist. Von des "Führers" Worten über
die "Vorsehung" und den "deutschen Herrgott" ließ er sich nicht eine
Sekunde lang täuschen.
Auf Eingebung des Schutzengels
Schlimmstes drohte ihm, als im Zusammenhang mit der Aufdeckung des
betont christlichen Verschwörerkreises der Münchner "Weißen Rose"
wieder einmal die Büttel und Schergen der verhassten Tyrannei bei ihm
auftauchten. Zwar konnten sie ihm zu seinem Glück keine unmittelbaren
Verbindungen mit dem Zirkel um die Geschwister Scholl nachweisen, wohl
aber wussten sie, dass diese Haeckers Schriften aufs entschiedenste
hochschätzten.
Als die Gestapo eine Hausdurchsuchung vornahm und Haecker verhörte, kam
die sechzehnjährige Tochter Irene, völlig unerwartet, einige Stunden
früher als ausgemacht worden war, in die väterliche Wohnung zurück
("auf Eingebung des Schutzengels", wie sie später selbst bekannte). Sie
erblickte im Zimmer die Handschrift der heimlich geführten "Tag- und
Nachtbücher" Theodor Haeckers, während die Beamten gerade in einer
anderen Ecke nach verdächtigen Unterlagen suchten. Das
geistesgegenwärtige Mädchen ergriff beherzt das Manuskript und sagte
gelassen: "Ich muss jetzt zur Klavierstunde." Sie sagte es zu ihrer
eigenen Überraschung, da sie das Klavierspiel überhaupt nicht erlernt
hatte. Der Beamte wähnte, Haeckers Tochter habe ein Notenheft oder eine
Partitur an sich genommen, und sagte kurz: "Dann gehen Sie halt!" Irene
brachte das Tagebuch, das, wäre es entdeckt worden, ihrem Vater
Konzentrationslager oder Tod durch den Strang eingetragen hätte, zu
einem befreundeten Geistlichen.
Am 9. Juni 1944 wurde das Verlagsgebäude des Schreiber-Verlags in
München, wo Haecker jahrzehntelang sein Domizil gehabt hatte, durch
einen Bombenangriff völlig zerstört. Der Schriftsteller verlor dabei
nicht nur sein Daheim und seinen Arbeitsplatz, sondern auch seine
Bibliothek und allen Besitz. Er trug den Verlust mit wunderbarer Ruhe.
Danach konnte er bei guten Freunden im fernen Schwarzwald einige Wochen
Erholung finden. Die "Tag- und Nachtbücher" waren jedoch rechtzeitig in
Sicherheit gebracht und in einem Acker vergraben worden.
Ende November 1944 fand der schwerkranke Haecker Zuflucht in dem Dorf
Ustersbach bei Augsburg, wo er, kurz vor dem Einmarsch der
nordamerikanischen Truppen, nach zweitägigem heftigen Leiden an einem
diabetischen Koma verstarb. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof
des schwäbisch-bayrischen Dorfes. Irene, Haeckers schutzengelgleiche
Tochter, schreibt dazu in einem Brief an einen aus Österreich
stammenden Verehrer ihres Vaters: "Das Letzte von Vaters Leben kann ich
Ihnen, lieber Herr, nicht schreiben. Bitte, verstehen Sie mich recht.
Ich kann nur schweigen vor der Größe und dem Geheimnis dieses Erlebens."
Ehren wir ihn, indem wir in seinen Büchern lesen, denen der englische
Dichter, Literaturkritiker und Nobelpreisträger (1948) Thomas Stearns
Eliot bescheinigt hat, sie trügen "den dreifachen Adel der Schönheit,
der Wahrheit und der Güte." Lesen wir sie als Lebenszeugnis und
Denkwege eines dezidierten Katholiken, der ein prophetischer Denker,
ein leidenschaftlicher Laientheologe und ein Meister der deutschen
Sprache gewesen ist, von dem auch dieses Kleinod lyrisch-meditativer
Prosa stammt:
"In Antwerpen in den Hafenstraßen längs der Schelde abends ziehen die
breiten, vlämischen Gäule die schweren Lastwagen mit demütiger Kraft,
sicher und mit Geduld, mit rührender Geduld, aber über Stadt und Fluss
läuten die Glocken der schönsten Kirche des Landes - vier Takte nur und
tragen doch alle Last unergründlicher Schwermut in Klängen
unergründlicher Schönheit. Wie nahe ist alles nebeneinander in diesem
Leben. Amare heißt lieben, amare heißt bitter; amare, amare wer
scheidet sie noch?"
Anschrift des Autors:
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Im Ölmättle 12
D-79400 Kandern
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