DIASPORA
Diaspora - das heißt Zerstreuung
- Der Begriff und seine Wandlungen -
von
Hubert Butterwegge
"Diaspora", ein griechisches Wort, heißt bekanntlich "Zerstreuung".
Näherhin bezeichnet es in der ältesten griechischen Übersetzung des
Alten Testamentes, der im dritten vorchristlichen Jahrhundert von
jüdischen Gelehrten zu Alexandria geschaffenen "Septuaginta", die
Zerstreuung des jüdischen Volkes unter den Heiden und trägt hier
bereits den schmerzlichen Nebenton "Verbannung". Denn wie schon der
Entstehungsort der Septuaginta zeigt, hatten damals viele Juden ihr
Vaterland, freilich zumeist aus recht diesseitigen Gründen, verlassen
und außerhalb Palästinas zahlreiche Gemeinden gegründet. Diese paßten
sich zwar äußerlich, in Sprache und Gesittung, ihrer hellenistischen,
d.h. vom Geiste Altgriechenlands genährten Umwelt an, hielten jedoch im
übrigen an der religiösen Einheit mit der Heimat fest. Buchstäblich
vollendet wurde dann diese Zerstreuung, als mit dem Untergange
Jerusalems das Volk Israel die weltgeschichtliche Buße für seine
Ablehnung des Heiles antrat.
Bemerkenswerterweise kommt das Wort "Diaspora" im Neuen Testament nur
wenige Male vor. Bei Joh. 7, 33 ff. wissen die Juden auf Christi
Andeutung, er werde sie bald verlassen, sie würden ihn suchen, aber
nicht finden - nur die wohl gewollt einfältige Einrede: "Wohin will er
denn gehen, daß wir ihn nicht mehr finden sollen? Will er etwa in die
Länder gehen, wo die Juden unter den Griechen zerstreut wohnen und die
Griechen belehren...?"
Bei Jak 1, 1 und Petr 1, 1 gehört "Diaspora" zur Anschrift des Briefes
und weist auf die bekannte Tatsache hin, daß die Apostel, vor allem der
hl. Paulus, bei der Predigt des Evangeliums in den Mittelmeerstädten
sich gerne der Synagogen ihrer Landsleute, als der nächstgegebenen
Anlehnungs- und Stützpunkte bedienten. So zweigte sich von der
jüdischen Diaspora alsbald eine zweite ab, die christliche Gemeinde.
Angesichts der Schwierigkeiten und Widerstände, die der jungen Kirche
beim Vollzuge ihrer gottverliehenen Sendung an "alle Welt" und "alle
Völker" entgegentraten, mußten die Christengemeinden in den Großstädten
des Römischen Reiches naturgemäß vorderhand zahlenmäßig nur sehr klein
bleiben. Dennoch finden wir nicht, daß die Frühkirche jemals in sich
jenes Minderheitengefühl entwickelt hätte, das sich für die Juden in
dem Worte "Diaspora" aussprach. Im Vertrauen auf den Schutz ihres
göttlichen Stifters und Hirten blieb die Kirche ihres Endsieges gewiß.
Und hatte bereits die Synagoge, wie u. a. aus der angeführten
Johannesstelle hervorgeht, sich darum bemüht, die "Griechen zu
belehren", so dachte das Christentum, allen Hemmnissen zum Trotz, noch
viel weniger daran, sich irgendwie diasporamäßig abzukapseln. Es
begnügte sich nicht damit, eine weitere unter den unzähligen
Religionsmeinungen darzustellen, die sich der versinkenden antiken Welt
zur Lösung der Welträtsel anpriesen. Vielmehr war es der der
christlichen Wahrheit wesenhaft eigene Ausschließlichkeitsanspruch, der
seinen Bekennern den Schwung gab, noch unter Todesfoltern mit dem
Apostel wider die Hoffnung zu hoffen.
Der gleiche christliche Optimismus ist es wohl auch, der sich dagegen
sträubt, die Bekehrtengruppen in den heutigen Heidenländern als
Diaspora aufzufassen. Durch die offensichtlich nur langsamen
Fortschritte in der Verchristlichung der Menschheit, durch die nahezu
unüberwindlichen Hindernisse und Störungen aus der verderbten Natur
her, wie sie sich der Frohen Botschaft vielerorts entgegenstemmen und
zuweilen eher sich zu versteifen als nachzugeben scheinen, soll nach
dem Willen Gottes die Kirche als eine zwar vom Heiligen Geiste
geleitete, immerhin von gebrechlichen Menschen getragene Körperschaft
dazu erzogen werden, Demut, Hoffnung und Geduld zu bewahren. Daher
betrachtet sie die bis jetzt (und wie mühsam) gewonnenen
Christenschaften inmitten einer millionenköpfigen Heidenwelt nicht etwa
als aussichtslos vorgetriebenen Vorposten, umringt von einer
überwältigenden Feindesmacht, an deren erstarrter Masse jeder weitere
Versuch des Vorrückens scheitern muß, nein, auch hier rechnet die
Kirche mit den Zeiträumen Gottes und tut inzwischen getrost das Ihrige.
Demnach kennt auch die Heidenmission keine Diaspora, so sehr der Name
hier sachlich oft genug zuträfe.
So bleibt letztlich für den Begriff der Diaspora ein einziger
gegenwartsgültiger Inhalt: Diaspora im kirchlichen Sinne bilden jene
Katholiken, die weit verstreut, manchmal ganz vereinzelt, jedenfalls in
fühlbarer Minderzahl, Gebiete bewohnen, deren Bevölkerung im übrigen
geschlossen einem anderen christlichen Bekenntnisse anhängt.
Diese Begriffserklärung setzt nun dreierlei voraus:
Zunächst muß das fragliche Gebiet zu irgendeiner Zeit die christliche
Lehre bereits gehört und angenommen haben. Danach ist echte Diaspora
nur in Europa und, unter gewissen Einschränkungen, in Nordamerika
möglich.
Zweitens muß die ehedem vorhanden gewesene kirchliche Einheit
irgendwann und irgendwie so gesprengt worden sein, daß es praktisch den
Untergang der alten Kirche bedeutete.
Drittens müssen Ursachen wirksam gewesen sein und noch fortwirken, die
es begründen, daß ein geringer Bruchteil der Bevölkerung entweder dem
alten Glauben treu blieb oder zu ihm zurückkehrte.
Diese Lage ist im Laufe der Kirchengeschichte wiederholt dagewesen. So
etwa im vierten Jahrhundert, als nach St. Augustin's Wort der "Erdkreis
erwachte und sich arianisch fand". So im elften Jahrhundert, als der
Bruch Konstantinopels mit Rom die gesamte Ostkirche von der Einheit im
Glauben losriß. Doch sind diese Ereignisse, an sich folgenschwer genug,
nicht entfernt so welt- und kirchengeschichtlich umwälzend gewesen wie
jener Riß in Lehre und Bau, der seit dem Anfange des sechzehnten
Jahrhunderts durch die Christenheit geht. Es war die Geburtsstunde des
herbsten aller Probleme, der Diasporaseelsorge.
Als nach den schweren Verlusten, die die Kirche damals erlitt, der
Westfälische Friede den Dreißigjährigen Krieg und ein rundes
Jahrhundert schärfsten Glaubenskampfes beendete, wurden in einer herben
"Bilanz" alle jene staatlichen Grenzen festgelegt, die zugleich auch
den territorialen Besitzstand der Konfessionen nach dem Grundsatz:
"Cuius regio - eius religio" umrissen. Ein Stand, der trotz der
einschneidenden Eingriffe der Säkularisation in Hoheitsrecht und
weltliches Besitztum der Kirche, der Neuumschreibung einer Reihe von
Bistümern, bis beträchtlich in das 19. Jahrhundert hinein unverändert
blieb und im Kern noch heute die Grundfarbe aller "Konfessionskarten"
abgibt. Diese Festlegungen mit allen ihren Klammern staatlicher
Rechtspositionen etwa, waren so stark in das Bewußtsein, in das
praktische Verhalten, in die Vorstellungswelt eingedrungen, daß sie
hierin noch unverändert bestanden, als längst kleinere und mit dem
fortschreitenden 19. Jahrhundert bedeutendere Umschichtungen im Gange
waren, die die Farbtöne des Bildes zu verändern begannen.
Die immer stärker fortschreitende Industrialisierung des 19.
Jahrhunderts mit ihren großen Binnenwanderungenstellte dann in aller
Schärfe dieses Problem, das wir heute unter dem Wort "Diaspora"
begreifen, heraus. Die Bekenntnisse wurden in bisher nicht gekanntem
Maße durcheinander geworfen, die Geschlossenheit überwiegend
katholischer Bezirke geschwächt und Hunderttausende von Katholiken der
Arbeitsgelegenheit nach in die großen Räume anderen Glaubens gezogen,
vielfach unter recht ungünstigen wirtschaftlichen, sozialen und
sittlich-religiösen Bedingungen. Es war dies eine Entwicklung, die auch
im 20. Jahrhundert nicht abklang, sondern unter anderen politischen,
volkswirtschaftlichen und "weltanschaulichen" (nicht religiösen, in
bestimmter Weise sogar anti-kirchlichen und anti-religiösen) Aspekten
fortgesetzt und durch die Möglichkeiten der modernen Massenbeförderung
noch verstärkt wurde.
So haben geschichtliche, religiöse und volkswirtschaftliche Ursachen
zusammengewirkt, vor allem den deutschen Norden und Nordosten zu einem
klassischen Diasporagebiet zu machen, das innerhalb der Kirche
vielleicht nicht mehr seinesgleichen hat. Aber die dornige Mühe auf
dieser verlassenen Flur vollzieht sich unter dem gewaltigen, ebenso
ehrfurchtgebietenden wie trostspendenden Schatten einer großen
katholischen Vergangenheit: wenn auch die stattliche Anzahl
bischöflicher Sitze, die unser Vaterland einst von Erfurt bis an die
äußersten Nordgrenzen deutschen Kultureinflusses, bis nach Island
einerseits und Dünaburg andererseits, zierten, nach Gottes Willen fast
restlos untergegangen ist, so ragen doch noch vielerorts die herrlichen
Dome der Vorzeit gen Himmel.
Ja, hier ist der wahre Muttergrund unserer Diaspora! Dieser ehrwürdige
Boden birgt noch die zwar stark beschnittenen, doch, so hoffen wir,
nicht endgültig erstorbenen Wurzelstöcke, aus denen einmal für
Jahrhunderte eine reiche katholisch-deutsche Lebensmeisterung erwuchs!
Menschlichem Ermessen nach ist schwerlich damit zu rechnen, daß die
Glaubenslage etwa des dreizehnten Jahrhunderts sich jemals
wiederherstellen werde. Gott weiß allein, ob und wann er diese
bitterste Heimsuchung der deutschen Kirche beenden wird, die zugleich
das tragische Schicksal unseres ganzen Volkes ist.
(aus: Hubert Butterwege und Albert Eredle: "Auf Gottes
Waage - Christen in Glaubensnot und Zerstreuung" Paderborn 1956, S. 13
ff.)
***
Die Not der heimatlosen Seele
von
Otto Feige
Heimat, ein Wort, das zum Herzen spricht. Heimat, das ist die kleine,
umfriedete Welt, der gesegnete Boden, in den das Herz seine stärksten
Wurzeln senkt. Das Haus, in dem du geboren wurdest, wo die Mutter dich
beim Namen rief und der Vater dir das Brot reichte; die braune Erde,
die der Ahn schon gewendet und bebaut hat; die Linde, unter der du am
Feierabend geruht und geträumt hast, der Brunnen, aus dem du
schöpftest, das alles ist Heimat. Heimat, das ist für den religiösen
Menschen vor allem die Kirche. Hier steht der Brunnen, wo du
wiedergeboren wurdest aus dem Wasser und dem Heiligen Geist, wo der
himmlische Vater dich hebend beim Namen rief. Hier steht der Tisch, wo
Er dich gesättigt mit Seinem Himmelsbrot. Hier steht das Kreuz, der
Baum des Lebens, in dessen Schatten du ruhtest, wenn du mühselig und
beladen warst. Man sagt mit Recht, die Kirche ist die Heimat der Seele.
Man kann auch sagen, sie ist die Seele der Heimat. Glücklich der
Mensch, der das hat, dem die Kirche Heimat ist, Haus des Vaters, wo er
weiß, hier bin ich daheim, hier ruh' ich mich aus.
Diese heimatliche Geborgenheit der Seele entbehrt der Katholik in der
Diaspora. Er hat keine Kirche. Seine Seele ist hungrig, durstig und
müde, aber da ist kein Tisch, an dem sie sich sättigen, kein Brunnen,
an dem sie ihren Durst löschen, kein Schatten, in dem sie ruhen könnte.
Ab und zu, vielleicht einmal im Monat, kommt ein Priester von weither.
Dann wird ein Tisch für den Gottesdienst hergerichtet, in irgendeiner
Wohnung, in einer Schule, in einem Wirtshaus, in einem Tanzlokal. Einen
Augenblick brennen Kerzen, schimmert der Kelch, leuchtet die weiße
heilige Hostie. Aber dann kehrt der graue Alltag zurück in den grauen
Raum. Der Tisch wird abgeräumt, der Priester geht wieder weg; die
Kerzen sind erloschen. Wo eben noch das erhabenste Geheimnis gefeiert
wurde, wird wieder gegessen, geschlafen, getrunken, geraucht, getanzt -
gesündigt. Gewiß, Architektur ist nicht das Letzte. Prunkvolle Kelche,
edelsteingeschmückte Monstranzen, brokatene Gewänder sind nicht der
Hochglanz des heiligen Opfers. Das Strahlende der heiligen Messe, ihre
Sonne ist Christus in der heiligen Hostie. Wo Christus gegenwärtig ist,
da wird die ärmste Hütte zum Hause Gottes und zur Pforte des Himmels.
Aber wer sieht so tief, und wer wollte es den armen Vertriebenen, die
den kultischen Reichtum des katholischen Ostens mit der Armseligkeit
der Diaspora vertauschen mußten, verargen, wenn sie klagen, daß sie von
der Weihe und Würde des Gottesdienstes so wenig verspüren. Im Hohen Dom
zu Paris, bei einem feierlichen Weihnachtsgottesdienst, fand Paul
Claudel, der bekannte französische Diplomat und Schriftsteller, den
Glauben seiner Kindheit wieder. Er konnte sich nicht sattsehen an dem
erhabenen Schauspiel der heiligen Messe. Die Großartigkeit des Raumes,
die Schönheit der Liturgie hatten ihn überwältigt. So ist nun einmal
der Mensch: die Schön-heit der Form spricht zu seinem empfänglichen
Herzen, und in einer hochgewölbten, stimmungsvollen Kirche, in der ein
leiser Hauch von Blumen und Weihrauch sich mischt mit der
geheimnisvollen Ausstrahlung vergangener Jahrhunderte, betet es sich
besser und findet das Herz leichter zu Gott als etwa in einem Tanzsaal,
der noch vom Bierdunst und Zigarettenrauch der vergangenen Nacht
geschwängert ist.
Vor kurzem schrieb ein schlesischer Flüchtling an seinen ehemaligen
Heimatpfarrer. Er schilderte die Fremdheit seiner Umgebung, seine
bedrängte Lage, seine kümmerlichen Wohnverhältnisse, seinen mageren
Arbeitslohn. Der Mann hatte früher bessere Tage gesehen und litt
offensichtlich schwer an den veränderten Verhältnissen. "Aber das",
schrieb er am Schluß, "wäre noch zu ertragen. Der Mensch gewöhnt sich
schließlich an alles. Aber das Schlimmste ist: Wir haben hier keine
Kirche und keinen Priester. Nur ganz selten, acht Kilometer von hier
entfernt, ist Gelegenheit, der heiligen Messe beizuwohnen. Und daran
werde ich mich nie gewöhnen."
Indes, der Mann, der das schrieb, hat das Schlimmste noch nicht gesagt.
Noch weiß er ja um das, was ihm fehlt. Er leidet darunter, "er kann
sich nicht daran gewöhnen". Nein, das Schlimmste ist das noch nicht,
wenn ein Mensch leidet, weil seine Seele Heimweh hat nach den
Gnadenschätzen der Kirche. "Selig sind, die Heimweh haben, denn sie
werden nach Hause kommen", so beginnt ein Buch des frommen Arztes
Jung-Stilling, des Freundes Goethes. Das Schlimmste, das
Allerschlimm-ste ist, wenn ein Katholik sich an die Diapora gewöhnt
hat. Wenn er sich abgefunden hat, wenn das Heimweh seiner Seele
eingeschlummert ist. Wieviele sind es, die in der Diaspora allmählich
dieser tödlichen Gefahr erliegen.
Ein Priester der Mark Brandenburg behauptet in einer Broschüre über
Diasporaseelsorge: "Ich habe meine Erfahrungen in den siebenunddreißig
Jahren meiner Diasporaseelsorge gesammelt. Die an einem Ort leben, wo
eine katholische Kirche steht, können hier nicht mitreden, sondern nur
die andern, die zehn Kilometer und mehr von der Kirche entfernt wohnen.
Sie werden mir hundertprozentig recht geben, wenn ich schlankweg
behaupte: Wer zehn Kilometer und mehr von der Kirche entfernt wohnt und
keine Fahrgelegenheit hat, wird mit der Zeit seinen Glauben verlieren."
Ist das nicht schrecklich?
Und können wir ermessen, was das bedeutet?
Wir haben in den schrecklichen Jahren, die hinter uns liegen, den
Hunger kennengelernt. Wir wissen, daß er weh tut und wie sehr er den
Körper schwächt. Wenn ein Hungriger an deine Tür klopfte und bäte um
Gottes willen um ein Stückchen Brot, könntest du dann hart sein?
Törichte Frage! Selbstverständlich wird man da helfen, man ist doch
kein Unmensch. Da tut man doch, was man kann. Nun, es gibt eine Not,
die größer ist als die Not des Leibes: die Not der hungernden,
heimatlosen Seele. Haben wir ein Herz auch für diese Not? "Was weiß
der, der nicht gelitten hat", fragt die Heilige Schrift. Was wissen wir
denn, die wir im Schatten eines Kirchtums wohnen, wohlbehütet und
wohlversorgt mit allen Reichtümern des Himmels, was wissen wir von dem
Heimweh derer, die an den Flüssen Babylons sitzen und sich verzehren in
Sehnsucht nach dem Hause des Herrn. Wir haben unseren Pfarrer, wir
haben unsere Kirche, wir haben Altar, Tabernakel und Kommunionbank; wir
haben Beichtstuhl und Kanzel. Wir haben nie gehungert, wir saßen immer
an gedeckten Tischen. Wir haben nie gedürstet, uns rauschten Ströme
lebendigen Wassers aus sieben nie versiegenden Gnadenquellen. Was
wissen wir von der Diaspora, von dem Hunger und der Verlassenheit
heimatloser Seelen. Von den Kindern, die ohne Religionsunterricht
heranwachsen, von den Sterbenden, die ohne Sakrament hinübergehen, weil
der Priester nicht rechtzeitig zur Stelle sein kann; von dem Heldenmut
der Diasporapriester, die zwanzig Kilometer und mehr mit Fahrrad und
schwer bepacktem Rucksack bei Wind und Wetter überwinden müssen, um
Gottesdienst halten zu können. Von den Opfern der Gläubigen, die an
Sonntagen, da Gelegenheit zur Teilnahme am Meßopfer gegeben ist, in
aller Frühe noch vor Sonnenaufgang sich auf den weiten Weg machen und
spät abends erschöpft und todmüde vom Kirchgang nach Hause kommen. Was
wissen wir davon, und was geht das uns an? Das ist eine Frage an
unseren Glauben.
(aus: Hubert Butterwege und Albert Eredle: "Auf Gottes
Waage - Christen in Glaubensnot und Zerstreuung" Paderborn 1956, S. 112
ff.)
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AUSSICHTEN AUF ÜBERLEBEN
von
Prof. Diether Wendland
(aus: DIE RÖMISCH-KATHOLISCHE DIASPORA-KIRCHE - FIKTION ODER WIRKLICHKEIT? - EINSICHT, 22. Jahrgang, Mai 1992)
Was können einzelne, die in der Zerstreuung leben, in Ansehung einer
solchen Sachlage noch tun, die ihnen heute doch wahrhaftig keinen
großen Spielraum mehr läßt? Sicherlich wird die röm.-kath.
Diaspora-Kirche das 20. Jahrhundert überleben. Darüber besteht
überhaupt kein Zweifel. Denn Christus ist nicht gegen sie und ihre
schwachen Glieder. Die Frage ist und kann allein nur sein: Wie und auf
welche Weise wird sie überleben und auch überleben können? Darüber
jedoch besteht noch sehr viel Unklarheit in allen Regionen, die sich
überblicken lassen (was in Europa leichter ist als anderswo). Ich
persönlich und andere halten auch nichts von einem sog.
"unvollständigen Konzil" für bestimmte Zwecke, bevor nicht eine
besondere Organisationsform existiert und wirksam geworden ist, die der
röm.-kath. Diaspora-Kirche angemessen ist (vielleicht am besten erst
regional und dann überregional). Auch eine Ecclesia in der Diaspora,
d.h. in der Zerstreuung, muß ihre Einheit bewahren, und zwar unter
Beachtung und nach Maßgabe der Prinzipien einer ecclesiologischen
Einheit.
Die römische 'Konzils-Kirche' existiert nicht bloß in Rom - dort sitzt
nur ihr Oberhaupt, wenn es sich nicht gerade auf einer 'Pilgerreise
befindet -; vielmehr hat sie sich auch in allen Diözesen häuslich
eingerichtet, nachdem sie diese Territorien ohne Wiederstand übernehmen
konnte. Nur diese Sache kann man als Okkupation bezeichnen. Was jedoch
die Okkupanten selbst betrifft, so sind sie nichts anderes als Diebe
und Räuber fremden Eigentums, das ihnen leider noch niemand streitig
gemacht hat, weil man eben auch in dieser Beziehung zu schwach ist.
Indessen wird doch niemand gezwungen, an diese Okkupanten Steuern und
andere Abgaben zu zahlen! Kann man Leute, die so etwas tun, als
katholische Christen bezeichnen? An solchen und anderen Merkmalen war
immer schon leicht erkennbar, wo und in welcher Richtung man orthodoxe
Diaspora-Katholiken nie finden und vergeblich suchen wird. (Die
seltenen Ausnahmen, die sich von der 'römischen Konzils-Kirche' zu
lösen versuchten, bestätigen hier nur die Regel.) Diese wiederum waren
sich dessen bewußt, in Zukunft nur noch hartes Brot essen zu können.
Wenn orthodoxe Katholiken nicht durch Selbstmitleid, Bewegungslosigkeit
und Untätigkeit oder Stummbleiben an ihrer Seele oder an dem, was man
als "lebendigen Glauben" bezeichnet, Schaden leiden wollen, dann
sollten sie zuerst einmal zwei gefährliche Übel in der Gegenwart
deutlich erfassen, die jedoch von einander grundverschieden sind:
1. den monströsen Koloß der häretischen und apostatischen 'römischen Konzils-Kirche' und
2. die außerhalb derselben existierende röm.-kath. Diaspora-Kirche in
ihrer Schwäche, die zum großen Teil selbstverschuldet ist.
Denn man kann, wie doch jeder vernünftige Mensch weiß, gegen physische
und moralische Übel nur dann etwas tun, wenn man sie als solche klar
erkannt hat und auch ihre Ursachen kennt. Andernfalls gerät man
unversehens auf falsche Wege, die nicht zum Ziele führten bzw. führen.
So geht es doch schon viele Jahre lang, ohne daß sich generell und vor
Ort an der kirchlichen Situation irgend etwas zum Besseren geändert
hätte. Das ist eine Tatsache, die niemand leugnen kann und aus der man
dann aber auch die richtigen Schlüsse ziehen sollte.
Zudem sollten sich orthodoxe Diaspora-Katholiken davor hüten, ihre sog.
'traditionalistischen' Feinde zu verkennen, da diese Leute für so
manchen genau so gefährlich sind wie die 'konziliaren'. Es hat doch
keinen Sinn und führt keinen Schritt weiter, wenn Katholiken sich immer
nur über "die Zukunft der kath. Kirche" Sorgen machen und darüber wilde
Spekulationen anstellen, indessen die kirchliche Situation der
röm.-kath. Kirche in der Gegenwart nicht sehen, wie sie wirklich ist
und welche Forderungen sie an jeden einzelnen als ein Glied der Kirche
stellt. Denn alle Glieder der Kirche sind, wie der hl. Paulus sagt,
auch untereinander Glieder, und wo ein Glied schwach ist, dort sind es
auch die anderen, die mit ihm zusammenhängen. Die röm.-kath.
Diaspora-Kirche aber ist als ganze von einer offenkundigen Schwäche
betroffen, die ihre Ursachen hat. Also versuche man wenigstens, die
Hauptursachen dieser Schwäche zu erkennen und zu beheben, vielleicht
sogar durch eine gemeinsame Aktion auf regionaler Ebene, falls das noch
möglich ist. Eine kirchliche Diaspora-Situation hat einen zeitlichen
Anfang. Warum soll sie dann nicht auch ein zeitliches Ende haben? Also
bitte man diesbezüglich Christus, den Herrn um Seine Hilfe. |