Sehnsucht nach Leitbildern
Popestar oder Stellvertreter Christi:
Die Pilgermassen in Rom sind ein soziologisches Wunder
von
Ellen Kositza
Die Tage der Trauerfeierlichkeiten um den Tod Johannes Pauls II.
glichen einem Wunder, einem weltlichen, sozialkundlichen zumal: Die
Welt hat summarisch - moderner Infrastruktur sei Dank - kein größeres
Begräbnis erlebt, und es war, alles in allem, ein würdiger Abschied,
der dem katholischen Oberhirten bereitet wurde. Gerade die Jugend der
Welt, so schien es, drückte mit ihrer überwältigenden Präsenz ein
ergreifendes, ungeahntes Bedürfnis nach christlicher Führung,
religiöser Substanz aus. Die Fernsehkameras konnten sich kaum satt
sehen an hübschen polnischen Mädchen, die versunken ihren Rosenkranz
beteten und dabei die Tränen auf den rosigen Wangen abzuwischen
vergaßen, an modisch gekleideten Jugendlichen aus aller Welt, die
sprachübergreifend christliche Choräle anstimmten, an Pilgerguppen,
die, oft eingehüllt in den Fahnenstoff ihrer Nationalflagge, kühle
Nachtstunden sitzend ausharrten.
Wie ist die bereits aufgrund der Masse der Trauergäste und Pilger
überwältigende Verabschiedung des Verstorbenen zu begreifen? Es ist
klar, daß viele gekommen sind, weil schon so viele gekommen sind - ein
wohlbekannter Effekt jeglicher Massenphänomene. Natürlich besaß der
Massenauflauf in Rom auch Event-Charakter (das Wortspiel "Popestar"
kündet davon). Wer behauptet, allein ein vielstündiges Anstehen in der
Warteschlange beweise wahre Gläubigkeit, hat noch nie die dürftigen
Nachtlager auf hartem Asphalt gesehen, die sich Fans modischer
Musikgruppen errichten, um 24 Stunden später in erster Reihe ihrem
Pop-Idol zujubeln zu dürfen. So dürfte auch das per Mobiltelefon
geknipste Bild des aufgebahrten Johannes Paul II., trotz Verbots - von
der offensichtlichen Unschicklichkeit ganz zu schweigen - tausendfach
aufgenommen und verschickt, die moderne Ikonographie um den Papst
kennzeichnen: Ein Idol ist gestorben - ich war dabei!
Wer weint, hat immer recht, sagt das moderne Volkslied, und auch
darüber hinaus verbietet es sich zu hinterfragen, ob die Sturzbäche der
auf dem Petersplatz geweinten Tränen der Sorge um das himmlische Heil
des Verstorbenen oder einer allgemeineren Sehnsucht nach ultimativer
Ergriffenheit entsprangen. Die seelische Befindlichkeit Einzelner in
der gigantischen Trauergesellschaft ist unmöglich zu ergründen. Doch
als was läßt sich die unwiderlegbar spirituelle Ergriffenheit der
Pilger fassen, vor allem die der Hunderttausenden Jugendlichen unter
ihnen? Ist es fromme Anbetung oder bloß religiös verbrämte Hysterie,
wie sie auch andere charismatische Erscheinungen gerade des vergangenen
Jahrhunderts hervorriefen? Hier an den neu wieder aufkeimenden Kult um
Lady Di zu erinnern, ist keine Blasphemie, sondern eine soziologische
Parallele: Der in unserer durchrationalisierten Welt immer stärker sich
meldende Hunger nach Idolen, nach Mystik, nach Ritual, nach Gültigkeit
bündelt sich hier wie dort.
Wahre veneratio, die anbetende Verehrung, verlangt nun keine
theologisch- wissenschaftlichen Kenntnisse. Wer je die alltäglich lange
auf Einlaß wartende Menge Gläubiger vor dem Paulinerkloster in
Tschenstochau am Bildnis der Schwarzen Maria Mutter Gottes hat weinen
und hernach vor der Ikone reihenweise zusammenbrechen sehen, all die
Greise und jungen Bauernmädchen, weiß, daß Glaubenserfahrungen nicht
der Durchdringung mit dem Intellekt bedürfen. Er ahnt zugleich, daß
manchem Volkscharakter fromme Gläubigkeit zugrunde liegt - so feierten
die knapp zwei Millionen nach Rom gereisten Polen eben nicht den
einzigen Popstar, den ihr Land hervorgebracht hat, wie es
Medienberichte mit weltläufiger Gehässigkeit nahelegten, sondern den
Hüter einer Tradition, den geistlichen Halt in der Welt.
Die allseits vorgebrachten Argumente, die Masse der vor dem Petersdom
versammelten Jugendlichen habe selbstverständlich die Antibabypille in
der Tasche, kümmerte sich wenig um das Kondomverbot oder um sonstige
Pfeiler katholischer Morallehre, sind jedoch bedenkenswert. Echte
veneratio würde bedeuten, mit Johannes Paul II. den Nachfolger Petri,
den irdischen Stellvertreter Christi zu beweinen und damit die
katholische Kirche - eben auch die vielgescholtene, längst zum Klischee
einer starren Institution diskreditierte Amtskirche - als Stiftung
Christi und Garant der Wahrheit zu bejahen. Gott kennt kein
Wenn-und-aber, seine Kirche ist kein Plauderforum, sondern Säule und
Grundfeste der Wahrheit. Das mag denjenigen entgangen sein, die den
Mikrofonen so euphorisch wie brav die unendliche Toleranz und die
globalen, banalen Wünschbarkeiten von Friede, Freude und
interreligiöser Zusammenarbeit als Erbe des Papstes referierten. "Er
lehrte uns vor allem, den Glauben anderer zu respektieren", drückte
eine Deutsche vielsagend die von ihr als am wichtigsten empfundene
Lebensbotschaft des Pontifex aus. Jene fahnenschwenkenden,
"Heiligsprechung jetzt!" skandierenden jungen Menschen priesen auch den
"lockeren, sportiven, für Faxen zu habenden" Papst, (...) den Erfinder
der "Weltjugendtage", der im Ramadan muslimische Gläubige zum Fasten
aufrief.
Auftritte und künstlerischer Ausdruck der Rock-Formation Laibach,
Hauptableger des Künstlerkollektivs Neue Slowenische Kunst, sind seit
zwei Jahrzehnten umwoben von Legenden. Wenn die bärtigen Mannen in
ihren kryptischen Uniformen - einer Mixtur aus priesterlichem Ornat und
NS-Anleihen - auf den Bühnen vorwiegend des linken Milieus, aber auch
auf den großen sommerlichen Freiluftkonzerten mit ihrer
hochartifiziellen Schau auftreten (...), pflegt die Anhängerschaft
sowie die bunte Menge der Zufallshörer mittels frenetischer Rufe "Ein
Leitbild!" einzufordern. Dem Ruf und vermeintlichen Titelwunsch wird
meist erst per Zugabe Folge geleistet durch die mit öffentlichen
Stellungnahmen sparsam umgehende Gruppe, die ihre Alben "Opus Dei" und
"Jesus Christ Superstar" betitelt.
Das euphorisch verlangte Stück heißt eigentlich "Geburt einer Nation",
ist eine auf deutsch dargebrachte Cover-Version des bekannten
"Queen"-Titels "One vision" und zugleich eine totalitäre
Synchronisation des Glaubensbekenntnisses. Martialisch, marschartig
hämmert der Rhythmus, sonor kündet eine tiefe Stimme: "Ein Mensch, ein
Ziel - und eine Weisung. Ein Herz, ein Geist - nur eine Lösung. Ein
Gott, ein Leitbild. Ein Ruf, ein Traum, ein starker Wille. Gebt mir ein
Leitbild! Ein Fleisch, ein Blut, ein wahrer Glaube. Ich sag es dir, das
Schwarz und Weiß ist kein Beweis. Nicht Not, nicht Tod - wir brauchen
bloß: ein Leitbild für die Welt!" Das Publikum, ob Irokesenfrisur oder
Bürstenschnitt, jedenfalls definitiv fern jeglicher christlicher
Erziehung, reckt stumm die Arme, spricht nur diesen Ruf mit, während
auf der Leinwand im Hintergrund Kruzifixe, Marschkolonnen und
Prozessionszüge flimmern: Ein Leitbild! Der Wunsch nach einem Leitbild,
den unter weltlichen Führungskräften heute kaum einer zu erfüllen
imstande ist, ist darüber hinaus eine Sehnsucht nach Väterlichkeit im
alten Sinne, nach Autorität, nach Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit, auch
nach Regeln und Grenzen, die das freigelassene Individuum umhegen -
und, freilich, an denen es sich reiben kann im existentiell
reibungslosen Alltag der westlichen Welt. Das Bedürfnis nach Führung
ist unübersehbar - Gefolgschaft allerdings verlangt mehr als trubelige
Highlight-Präsenz. Ob der Nachfolger Johannes Pauls II. den ihm
anvertrauten Felsen härten oder aber zum Tropfen werden wird, der den
Stein höhlt, muß sich zeigen.
© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/05 15. April 2005
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