EINBLICKE IN UNSERE PERVERSE, UNHEILE WELT
- ODER: GRENZEN DER WERBUNG
EIN GESPRÄCH ZWISCHEN DEM PHILOSOPHEN NEIL POSTMANN UND DEM BENETTON-PHOTOGRAPHEN OLIVIERO TOSCANI
Vorwort der Redaktion
Unsere Welt wird immer stärker durch Bilder und Symbole beherrscht. Die
Suggestion, besonders der Werbung, die allein schon durch das Fernsehen
und den Rundfunk bis in den letzten Winkel ausgestrahlt wird, hat
inzwischen einen solchen Grad der psychischmanipulatorischen Raffinesse
erreicht, daß das Interesse der Angesprochenen nicht mehr direkt auf
das propagierte Objekt hin stimuliert wird, sondern daß ein allgemein
als Ideal anerkanntes Ziel oder als ideal betrachteter Zustand
vermittelt wird, der in Verbindung mit gewissen Objekten bzw. Waren
gebracht wird. Man wirbt nicht mehr schlicht für eine gewisse
Wurstware, sondern demonstriert sportliche Ertüchtigung als
Lebenserfüllung, die durch den Verzehr eben jener Wurstsorte erreicht
wird. Ein anderes Beispiel möge das ebenfalls demonstrieren: Eleganz
und Exklusivität werden von der Kleiderwarenfabrik XY besetzt... oder
durch die bekannten Automarken. Wehe den Eltern, die ihren Kindern
diese (schwäbische) Exklusivität mit dem gewissen Wapperl verweigern...
ihre Kinder sind unter ihresgleichen Outlaws, Außenseiter (bei Autos:
wehe, wenn der Vater seinem studierenden Sprößling den Scheck für den
Schlitten, nun ja: mit dem Stern verweigert!). Und den "Duft der großen
weiten Welt" - Sie kennen das - vermittelt eine bekannte
Zigarettenmarke. Die faszinierenden Bildfolgen, die unterlegte Musik,
denen besonders die Jugendlichen erlegen sind, haben dabei nur die eine
Absicht, die Urteilsfähigkeit beim Zuschauer oder -hörer auszuschalten.
Die Faszination der Werbung bleibt trotz eines Überangebotes bestehen,
werden doch immer neue Stimulanzen entwickelt und angeboten, die eine
Übersättigung nicht aufkommen lassen sollen. Denn ganze Heere an
Psychologen, Soziologen, Markt- und Meinungsforschern arbeiten mit
immensen Etats nur daran, immer neuere und subtilere Mittel zu
entwickeln, das Interesse potentieller Zielgruppen zu manipulieren. Die
Werbung in dieser Art ist damit zu einem ernst zu nehmenden und
gefährlichen Machtmittel geworden, das nicht nur im kommerziellen
Bereich, sondern längst schon im politisch-kulturellen und religiösen
Bereich eingesetzt wird.
Die Werbung der italienischen Pulloverfabrik Benetton geht in der
aufgezeigten Richtung der Manipulation noch einen Schritt weiter.
Sicherlich werden so manchem die Werbeplakate aufgefallen sein, die mit
scheinbar unpassenden Bildern für ein Produkt bzw. für eine Firma
werben, die in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem Produkt stehen,
für das sie werben sollen: sterbender Aids-Kranker; Schiff, welches von
albanischen Flüchtlingen überquillt; gerade eben entbundener Säugling.
(Gerade dieses letzte Plakat hat weltweit erheblichen Protest
hervorgerufen, in England wurde es sogar verboten.) Was ist nun das
eigentlich Problematische an dieser Art von Werbung? Die 'Macher' und
der Photograph Toscani, die für Benetton arbeiten, besetzen nicht nur
ein gewisses Gefühl, ein bestimmtes Ideal oder einen Lebensstil mit
einem gewissen Produkt, sondern stellen menschliches Elend, religiöse
und politische Symbole und Tabus vor, um sie dann in Verbindung mit der
Firma Benetton (und natürlich ihrer Waren) zu bringen. D.h. Aids ist
nur noch in Verbindung mit Benetton interessant; auf die Religion
bezogen: christliche Symbole sind nur noch insofern wichtig, als man
mit ihnen für Pullover und Strickwaren werben kann. Das Prinzip, daß
"die Zwecke nicht die Mittel heiligen", gilt schon lange nicht mehr.
Meiner Meinung nach ist es auch kein Zufall, daß es gerade Italiener
sind, die ihre perversen Aktivitäten darauf richten, religiöse Symbole,
ja Gott selbst zu verhöhnen. Man denke nur an den schon erwähnten
Toscani (Profanierung religiöser Symbole), an den Regisseur Varese (der
den blasphemischen 'Jesus'-Film drehte) oder an die berüchtigte
Sexistin und Schlagersängerin "Madonna", die den Namen der Muttergottes
mißbraucht, auch sie ist italienischer Abstammung. Dort, wo die
Religion am nächsten war, ist die Gefahr ihrer Pervertierung auch am
größten.
Ausschnitte aus dem nachfolgenden Gespräch, das vor kurzem in München
geführt wurde, sollen die aufgezeigten Gefahren illustrieren. Sie
wurden entnommen der "Süddeutschen Zeitung - Magazin" No. 41 vom
9.10.l992.
Eberhard Heller
***
Postmann (im nachfolgenden abgekürzt mit "P"): Irgendwo habe ich
gelesen, Luciano Benetton sehe die Hauptaufgabe der Werbung seiner
Firma nicht darin, den Verkauf von Pullovern anzukurbeln, sondern die
Leute zum Nachdenken zu bringen. Ich halte das für eine Lüge.
Toscani (im nachfolgenden abgekürzt mit "T"): Warum? Luciano Benetton
hat mir nie gesagt, ich solle eine Werbekampagne machen, damit er mehr
Pullover verkaufen kann.
P: Das braucht er auch nicht eigens zu betonen. Jeder Werbefachmann
weiß, daß es darum geht, den Umsatz zu steigern. Das ist
selbstverständlich.
T: So selbstverständlich ist das heute nicht mehr. Die Unternehmen
betreiben Marktforschung, geben alle möglichen Studien in Auftrag und
entwickeln Marketingstrategien - das garantiert die Umsatzsteigerung.
Mit der Werbung gehe ich deshalb einen ganz anderen Weg. Ich mache
keine Produktwerbung, ich sage nicht "Unsere Ware ist besser als die
der Konkurrenz oder billiger oder sonstwas", ich benutze die Werbung
als Kommunikationsmittel, als Instrument, um die Leute anzusprechen.
Und wenn man sie anspricht, bringt man sie zum Nachdenken.
P: Andere versuchen das auch. Coca-Cola preist nicht einfach sein
Produkt an, sondern verkauft ein Lebensgefühl. Coke läßt uns an allem
Guten, Wahren und Schönen teilhaben. Die McDonald's-Werbung verheißt
familiäre Geborgenheit, Mercedes-Benz lockt mit Eleganz und Status.
T: Aber in der Mercedes-Werbung ist ein Auto zu sehen, in den Coca-Cola-Spots eine Flasche. Das machen wir nicht.
P: Kennen Sie die Calvin-Klein-Reklame im Fernsehen? Die versuchen wohl
so etwas Ähnliches: exotische Bilder, aufregende Situationen und zum
Schluß wird nur das Firmenlogo eingeblendet.
T: Das ist etwas anderes.
P: Was soll daran anders sein?
T: Weil das alles inszeniert ist, weil es nicht echt ist. Die ganze
Werbung ist ein riesiges Theater, "face" (d.i. "Mache" - im Original:
fake). Wir haben uns daran gewöhnt, daß Werbung die Wirklichkeit
ausblendet. Das ist uns vertraut und wir lehnen uns beruhigt zurück.
Aber sobald wir mit der Realität konfrontiert werden, sind wir empört.
P: Das Benetton-Plakat, auf dem ein Priester oder Mönch zu sehen ist,
der eine Nonne küßt, ist auch inszeniert, unecht, "face" ("Mache")...
T: Ja, aber es handelt von einer real existierenden Problematik.
P: Das Plakat mit den zum Handschlag vereinten schwarzen und weißen Händen - "face".
T: Aber das Motiv, der Vorgang, das ist Realität.
P: Ja und?
T: Wenn Sie in einen Wildwestfilm gehen, sehen Sie, wie die Cowboys die
Indianer erschießen. Im Krimi werden Leute umgebracht, im Kriegsfilm
sterben Frauen und Kinder. Niemand regt sich darüber auf. Aber wenn Sie
vom Kino nach Hause gehen und sehen die gleiche Szene auf der Straße,
sind Sie entsetzt. Unser Verstand ist programmiert, manche Bilder nur
in einem bestimmten Rahmen zu akzeptieren, und den durchbreche ich mit
meiner Werbung.
P: Das ist ein gefährlicher Weg. Wo er endet, habe ich in einem meiner
Bücher beschrieben und als Beispiel einen fiktiven Werbespot
geschildert: Jesus steht in einer Oase. Die Szene ist unterlegt mit
orientalischer Musik, im Hintergrund wiegen Palmen im Wind. Jesus
präsentiert eine Flasche Chardonnay und sagt: "Als ich in Kana Wasser
zu Wein verwandelt habe, hatte ich diesen edlen Tropfen im Sinn.
Probieren Sie ihn, und Sie werden bekehrt."
T: Das habe ich schon vor fünf Jahren gemacht, mit den Jesus-Jeans. Man sah einen Hintern in Shorts: "Folgt mir - Jesus."
P: O.k., in die nächste Auflage werde ich das als Fußnote aufnehmen.
Aber ich will Ihnen sagen, was daran gefährlich ist. Die zentralen
Symbole und die Bilder einer Kultur werden ausgehöhlt, sie werden ihrer
Bedeutung beraubt, wenn man sie für triviale Zwecke einsetzt. Die
Symbole des Christentums oder nationale Wahrzeichen...
T: Flaggen?
P: Ich habe an ein anderes Beispiel gedacht. Wir haben hier in den USA
eine jüdische Firma, die koschere Fleischwaren herstellt. "Unsere
Frankfurter haben mit dem Lebensmittelgesetz keine Probleme", lautet
deren Slogan, "denn unsere Wurst erfüllt sogar die Anforderungen einer
noch höheren Autorität", und der Mann in der Werbung schaut dabei zum
Himmel hoch.
T: Der Spruch ist gut.
P: Solch eine Reklame verbraucht für ihre schnöden Verkaufszwecke die
Symbole einer Kultur. Und die Kultur verarmt dadurch. Eine Kultur
braucht geheiligte Symbole, die vor profanem Gebrauch geschützt werden,
sonst wird sie hohl und leer. Weihnachten zum Beispiel: Wochenlang
werden die Wahrzeichen des Christentums dazu mißbraucht, irgendwelche
Produkte zu verkaufen. Und was ist am Ende vom Fest der Geburt des
Erlösers übrig?
T: Sie schreiben ein Buch über die Symbole oder über den Mißbrauch der
Symbole, und was ist Ihre Absicht? - Bücher zu verkaufen, nehme ich an.
Jeder verkauft irgendetwas.
P: Wenn Sie den Tod eines Aidskranken benutzen, um Pullover zu
verkaufen, wenn Sie das Bild einer Tragödie für einen trivialen Zweck
mißbrauchen, wie sollen wir dann erwarten, daß die Menschen noch echte
Gefühle entwickeln und auf die Tragödien des Lebens angemessen
reagieren? Wenn man ihnen sagt: "In Italien ertrinken die albanischen
Flüchtlinge", werden sie antworten: "Ja, ja, ich hab's in der
Benetton-Werbung gesehen." Und wenn in Äthiopien Kinder sterben, heißt
es: "Klar, ich weiß, damit verkaufen sie Coca-Cola."
T: Ich verstehe schon, was Sie meinen. Nur fürchte ich, daß genau diese
"heiligen Symbole" der Ruin der Menschheit sind. Die Leute bringen sich
gegenseitig um, weil der eine an diesen und der andere an jenen
Christus glaubt. Können Sie sich an das Bild von dem Soldatenfriedhof
erinnern, das wir im vergangenen Jahr veröffentlicht haben?
P: Es soll wohl die Sinnlosigkeit des Krieges illustrieren?
T: Genau, es ist ein Gräberfeld des Ersten Weltkrieges.
P: Haben Sie das Photo während des Golfkrieges aufgenommen?
T: Nein, schon vorher, als der Irak in Kuwait einmarschiert ist.
Luciano Benetton meinte, wir müßten etwas unternehmen. Da habe ich mich
daran erinnert, daß ich als kleiner Junge meinen Vater, er war
Pressephotograph, einmal zu einer Gedenkfeier auf so einem Friedhof
begleitet hatte.
P: Aber wenn solche Bilder zur Werbung werden, ändern sie ihre Bedeutung. Die Werbung läßt sie belanglos erscheinen.
T: Nein, das Gegenteil ist der Fall.
P: Ich will es Ihnen an einem Beispiel erklären. Das Fernsehen bringt
Nachrichten: Kämpfe in Jugoslawien, man sieht, wie eine Frau durch eine
Granate getötet wird. Gleich darauf folgt ein Werbespot für United
Airlines, dann die Meldung von einem Feuer in der Bronx, bei dem drei
Menschen verbrannt sind, anschließend werden Nike-Turnschuhe
angepriesen. Ich werfe hier die Frage nach dem Kontext auf. Die Leute
müssen den Eindruck gewinnen, so schlimm kann der Krieg auf dem Balkan
gar nicht sein, wenn im gleichen Atemzug für Fluglinien und Schuhe
geworben wird. Und genauso geht es mir mit dem Bild vom
Soldatenfriedhof, wenn ich erkenne, daß es sich um Werbung handelt.
T: Ich glaube, daß die Werbung heute eine ganz neue Art der
Kommunikation entwickeln muß. Für die Werbung werden Riesensummen
ausgegeben, mehr als für Spielfilme, mehr als für redaktionelle
Beiträge im Fernsehen und in den Zeitungen. Und was machen die
Agenturen mit dem Geld? Sie sagen: "Mein Pepsi ist besser als deins."
P: Und Toscani sagt: "Mein Soldatenfriedhof ist schöner als eurer."
(...) Gibt es Bilder, auf deren Verwendung Sie bewußt verzichten
würden?
T: Sogar eine ganze Menge. Aber prinzipiell lehne ich visuelle Tabus
ab. Eigentlich glaube ich nicht, daß es so etwas wie
allgemein-verbindliche Grenzen gibt, sondern nur selbst-gesetzte. Für
mich sind das mein Geschmack und meine Ethik.
P: Tabus sind die Markenzeichen einer Gesellschaft. Nicht zuletzt in
ihren Tabus unterscheidet sich die amerikanische von der persischen
oder die chinesische von der europäischen Kultur.
T: Steuerhinterziehung ist ein Tabu.
P: Ich würde gerne wissen, wo Sie Ihre Grenzen sehen. Wenn wir uns über
alle Werte und Wahrzeichen einer Kultur lustig machen, so daß ihnen die
Leute im Endeffekt keine Bedeutung mehr beimessen, zerstören wir die
Kultur.
T: Die Leute, die in und mit den Medien arbeiten, tragen natürlich eine
Verantwortung. Aber die Werte einer Gesellschaft wandeln sich im Laufe
der Zeit, deshalb müssen wir bestimmte Dinge immer wieder in Frage
stellen. Die Photos, die ich für die Benetton-Werbung einsetze, sind
wie ein Rorschachtest, der Farbtest der Psychologen. Es kommt immer
auch darauf an, was man in die Bilder hineininterpretiert. Was sehen
Sie zum Beispiel auf diesem Photo?
P: Drei Kinder, ein weißes, ein dunkelhäutiges und ein asiatisches,
strecken die Zunge heraus. Die Jungen machen sich über die
rassistischen Vorurteile der Erwachsenen lustig.
T: Ob weiß, schwarz oder gelb, bei allen dreien hat die Zunge die
gleiche Farbe. Deshalb habe ich das Bild gemacht. Und hier das nächste,
der schwarze Junge mit dem dunklen, zu zwei Hörnchen geflochtenen
Kraushaar und daneben das weiße, blondlockige Mädchen? Engelchen und
Teufelchen? So sehen wir das, weil wir an den Teufel und an Engel
glauben. Und dann kommen manche Leute auf die Idee, das Bild sei
rassistisch und machen mir Vorwürfe. Aber viele Völker kennen weder
Teufel noch Engel. Ein koreanisches Mädchen sagte mir, bei ihr zu Hause
hätte der Teufel nur ein Hörn, für sie sei der schwarze Junge kein
Teufel. - Das Photo ist nur ein Photo, der Rest spielt sich in unseren
Köpfen ab.
P: Ein beeindruckendes Konzept, es gefällt mir, daß Sie die Leute
aufrütteln wollen. Aber ist es nicht gefährlich, der Werbung - einer
gewinnorientierten Kommunikationsindustrie - die Aufgabe zu überlassen,
daß sie den Leuten sagt, an was sie glauben sollen und an was nicht?
Stellen Sie sich vor, der Vatikan käme zu Ihnen mit dem Auftrag, eine
Kampagne gegen den weltweiten Mitgliederschwund der katholischen Kirche
zu entwickeln.
T: Eine sehr interessante Aufgabe, aber ich würde das ablehnen.
P: Sie würden das nicht machen?
T: Nein.
P: Warum?
T: Weil ich das Produkt nicht mag. Aber das ist nicht der einzige
Punkt. Die Kirche hat jahrhundertelang die größten Künstler unter
Vertrag gehabt, Tintoretto, Tizian, Michelangelo. Vielleicht geht's mit
dem Katholizismus ja bergab, weil sie diese Kampagne aufgegeben haben.
Die Kirche hat das beste Logo, das je entwickelt wurde, das Kreuz.
Keine andere Organisation hatte je ein so gutes Kommunikationssystem
wie die Kirche: die Gemälde, die Freskos, die Architektur, die
Gewänder, die Madonna ... Die Jungfrau Maria, das ist historisch der
erste Fall der Ausbeutung des weiblichen Körpers für Werbezwecke. ( )
Wissen Sie, was ich dem Papst sagen würde? "Es tut mir leid, aber statt
der Hostie sollten Sie in Gottes Namen lieber die Pille austeilen."
Wenn die Frauen keine Kinder haben wollen, können sie jeden Tag in die
Kirche kommen und erhalten dort die Pille - wäre das nicht prima?
P: Lassen wir mal beiseite, daß Sie das Produkt dieser römischen Firma
nicht mögen. Ist es nicht ein wichtiger Unterschied, ob man für eine
Religion, für eine hehre Idee, Werbung macht oder für den Verkauf von
Pullovern?
T: Nein. Oder doch, ich denke, daß es verwerflicher ist, eine Idee zu
propagieren, eine Religion zudem, hinter der sich handfeste Geld- und
Machtinteressen verstecken.
P: Sie verfügen doch auch über Geld und Macht.
T: Ich habe die Mittel, an einem bestimmten Tag mit ein- und demselben
Bild auf die Umschlagseite aller Zeitschriften der Welt zu gehen - auf
den Anzeigenplatz. Kein Journalist hat diese Möglichkeit.
P: Ich wünschte, Sie hätten sie nicht.
T: Aber ich habe sie, also was soll ich tun? Soll ich Linda Evangelista
im Glitzerjäckchen photographieren oder Claudia Schiffer oder ein
anderes Modell, das die Kleider von mindestens weiteren fünf
Herstellern präsentiert? Oder soll ich etwas machen, was zwar einige
Leute verwirrt, aber viele auch zum Nachdenken anregt? Darin liegt
heute die Chance der Werbung.
P: Und trotzdem bleibe ich dabei: Sie setzen das Photo eines sterbenden Aidskranken für Verkaufszwecke ein.
T: Die verschiedenen Organisationen der Aidshilfe haben sich nicht
darüber aufgeregt. Die haben bei mir angerufen und mich beglückwünscht,
weil es endlich jemand geschafft hat, daß die Menschen über das Thema
reden. Schließlich sehen die Leute das Benetton-Logo und sagen sich:
"Aha, von denen ist das Aidsphoto und der Soldatenfriedhof." Wenn über
eine Firma so gesprochen wird, dann werden auch deren Produkte,
vielleicht nicht für intelligenter, aber auf jeden Fall für
interessanter gehalten als die der Konkurrenz.
P: Die Werbewirtschaft verfügt über das meiste Geld, über die
kreativsten Kräfte, über die modernsten Mittel der Massenkommunikation
und über Psychologen, die unsere Seele ausleuchten - da droht uns ein
totalitäres System, das die Themen der gesellschaftlichen Diskussion
bestimmt. Wenn es ihnen gefällt, setzen sie eben Aids auf die
Tagesordnung. Die Werbeleute sind die unlegitimierten Herrscher in
unserer Kultur. Aber wer kontrolliert sie? ( ) Wenn der Benetton-Umsatz
zurückginge, müßten Sie Ihre Kampagne wohl überdenken.
T: Der Umsatz geht nicht zurück. Mitten in der Krise, während überall
die Läden dichtmachen, haben wir einen Zuwachs von 18 Prozent. Aber zu
dem Erfolg tragen alle bei, die Produktforscher, die Marktforscher, die
Näherinnen, der Vertrieb, die ganze Firma. Die Lebensqualität der
Leute, die an dem Produkt arbeiten, ist ausschlaggebend. Aufgabe der
Werbung ist es, das Niveau der Firmenkultur widerzuspiegeln, die
Qualität des Denkens in einem Unternehmen nach außen sichtbar zu
machen.
P: Wieviel geben Sie denn für die Werbung aus?
T: Weltweit sind es pro Jahr 85 Millionen Dollar, in Deutschland an die
fünf Millionen Dollar, in den USA nur vier. Mehr lohnt sich nicht. Für
Benetton ist der amerikanische Markt gerade mal so groß wie der
kolumbianische. Aber das hat andere Ursachen, das liegt nicht an der
Werbung. (....)
P: Werden Sie die andere Werbung einstellen?
T: Nein, das geht nicht. Im Fernsehen haben wir nie viel gemacht, ich
halte nichts vom Fernsehen. Plakate und Zeitschriftenanzeigen bleiben.
Aber die Magazine sollten begreifen, daß sie sich neu orientieren
müssen, weg von diesen Lifestylegeschichten, hin zum wirklichen Leben,
das ist viel interessanter und spannender.
P: Komisch, daß ausgerechnet ein Werbemann so etwas sagt. Ich halte es
nämlich auch für sehr gefährlich, daß die Journalisten das Feld räumen
und den Werbeleuten sogar die politischen Nachrichten überlassen. In
den USA kann doch keiner mehr Präsident werden, der nicht auf seine
Imagedesigner hört. Genau besehen, tritt nicht Clinton gegen Bush an,
sondern die Agentur X gegen die Agentur Y. Womöglich kandidiert auch
Benetton demnächst für irgendein Amt.
T: Er ist Senator.
P: Wie bitte?
T: Er ist Abgeordneter im italienischen Parlament. Ich habe seinen
Wahlkampf geleitet, mit dem niedrigsten Budget, mit dem je ein
Wahlkampf geführt wurde, und er hat's geschafft. Als Kandidat für eine
kleine oppositionelle Mitte-Links-Partei, gegen die mächtigen
Christdemokraten, in einer Gegend, wo niemand auf seinen Erfolg
gewettet hätte.
P: Sie erfüllt das mit Stolz, mich mit Sorge. Die Menschen sind den
modernen Massenmedien hilflos ausgeliefert, das macht sich die Werbung
zunutze und besetzt mit den Bildern, die sie entwirft, mehr und mehr
unser Bewußtsein.
T: Stimmt, aber aufhalten können Sie diese Entwicklung nicht. Sie sind
Professor für Medienwissenschaft. Sie sind als Kritiker gefordert.
P: Vielleicht müssen wir wirklich wieder an dem Punkt anfangen, an dem
wir vor ein paar hundert Jahren schon einmal waren. Damals wurde die
politische Auseinandersetzung mit Büchern und Druckschriften geführt,
und in den Schulen hat man Textanalyse gelehrt. Die Menschen lernten zu
erkennen, was zwischen den Zeilen steht und was sich hinter den Wörtern
verbirgt, damit sie nicht alles glaubten, was sie lasen. Heute müßten
wir der Jugend beibringen, sich kritisch mit den Bildern der Werbung
auseinanderzusetzen, die Scheinwelten in Frage zu stellen.
Anmerkungen zu den Personen:
Neil Postman, 61 Jahre, ist
Professor für Medienökologie an der New Yorker Universität. Sein
Spezialgebiet: die künstliche Umwelt, die sich die Menschen in Form der
Medien, vor allem des Fernsehens, geschaffen haben. Publikationen (in
deutsch): "Das Verschwinden der Kindheit" 1983; "Wir amüsieren uns zu
Tode" 1985; "Das Technopol" 1992.
Oliviero Toscani, 50 Jahre, ist
seit über zehn Jahren für die Werbung der italienischen
Bekleidungsfirma Benetton verantwortlich. Er studierte Photographie an
der von Bauhaus-Avantgardisten gegründeten Kunstgewerbeschule in
Zürich, arbeitete ab 1965 als Modephotograph für internationale
Zeitschriften.
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