54. Jahrgang Nr. 7 / Dezember 2024
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1. DIE HEILIGE NACHT
2. VOM HL. PAPST PIUS X.
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4. Zum Problem der gegenwärtigen Vakanz des römischen Stuhles
5. GOTTES VERGESSENE KINDER
6. EINBLICKE IN UNSERE PERVERSE, UNHEILE WELT
7. DIE HL. ADELHEID
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9. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
10. Mitteilungen der Redaktion
GOTTES VERGESSENE KINDER
 
GOTTES VERGESSENE KINDER

DREI TAGE RUMÄNIEN -
EINE REISE IN DAS LAND DER HOFFNUNGSLOSEN
ODER: WIE WEIT REICHT EUROPA?


von
Henryk Goldberg

(...) Die Straße hinter der Grenze (zu Ungarn, Anm.d.Red.) gleicht einer langgezogenen Mülldeponie, der Schnitt zwischen den beiden Welten ist scharf und übergangslos. Wir fahren noch 600 Kilometer in das Land hinein und finden längs der Straße nicht eine geöffnete Tankstelle. (...) Am späten Nachmittag des zweiten Tages sind wir in Cincu, Siebenbürgen, Bezirk Brasow. Die Kreisstadt Fagaras hat 55000 Einwohner, l0000 davon sind arbeitslos. Wer verdient, lebt unter Umständen, die ein deutscher Sozialhilfeempfänger als asozial und menschenunwürdig ansehen würde. Wer den Job verliert, erhält sechs Monate eine Unterstützung, für die es in Deutschland bereits keine vergleichbare Kategorie mehr gibt. Nach einem halben Jahr gibt es gar nichts mehr. "Und dann?", frage ich die Leiterin einer staatlichen Verwaltung in Fagaras. Sie zuckt die Schultern. (...)

Das ist Fagaras, die Kreisstadt. Wir aber sind in Cincu. Und dort geht nichts mehr. Zerfallene Häuser, durch die Dächer weht der Wind. Auf dem Marktplatz Menschen, viele Zigeuner. Wir denken zunächst, sie warten auf den Bus. Aber ein Bus fährt hier nicht, und die Leute haben längst aufgehört, auf irgend etwas zu warten. Sie stehen und sitzen einfach da. Sitzengeblieben auf ihren Hoffnungen, stehengelassen von der Geschichte. Die Menschen in diesem Land haben sich im Dezember 1989, als wir eine "friedliche Revolution" feierten, den Maschinenpistolen der Securitate gestellt. Aber sie wissen nicht mehr warum.

Und dann diese Oase inmitten der Wüste. Die Kleider der Kinder sind nicht zerrissen und sie sitzen beim Abendbrot. Sie essen deutsche Margarine, deutsches Müsli, und sie trinken deutschen Kakao, die Milch kommt aus Holland. 40 Kinder, die hier leben, überleben. Geholt aus Schweineställen und stinkenden Zimmern, in denen zehn, zwölf Menschen hausen. Sie haben Messer und Gabel in der Hand, sie lächeln uns an, sie greifen nach uns und wollen gestreichelt werden. (...)

Pater Don ist das Wunder, ohne das diese Kinder noch irgendwo vegetieren würden. Er gibt 50 Menschen des Ortes obendrein einen Arbeitsplatz, der ihnen die tägliche Mahlzeit sichert. Er läßt Brot backen auch für den Ort, er will das Heim ausbauen. Er verkauft die Kleiderspenden, auch unsere, für einen symbolischen Preis, die Menschen kommen aus dem weiten Umland, der Erlös finanziert einen Teil der Kosten. Er liest jeden Morgen die Heilige Messe, und als ich ihn frage, ob hier nicht längst alle Messen gelesen sind im weltlichen Sinne des Wortes, sagt er einfach: "Ja." (...)

Doch sagt er, dieses hier sei schon ein Opfer für ihn, - wie übrigens auch das Zölibat - er würde lieber predigen, öffentlich wirken. Ein Priester sei kein Heiliger, das Notwendige nicht immer das Angenehme. Pater Don ist, er betont das, ein traditioneller Priester, Mitglied der "Independent Catholic Church", jenes
Gliedes der katholischen Kirche also, das dem derzeitigen Papst Verrat an der Kirche und ausschweifenden Liberalismus vorwirft. Pater Don, er erzählt es mir, weil er mich wohl für einen verständigen, aber nicht kritischen Gesprächspartner hält, will irgendwann eine Kongregation gründen, eine Art Orden auf niederer Ebene, reguläre Ordensgründungen sind nicht mehr möglich. Der Mann hat einen ausgeprägten Ehrgeiz, er ist orthodoxer Priester, Sozialarbeiter und Manager in einem. Das von ihm gegründete Haus heißt "Casa Don Bosco". (...)

Als er mit mir in seinem Arbeitszimmer spricht, sehe ich in den Bücherregalen Standardwerke über PR und Medienarbeit. Ich hätte diesem orthodoxen Diener seines Herrn nicht begegnen mögen als Mitglied der Heiligen Inquisition. Als Pater Don in Cincu, Rumänien, ist er die Liebenswürdigkeit in Person. Und es ist mir vollkommen gleichgültig, welcher Art die Motive des Pater Don Demidoff aus Holland sind, rumänischen Kindern das Leben zu retten: Er tut es. Er nimmt dieses Leben auf sich, und er ermöglicht 40 Kindern ein Leben, ein Über-Leben. Das ist es, nur das, was zählt. Und wenn er die Kinder gerettet hat, dann soll er geschrieben stehen wie Kreide an der Wand.

Die Spenden, die hier eingehen aus vielen Ländern Europas, retten - wir haben es gesehen - tatsächlich Kinder vor dem Vegetieren. Jede Mark, jede Hose, jeder Sack Mehl, die nach Cincu in die "Casa Don Bosco" gelangen, kommen tatsächlich Bedürftigen zugute. Sie verschwinden nicht auf dunklen Kanälen, sie bleiben nicht in den klebrigen Händen einer korrupten Verwaltung. Und der Ehrgeiz des Pater Don ist nicht von materieller Art, den Platz an der Seite Gottes - wo immer das sein mag - will er sich nicht durch Geld und Gut erkaufen. Er gibt weiter, was er erhält, das ist sicher. Ich war dabei, als er sich nach neuen Häusern umsah, in denen neue Kinder - und Alte, ähnlich hilflos und verloren - Wärme und Brot finden können. Dies sollte bedenken, wer angesprochen wird, ob er nicht eine deutsche Mark, eine alte Hose - erübrigen könne für die Kinder von Cincu. Ich habe sie gesehen in diesem Land, das nur geografisch noch ein Teil Europas ist, und werde so schnell nicht vergessen können.

Viele kommen, um zu helfen. Die schlanke Veronique aus Luxemburg, die bei der EG arbeitet, die hier ihren Traum von Europa träumt und ihren Urlaub drangibt. Walter, der dicke Hotelier aus Belgien, auch er im Urlaub, der den Frauen hier zeigt, was alles aus einfachen Lebensmitteln zu machen ist in einer Küche. John und seine Frau, die Baptisten aus Neuseeland. Bernhard Schulte, der Kaufmann aus Deutschland, der immer hier leben Will. Ein orthodoxer Katholik, der mir stolz das Foto zeigt, darauf er dem Bischof Lefebvre die Hand küßt und nicht versteht, warum ich seinem Gott nicht glaube. Am Abend geht er in den Ort und gibt den Leuten Spritzen, er hat einen Kurs in Erster Hilfe. Und Gerald Otto, der junge Lehrer aus Heiligenstadt. Er ist an der Schule im Nachbarort für ein paar Jahre, das Thüringer Kultusministerium half ihm dabei. (...)

Als ich den evangelischen Pfarrer Funk aus Schönberg frage, wie man hier leben kann, sagt er: "Wie der letzte Dreck." So ist es, und so wird es auch bleiben. Die Hoffnungslosigkeit hat einen Namen, und er heißt Rumänien. Hier wird sich nichts ändern, nicht zum Guten, auf Jahre hin. Die Menschen sind apathisch, die Politik konzeptionslos und Europa gleichgültig. Denn dieses Land hat keinerlei Sympathiewerte, nicht einmal bei den eigenen Leuten. Und wie dann bei uns? Und vor allem ist dieses Land keine strategische Gefahr für unseren Wohlstand, wie die Dritte Welt. An Ungarns und Österreichs Grenzen patrouillieren Soldaten mit Maschinenpistolen, das reicht. Sie werden dort hinten in Rumänien Brot kauen, solange sie es noch haben, und frieren in den Häusern, solange sie noch stehen. Irgendwann wird vermutlich gar nichts mehr gehen und vermutlich wird es niemanden interessieren.

Sie haben vermutlich einfach Pech gehabt, Gottes vergessene Kinder. -"Denn ich hab' die Kinder lieb." sagt der Herr. Und die Menschen haben hinzugefügt: Wenn es nicht gerade Rumänen sind.

 
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