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GOTTES VERGESSENE KINDER |
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GOTTES VERGESSENE KINDER
DREI TAGE RUMÄNIEN -
EINE REISE IN DAS LAND DER HOFFNUNGSLOSEN
ODER: WIE WEIT REICHT EUROPA?
von
Henryk Goldberg
(...) Die Straße hinter der Grenze (zu Ungarn, Anm.d.Red.) gleicht
einer langgezogenen Mülldeponie, der Schnitt zwischen den beiden Welten
ist scharf und übergangslos. Wir fahren noch 600 Kilometer in das Land
hinein und finden längs der Straße nicht eine geöffnete Tankstelle.
(...) Am späten Nachmittag des zweiten Tages sind wir in Cincu,
Siebenbürgen, Bezirk Brasow. Die Kreisstadt Fagaras hat 55000
Einwohner, l0000 davon sind arbeitslos. Wer verdient, lebt unter
Umständen, die ein deutscher Sozialhilfeempfänger als asozial und
menschenunwürdig ansehen würde. Wer den Job verliert, erhält sechs
Monate eine Unterstützung, für die es in Deutschland bereits keine
vergleichbare Kategorie mehr gibt. Nach einem halben Jahr gibt es gar
nichts mehr. "Und dann?", frage ich die Leiterin einer staatlichen
Verwaltung in Fagaras. Sie zuckt die Schultern. (...)
Das ist Fagaras, die Kreisstadt. Wir aber sind in Cincu. Und dort geht
nichts mehr. Zerfallene Häuser, durch die Dächer weht der Wind. Auf dem
Marktplatz Menschen, viele Zigeuner. Wir denken zunächst, sie warten
auf den Bus. Aber ein Bus fährt hier nicht, und die Leute haben längst
aufgehört, auf irgend etwas zu warten. Sie stehen und sitzen einfach
da. Sitzengeblieben auf ihren Hoffnungen, stehengelassen von der
Geschichte. Die Menschen in diesem Land haben sich im Dezember 1989,
als wir eine "friedliche Revolution" feierten, den Maschinenpistolen
der Securitate gestellt. Aber sie wissen nicht mehr warum.
Und dann diese Oase inmitten der Wüste. Die Kleider der Kinder sind
nicht zerrissen und sie sitzen beim Abendbrot. Sie essen deutsche
Margarine, deutsches Müsli, und sie trinken deutschen Kakao, die Milch
kommt aus Holland. 40 Kinder, die hier leben, überleben. Geholt aus
Schweineställen und stinkenden Zimmern, in denen zehn, zwölf Menschen
hausen. Sie haben Messer und Gabel in der Hand, sie lächeln uns an, sie
greifen nach uns und wollen gestreichelt werden. (...)
Pater Don ist das Wunder, ohne das diese Kinder noch irgendwo
vegetieren würden. Er gibt 50 Menschen des Ortes obendrein einen
Arbeitsplatz, der ihnen die tägliche Mahlzeit sichert. Er läßt Brot
backen auch für den Ort, er will das Heim ausbauen. Er verkauft die
Kleiderspenden, auch unsere, für einen symbolischen Preis, die Menschen
kommen aus dem weiten Umland, der Erlös finanziert einen Teil der
Kosten. Er liest jeden Morgen die Heilige Messe, und als ich ihn frage,
ob hier nicht längst alle Messen gelesen sind im weltlichen Sinne des
Wortes, sagt er einfach: "Ja." (...)
Doch sagt er, dieses hier sei schon ein Opfer für ihn, - wie übrigens
auch das Zölibat - er würde lieber predigen, öffentlich wirken. Ein
Priester sei kein Heiliger, das Notwendige nicht immer das Angenehme.
Pater Don ist, er betont das, ein traditioneller Priester, Mitglied der
"Independent Catholic Church", jenes
Gliedes der katholischen Kirche also, das dem derzeitigen Papst Verrat
an der Kirche und ausschweifenden Liberalismus vorwirft. Pater Don, er
erzählt es mir, weil er mich wohl für einen verständigen, aber nicht
kritischen Gesprächspartner hält, will irgendwann eine Kongregation
gründen, eine Art Orden auf niederer Ebene, reguläre Ordensgründungen
sind nicht mehr möglich. Der Mann hat einen ausgeprägten Ehrgeiz, er
ist orthodoxer Priester, Sozialarbeiter und Manager in einem. Das von
ihm gegründete Haus heißt "Casa Don Bosco". (...)
Als er mit mir in seinem Arbeitszimmer spricht, sehe ich in den
Bücherregalen Standardwerke über PR und Medienarbeit. Ich hätte diesem
orthodoxen Diener seines Herrn nicht begegnen mögen als Mitglied der
Heiligen Inquisition. Als Pater Don in Cincu, Rumänien, ist er die
Liebenswürdigkeit in Person. Und es ist mir vollkommen gleichgültig,
welcher Art die Motive des Pater Don Demidoff aus Holland sind,
rumänischen Kindern das Leben zu retten: Er tut es. Er nimmt dieses
Leben auf sich, und er ermöglicht 40 Kindern ein Leben, ein Über-Leben.
Das ist es, nur das, was zählt. Und wenn er die Kinder gerettet hat,
dann soll er geschrieben stehen wie Kreide an der Wand.
Die Spenden, die hier eingehen aus vielen Ländern Europas, retten - wir
haben es gesehen - tatsächlich Kinder vor dem Vegetieren. Jede Mark,
jede Hose, jeder Sack Mehl, die nach Cincu in die "Casa Don Bosco"
gelangen, kommen tatsächlich Bedürftigen zugute. Sie verschwinden nicht
auf dunklen Kanälen, sie bleiben nicht in den klebrigen Händen einer
korrupten Verwaltung. Und der Ehrgeiz des Pater Don ist nicht von
materieller Art, den Platz an der Seite Gottes - wo immer das sein mag
- will er sich nicht durch Geld und Gut erkaufen. Er gibt weiter, was
er erhält, das ist sicher. Ich war dabei, als er sich nach neuen
Häusern umsah, in denen neue Kinder - und Alte, ähnlich hilflos und
verloren - Wärme und Brot finden können. Dies sollte bedenken, wer
angesprochen wird, ob er nicht eine deutsche Mark, eine alte Hose -
erübrigen könne für die Kinder von Cincu. Ich habe sie gesehen in
diesem Land, das nur geografisch noch ein Teil Europas ist, und werde
so schnell nicht vergessen können.
Viele kommen, um zu helfen. Die schlanke Veronique aus Luxemburg, die
bei der EG arbeitet, die hier ihren Traum von Europa träumt und ihren
Urlaub drangibt. Walter, der dicke Hotelier aus Belgien, auch er im
Urlaub, der den Frauen hier zeigt, was alles aus einfachen
Lebensmitteln zu machen ist in einer Küche. John und seine Frau, die
Baptisten aus Neuseeland. Bernhard Schulte, der Kaufmann aus
Deutschland, der immer hier leben Will. Ein orthodoxer Katholik, der
mir stolz das Foto zeigt, darauf er dem Bischof Lefebvre die Hand küßt
und nicht versteht, warum ich seinem Gott nicht glaube. Am Abend geht
er in den Ort und gibt den Leuten Spritzen, er hat einen Kurs in Erster
Hilfe. Und Gerald Otto, der junge Lehrer aus Heiligenstadt. Er ist an
der Schule im Nachbarort für ein paar Jahre, das Thüringer
Kultusministerium half ihm dabei. (...)
Als ich den evangelischen Pfarrer Funk aus Schönberg frage, wie man
hier leben kann, sagt er: "Wie der letzte Dreck." So ist es, und so
wird es auch bleiben. Die Hoffnungslosigkeit hat einen Namen, und er
heißt Rumänien. Hier wird sich nichts ändern, nicht zum Guten, auf
Jahre hin. Die Menschen sind apathisch, die Politik konzeptionslos und
Europa gleichgültig. Denn dieses Land hat keinerlei Sympathiewerte,
nicht einmal bei den eigenen Leuten. Und wie dann bei uns? Und vor
allem ist dieses Land keine strategische Gefahr für unseren Wohlstand,
wie die Dritte Welt. An Ungarns und Österreichs Grenzen patrouillieren
Soldaten mit Maschinenpistolen, das reicht. Sie werden dort hinten in
Rumänien Brot kauen, solange sie es noch haben, und frieren in den
Häusern, solange sie noch stehen. Irgendwann wird vermutlich gar nichts
mehr gehen und vermutlich wird es niemanden interessieren.
Sie haben vermutlich einfach Pech gehabt, Gottes vergessene Kinder.
-"Denn ich hab' die Kinder lieb." sagt der Herr. Und die Menschen haben
hinzugefügt: Wenn es nicht gerade Rumänen sind.
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