4. Die Wesens-Wirklichkeit der Religion
Die Religion ist in ihrem entitativen Wesen kein abstraktes Phänomen -
das wie eine platonische Idee in einem "Reiche der Ideen" über dem
Menschen schwebt, aber auch nicht so etwas wie "das Göttliche (oder:
das Ewige) im Menschen", das ihn in einem "intentionalen Wertfühlen" zu
etwas über ihm Seiendes "drängt" (Max Scheler u.a.) -, sondern ein
ideell-konkretes oder eine "konkrete Idealität" im Dasein des Menschen.
Darum ist die Religion weder Metaphysik noch ein Moralsystem und darf
auch nicht, wie es so oft geschieht, mit Gottesverehrung gleichgesetzt
werden. Denn vor aller Gottesverehrung liegt im religiösen Bewußtsein
die aufbrechende Frage nach Gott, die den Menschen sogar daran hindert
oder ihn zumindest davor warnt, sich irgendwelchen übermenschlichen
"höheren Mächten und Gewalten" (wie der hl. Paulus sagt) hinzugeben,
die nicht Gott sind. Es versteht sich von selbst, daß dadurch die
Religion pervertiert wird. Dies kann sogar in einer kultischen
Heiligenverehrung geschehen, wofür es leider viele und äußerst
abschreckende Beispiele gibt, die das Christentum immer schon in Verruf
gebracht haben, aber auch der Kirche schweren Schaden zufügten.
Die Religion ist eben ein menschliches Phänomen, nicht jedoch ein
göttliches. Daß Religion und Gottesverehrung nicht dasselbe sind und
auch nicht auf Gottesverehrung reduziert werden kann, dies beweist
bereits die Tatsache der überall zu findenden Abgötterei und des
Götzendienstes, worin die ursprüngliche Erkenntnis-Relation auf Gott im
anfänglichen Wissen um Gott durch Selbstverschulden verlorengegangen
ist und sich in ihr Gegenteil verkehrt hat. Darum gibt es
'Mysterienkulte' und 'Religionsgemeinschaften' verschiedenster Art, in
denen die Dämonen hausen, die je nach Opportunität sogar als 'Engel'
erscheinen oder 'Heiligengestalten' imitieren. Es gibt auch in den
'Kirchen' Leute genug, die die Geister nicht mehr unterscheiden können
und sich von Dämonen das Heil erwarten, also nicht bloß darauf hoffen.
Heutzutage wird die Wesens-Wirklichkeit der Religion von theologisch
verbildeten und vom Wesen der Religion nichts verstehenden
'Kirchenhäuptern' oft auch als ein "geheimnisvolles Phänomen"
ausgegeben, obwohl sie dies gar nicht ist. In einer solchen
Bewußtseinslage hat sich die Gotteserkenntnis bereits in ihr Gegenteil
verkehrt und ausgelöscht.
Daß der Mensch als ein religiöses Wesen notwendig Religion hat, beruht
aber auch nicht auf einer "psychischen Veranlagung" oder einer
"seelischen Anlage" in ihm, sondern auf einem im Person-Sein des
Menschen liegenden anthropologischen Apriori, das ontologisch mit
seinem Kreatur-Sein gegeben ist. Der Mensch kann sich diesem Apriori
durch nichts entziehen, auch nicht kraft seiner Freiheit, da diese ja
selbst eine kreatürliche und nur eine Wahl-Freiheit (liberum arbitrium)
ist. Leider wird der an sich hohe Wert der menschlichen Freiheit oft
(viel zu oft!) maßlos überschätzt und führt dann auch zu dem
wahnhaft-absurden Gedanken einer zu erstrebenden "Freiheit von der
Religion", was auf eine Versklavung des Menschen hinausläuft. Denn
dadurch würde ihm grundsätzlich die Religions-Ausübung genommen werden.
Dahinter aber steht keine geistige Erkenntnis, kein "cognoscere per
intellectum et rationem" - eine solche fehlt vollständig -, sondern ein
den ganzen Menschen in ein Unheil reißender böse Wille, dem die
Seinsdemut fehlt und der sich der göttlichen Wahrheit nicht beugen
will. Indessen ist der Mensch schon von Natur aus auf irgendeine Weise
"capax Dei" und Gott, der subsistierenden "veritas aeterna",
unterworfen. Die zu erfassende Wahrheit aber ist das höchste Gut des
menschlichen Geistes und somit auch das höchste Gut der natürlichen
Religion. Der Mensch hängt in seinem ganzen Sein und Wesen von Gott ab,
nicht jedoch Gott vom Menschen. Darum sagten wir bereits, daß die
Religion zwei inkommensurable Seiten hat, die aber auch in concreto
offenkundig werden. Doch gerade deswegen ist es immer möglich, daß sich
in der Relation Mensch zu Gott, nicht jedoch umgekehrt: Gott zu Mensch,
unheilvollste Dinge ereignen können, die sowohl vom Menschen als auch
von außermenschlichen Geistwesen ausgehen, die einer anderen
Seinsordnung angehören.
Die Wesens-Wirklichkeit der Religion ist kein statisches, sondern ein
dynamisches Phänomen, weil der Mensch ein Werde-Wesen ist, das sich in
seinem Personsein nach Maßgabe seiner Potenzen selbst verwirklicht,
sich in der ihm gegebenen Freiheit selbst bestimmt und sich auf Gott
ausrichten und hinordnen kann, was im Medium der Erkenntnis geschieht,
die sich nie ohne Denken vollzieht. Zudem macht der Dynamismus der
Religion des Menschen die ganze Sache zweideutig und ambivalent. Dies
zeigt sich auch daran, daß jede echte Religion, der es eigentümlich
ist, das rein Welthafte oder Irdische zu negieren, 'Verheißungen'
enthält, die indes keineswegs wahr zu sein brauchen. Darüber sollten
sich gerade in der heutigen Zeit die Christen und insbesondere die
Katholiken klar werden, da sie von den 'Kirchen' hinter's Licht geführt
werden und dann nicht mehr die dornigen Wege zu Gott beschreiten,
sondern auf Abwegen wandeln. Eine wahre Religion 'verheißt' z.B. weder
ein ewiges Glück noch eine Glückseligkeit aller Menschen, sondern nur
das Heil des und vieler Menschen und macht es zudem von der Erfüllung
bestimmter Bedingungen abhängig, die wiederum nicht vom Menschen,
sondern von Gott gesetzt sind. Darum heißt es: "Traut nicht jedem
Geiste, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind" (1 Joh. 4,1).
Wer aber prüft denn heute in dieser Beziehung die Geister und ihre
seltsamen 'Verheißungen', mit denen sie die Leute in die Unwahrheit
ziehen und dem Bösen ausliefern?
Die seit einiger Zeit von verschiedensten Seiten propagierte
"Welt-Einheits-Religion" oder auch "Eine-Welt-Religion", die bereits im
Entstehen sein soll und die sogar als ein Produkt eines globalen
"Wehens des Hl. Geistes" ausgegeben wird, ist eine fürwahr erstaunliche
Absurdität, ja das reinste Hirngespinst, das im Hinblick auf das Wesen
der Religion und ihrer Wesens-Wirklichkeit einer bodenlosen
Unwissenheit entsprungen ist. Christen, die sich von einem solchen
Glaubenswahn und Schwindel haben beeindrucken lassen, sollten lieber
die Ursachen zu erkennen suchen, die zur Erosion und zum Verschwinden
der christlichen Religion führen, obwohl diese als einzige eine auch
übernatürliche Komponente hat. Christen sollten begreifen, daß sie in
einer bösen Zeit eschatologischen Charakters leben und daß dies keine
bloße Glaubenssache ist. Christus selbst hat deutlich genug darauf
hingewiesen, was geschehen wird. Warum erfaßt man nicht die echten
"Zeichen der Zeit", die sich nicht nur im geschichtlichen Prozeß,
sondern auch in der Religion des Menschen zeigen, da er ein auf Gott
bezogenes Werde-Wesen ist?
Es kommt auch nicht von ungefähr, daß sich in der Hl. Schrift des Alten
und Neuen Testamentes keine Definition der Religion finden läßt, weder
eine essentielle noch eine deskriptiv-reale. Darum heißt es nur kurz
und bündig: Nur "der Tor spricht in seinem Herzen: 'Es ist kein Gott'"
(Ps. 14,1; 53,2), und er gehört bereits zu den "Kindern des Bösen" (Mt
13,38). Doch auch diese haben ihre 'Götter', die oft recht seltsame
Namen tragen. Man sollte sich doch einmal fragen, was sind das wohl für
'Gottheiten', die da bereits tabuisiert werden, z.B.: "die Demokratie",
"die multikulturelle Gesellschaft", "der (religiöse) Ökumenismus", "die
Freiheit der Persönlichkeit" (jenseits von Gut und Böse) oder auch "der
freie Mensch" (ohne Bezug auf die Wahrheit)?! Diese 'Mächte'
beherrschen heute das Denken vieler, die sich im kulturellen und
politischen Bereich bewegen und aktiv sind - im Gegensatz zu vielen
Christen, die lethargisch geworden sind und nicht erfassen, was da in
der sich ständig verändernden Massengesellschaft vor sich geht, die von
Machtgruppen als Mittel zum Zweck gebraucht wird.
Im bewußten und freien Vollzug einer ihrem Wesen nach echten Religion
wird der kreatürliche Mensch in seiner personalen Existenz, die "aus
dem Nichts stammt", vor und in die Entscheidung für oder gegen Gott
gestellt, insofern Gott in seiner Aseität als ein persönliches
Geist-Wesen, von dem alles in seinem Sein abhängt, auf irgend eine
Weise intellektiv erkannt worden ist. Eine ganz klare Erkenntnis des
persönlichen Gottes in seinem Einzig-Sein ist zu dieser Entscheidung
nicht erforderlich. Sie muß nur eine wirklich wahre und zureichend
eindeutige sein. Zu einer solchen aber ist jeder Mensch mit reflexivem
religiösen Bewußtsein fähig. Es gehört zu den übelsten Machenschaften
vermeintlich gebildeter und aufgeklärter Leute, dem Menschen und damit
einem jeden diese Fähigkeit abzusprechen und ihn dann auf irgendeinen
Glauben zu verweisen, der indes niemanden in die nämliche Entscheidung
stellt, da er erkenntnis-leer ist und bleibt. Der Nihilismus läßt
grüßen!
Zudem verschwindet in einem erkenntnisleeren religiösen Glauben das im
reflexiven religiösen Bewußtsein liegende anfängliche Wissen um Gott in
seinem wesenhaften Gegenwärtigsein, so daß auch keine Entscheidung mehr
möglich wird, weder für noch gegen Gott. Dies kann man auch von der Hl.
Schrift her interpretieren, nämlich als eine "List Satans" in seinem
suggestiven Einwirken auf den Menschen als eines religiösen Wesens. Der
Satan hat kein Interesse daran, daß der Mensch einen von der geistigen
Erkenntnis geprägten religiösen Glauben habe. Auch darauf bezieht sich
das mahnende Schriftwort: "Seid nüchtern und wachet! Denn euer
Widersacher, der Teufel geht umher (...) und suchet, wen er
verschlingen könne" (1 Petr 5,8). In diesem Zusammenhang hat sich der
nihilistische Nietzsche zu der grotesken Behauptung verstiegen, der
Atheismus sei "eine Art zweiter Unschuld". Heute stellt sich überall
die Frage, wo sind die Katholiken und Nicht-Katholiken, die in ihrer
Religion noch nicht einem 'christlichen Glauben' verfallen sind, der im
Grund erkenntnisleer ist? Sie wissen auch nichts mehr von der im
religiösen Bewußtsein aufbrechenden rationalen Frage nach Gott und der
obigen Entscheidung, die in einem inneren Zusammenhang stehen und den
menschlichen Geist bewegen. Wie aber will man dann das erste Gebot
Gottes als ein wahrhaft göttliches, d.h. als ein wirklich von Gott und
nicht von einem anderen 'Geistwesen' gegebenes erkennen, das nicht Gott
ist? Das menschliche Gewissen sagt darüber nichts aus und bringt auch
kein Licht in diese Sache. Dies sollte man deutlich erkennen und sich
hier bloß nichts im doppelten Sinne des Wortes einbilden. Religion und
religiöser Glaube sind nicht identisch. Vor einem religiösen Glauben,
der sowohl wahr als auch unwahr sein kann, aber liegt prinzipiell die
intellektiv-rationale Erkenntnis Gottes. Man darf deshalb sozusagen das
"Pferd nicht am Schwänze aufzäumen" wollen.
Zwischen der im religiösen Bewußtsein aufbrechenden Frage nach Gott,
die im Wissen um Gott eine streng rationale ist, und der willentlichen
Entscheidung für oder gegen Gott, liegt der zu erkennende und zu
vernehmende Wille Gottes, der ein Heilswille ist und in dem der
Schöpfergott den Menschen auf Sich, die subsistierende "ewige Wahrheit"
und den "Allheiligen", bezieht und hinordnet, ohne ihm die Freiheit zu
nehmen. Nur der gottlose "autonome Mensch", von dem wir oben sprachen,
'vernimmt' hier... nichts (obwohl er und ihm ähnliche Existenzen des
Denkens fähig sind!). Dies jedoch beruht auf eigenem Verschulden, nicht
auf Fremdverschulden. Eine Religion, die nichts vom souveränen
Heilswillen Gottes weiß, in der der Mensch nicht erkennt, was das
bedeutet: "Fürchte Gott" (der dich aus reinem Wohlwollen über dem
Nichts hält) und "halte Seine Gebote" (andernfalls du zu einer
amoralischen Existenz wirst), kann absolut keine wahre sein. Die
Gottlosigkeit gehört zu den "faulen Früchten" einer unwahren Religion,
welcher ein Mensch zuvor verfallen ist. Der Mensch hat, wie schon
gesagt, notwendig Religion, aber nicht notwendig eine wahre. Der Gipfel
der Gottlosigkeit eines kreatürlichen Wesens aber zeigt sich in der
immer in Erscheinung tretenden - man muß nur darauf achten! -
Feindschaft gegen Gott und der Verneinung Seines souveränen
Heilswillens. Hier wird das licht- und heillose "mysterium iniquitatis"
(das finstere Geheimnis des Bösen und der Sünde) geradezu sichtbar.
Die Gottlosigkeit, die mit der Gottvergessenheit anfängt und nicht mit
einer Glaubenslosigkeit verwechselt werden sollte, hat viele Gesichter
und nicht immer nur fratzenhafte. Im übrigen weiß das wache religiöse
Bewußtsein rein gar nichts von dem ideologischen Unsinn eines
"philosophischen Glaubens" (Karl Jaspers) oder eines "Prinzip Hoffnung"
(Ernst Bloch). Es ist auch typisch für den Gottlosen, nicht mehr zu
wissen, daß er als religiöser Mensch bereits tot ist. Gottlose sind
'Drakula-Existenzen', die vom Blute anderer leben.
Nur eine wahre Religion eröffnet sichere Erkenntnis zu Gott, der, wie
ebenfalls erkannt werden kann, allgegenwärtig ist, da er alles, was ist
und insofern es ist und nicht nicht ist, im Sein erhält. Das wache
religiöse Bewußtsein drückt diese Sache bisweilen auch so aus: "Wohin
könnte ich gehen vor deinem Geiste (der alles umfaßt und dem nichts
verborgen bleibt), wohin sollte ich fliehen vor deinem Antlitz? Stiege
ich zum Himmel hinauf, so bist du da, ginge ich ins Totenreich, dort
bist du auch. Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich nieder
am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich halten und mich
greifen deine Rechte" (Ps 139(138), 7-l0). Auch der hl. Paulus bezog
sich auf die Allgegenwart Gottes, als er zu den Athenern etwas
ungehalten sagte: "Sie sollen Gott suchen", d.h. sie sollen ihn
wirklich zu erkennen suchen und nicht nach einem "unbekannten Gott"
suchen, "denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir" (Apg
17,27 f.).
Wo eigentlich stellen sich noch die Gläubigen die rationale Frage nach
Gott und seinem wesenhaften Gegenwärtigsein, die im religiösen
Bewußtsein den menschlichen Geist bewegt und beunruhigt? Sie haben in
ihrer 'Privatreligion', die sie auch in den 'Kirchen' praktizieren und
für Christentum halten, nicht einmal ein Wissen um Gott als der "ewigen
Wahrheit" und seiner eigentümlichen Gegenwart.
Damit aber stellt sich die Frage: wer oder was hat ihnen denn dieses
Wissen verdunkelt und ausgetrieben? Es ist jedoch ein Irrtum, dafür
immer gleich den Teufel verantwortlich zu machen. Nein, so einfach
liegen die Dinge nicht! Gott ist dem Menschen als einem und seinem
Geschöpf näher, als dieses sich in seinem Bei-sich-sein selber ist.
Indessen ist diese Gottnähe, die auch im wachen und reflexiven
religiösen Bewußtsein deutlich erfaßt zu werden vermag, keine
gegenständliche, sondern eine ungegenständliche. Darum wird sie von
vielen aus bestimmten Gründen gar nicht erfaßt. Diese haben davon
bestenfalls nur eine dumpfe Ahnung oder ein dunkles Gefühl. Aus dieser
Tatsache folgt aber nicht, daß es sich um minderwertige Menschen
handelt, sondern es folgt nur, daß ein geistiges Elend (Übel) vorliegt,
von dem sie in ihrer religiösen Existenz betroffen sind, das
verschiedene Ursachen haben kann. Darum ist es gänzlich unangebracht,
sich über sie hochmütig zu erheben, da sich der souveräne Heilswille
Gottes auf alle Menschen bezieht. Daraus wiederum folgt nicht, daß alle
gerettet werden und das Heil erlangen. Eine unwahre Religion weiß
nichts, absolut nichts von der Gegenwart Gottes und der Gottesnähe,
geschweige denn etwas von Gott als der "ewigen Wahrheit" und ihrer
Partizipationsmöglichkeit. Sie wird in ihrer Wesens-Wirklichkeit von
unreinen Geistern beherrscht, menschlichen und außermenschlichen, die
die Religion, die sich vom Dasein des Menschen nicht trennen läßt,
mißbrauchen. Die "Mächte der Finsternis" sind eine Realität und
ebenfalls gegenwärtig. Das ist keine Glaubenssache, wie so oft
behauptet wird, sondern ein allgemeines Erkenntnisproblem.
|