3. Die das "religiöse Bewußtsein" bewegende Frage nach Gott
Die Religion des mit Vernunft ausgestatteten Menschen, die kein
abstraktes, sondern ein konkretes Phänomen ist, hat ihre Wurzel weder
in irgendeiner noch in einer besonderen religiösen Erfahrung - weder in
einer äußeren noch in einer inneren noch in einer sog.
'transzendentalen', die doch nur eine Fiktion ist. Denn jede Erfahrung,
sowohl die sinnliche als auch die geistige, ist auf etwas Einzelnes und
Konkretes bezogen, das dinghaft und gegenständlich erfaßt wird. Darum
sind religiöse Erfahrungen, die jemand macht oder vorgibt, gemacht zu
haben, für andere, die ebenfalls ihre Erfahrungen haben, ohne jede
Bedeutung. Am schlimmsten aber sind jene bekannten religiösen
Gemeinschaftserlebnisse mit ihren irrationalen Protuberanzen,
ekstatischen Anwandlungen und Konvulsionen, die die Religion selbst in
Verruf bringen, einschließlich der christlichen. Deshalb sollte man die
Wurzel der Religion deutlich zu erkennen suchen, anstatt sich von
religiösen Entartungen beeindrucken zu lassen. Denn schließlich kann
jeder hohe Wert im menschlichen Dasein in Mißkredit gebracht werden,
und je höher er auf der Werteskala steht, um so tiefer kann er in den
Schmutz gezogen und seiner Werthaftigkeit (Bonität) beraubt werden.
Gibt es für den Menschen in seinem Dasein, da er ein religiöses Wesen
ist, einen höheren Seins- und Lebenswert als die Religion? Nein! Doch
nicht am mehr oder weniger religiösen Menschen scheiden sich die
Geister, radikal und endgültig, sondern an der Religion selbst. Warum
herrscht hier so viel Unklarheit, auch unter den Christen? Wer hat so
vielen den Verstand verdunkelt und ihnen den Boden unter den Füßen
weggezogen? Nun, sicherlich nicht Gott und der Hl. Geist, sondern sie
selbst waren es, die sich in eine solche Situation gebracht haben. Auch
eine (nicht: die) Religion kann absterben und schließlich aussterben,
um dann einer anderen Religion oder einem Religionsersatz Platz zu
machen. Sogar die christliche Religion kann durch ihre Träger zu einer
unchristlichen gemacht werden, was sich übrigens auch in einem Kult
zeigt, der sich zwar christlich nennt, ohne jedoch ein christlicher zu
sein. Dafür gibt es Beispiele genug.
Die Wurzel der Religion liegt nicht in einer Erfahrung, auch nicht in
einer vermeintlich religiösen, sondern in einer geistigen Erkenntnis
konkreter Art jenseits aller Erfahrung, durch die sich der Mensch auf
ein transzendentes personhaftes Geistwesen in seinem Sein und seiner
Macht-Wirklichkeit direkt bezieht (dessen er sich im religiösen
Bewußtsein bereits innegeworden ist) und das er "Gott" nennt. Es ist
gleichgültig, ob diese Erkenntnis hell oder dunkel, deutlich oder
undeutlich ist, denn das tut ihrer Wahrheit keinen Abbruch. Die
Irrtümer in dieser Sache beginnen immer erst später und haben oft ihre
Ursachen in einem vorausgegangenen falschen, irrationalen und
ausgesprochen dummen Religionsunterricht. Niemand braucht sich darüber
wundern, wenn junge Leute, nachdem sie ihre schulische Reifeprüfung
bestanden haben, in kürzester Zeit Ideologien verfallen und gottlos
werden. Auch das christliche Sektenwesen fällt nicht urplötzlich vom
Himmel, sondern entstammt einer unwahren Religion.
Nun aber sollte nicht übersehen werden, daß in dieser wurzelhaften
"cognitio intellectualis concretive" (geistigen Erkenntnis) noch nicht
der persönliche Gott in seinem Sein erkannt wird und auch noch nicht in
der Erkenntnis gegenwärtig wird, obwohl er dem Menschen näher ist als
dieser sich selbst. Vielmehr wird in dieser Erkenntnis und durch sie
ein Mensch 'nur' auf Ihn ausgerichtet und hingeordnet, so daß im
reflexiven religiösen Bewußtsein nunmehr die den menschlichen Geist
bewegende konkrete Frage nach dem persönlichen Gott und seinem
"Eigennamen" (nomen proprium et personale) aufbricht, die ein streng
rationale und zielgerichtete (intentionale) ist. Es ist ein Verhängnis,
wenn die Wurzel der Religion des Menschen als eines religiösen Wesens
verschüttet oder ausgerissen wird. Beides ist möglich und beidem ist
der Mensch in seinem individuell-konkreten Leben ausgesetzt. Denn die
Gottesidee ist weder eine "angeborene Idee" noch ein "Denkprodukt". Das
waren und sind schwerwiegende Irrtümer des philosophischen
Rationalismus und Ontologismus, die dann auch die Religion als solche
verdarben und immer noch verderben. Wer die Wurzel der Religion auf
irgendeine Weise verschüttet oder ausreißt, der versündigt sich gegen
den Menschen und gegen Gott und macht den Menschen zu einer "monströsen
Existenz", die aus der wesenhaften "relatio ad Deum" (aus dem
Verhältnis zu Gott) herausfällt. Ein solches Herausgefallensein kann
sogar bewußt werden und einen Menschen in die Verzweiflung treiben.
Aus alledem aber wird evident, daß sich Religion und Gotteserkenntnis
nicht trennen lassen. Eine Religion ohne Erkenntnis Gottes ist keine
Religion, sondern eine ideologische 'Lebens-' oder 'Weltanschauung',
die a-religiös ist, und eine Religion ohne wahre Erkenntnis Gottes ist
eine unwahre Religion, die sich nur religiös gibt. Der heutige
Meinungswirrwarr in Sachen Religion macht es vielen fast unmöglich, die
religiöse Situation, in der sie leben, zu durchschauen und richtig zu
beurteilen. Eine große und tiefgreifende Verwirrung der Geister hat um
sich gegriffen. Man hält sowohl auf religiösem als auch auf profanem
Gebiet oft sogar das offenkundig Unwahre für wahr und das Wahre für
unwahr oder, biblisch gesprochen, die Finsternis für Licht und das
Licht für Finsternis. Das läßt sich nicht mehr mit simpler Dummheit
erklären. Die Untrennbarkeit von Religion und Gotteserkenntnis gilt
auch für die christliche, was heute viele Christen überhaupt nicht mehr
wissen und dann gleichsam einen Salto-mortale in einen 'religiösen
Glauben' machen, der gar kein Erkenntnisfundament hat und
erkenntnisleer ist. Welcher kritische Katholik hat mit solchen Christen
noch keine Bekanntschaft gemacht? Mit diesen läßt sich auch kein
vernünftiges Gespräch führen, das den Sachverhalt der Religion zum
Gegenstand hat; denn sie halten einen 'Glaubensgenossen', der dies tut
und sich kritisch äußert, bereits für einen verkappten 'Ungläubigen'.
In diesem Zusammenhang sei auch folgendes angemerkt: das heute
vielerorts diskutierte Thema "Religion ohne Glaube?" beruht auf einer
falschen Fragestellung, die hernach Scheinprobleme erzeugt, denen nicht
wenige Wissenschaftler und Pseudotheologen auf den Leim gegangen sind
und die dann von einem "Wunder des Theismus" (John Leslie Mackie)
sprechen. Schon das wache und unverbildete religiöse Bewußtsein, in dem
sich der Mensch in seiner personalen Existenz von Gott abhängig, über
dem "Nichts" gehalten und auf Gott bezogen weiß, spricht eine ganz
andere Sprache. Das sich immer einen wissenschaftlichen Anstrich
gebende Gerede von Leuten, die sich für Philosophen und/oder Theologen
halten, hat viele Gläubige, die gebildete Christen zu sein glaubten,
zuerst um ihren Verstand gebracht und dann vom Christentum abtrünnig
gemacht. Im Leben des "homo religiosus" wiederholt sich ständig das
gleiche, nämlich: ein irriges Denken erzeugt einen falschen religiösen
Glauben.
Die echte Religion, die man mit Recht eine "zarte Pflanze" im
Menschengeschlecht genannt hat, die leicht geknickt werden kann, kennt
weder ein 'Gott-Erlebnis' noch ähnliche Phantastereien, wohl aber ein
intellektiv-rationales Gotterkennen und -erfassen, das bereits in der
aufbrechenden Frage nach dem persönlichen Gott als dem Einzig-Einen in
seinem Sein und Wesen konkret wird und so den menschlichen Geist in
seinem Denken bewegt. Dies gilt für alle Menschen, die des
Vernunftgebrauches fähig sind, nicht jedoch auf die gleiche Weise, da
nicht jeder diese Sache gleich klar zu erfassen vermag. Hier gibt es
große Unterschiede, die bereits in der Natur des einzelnen liegen,
gleichgültig, ob dieser nun gebildet oder ungebildet ist. Der echte
religiöse Glaube, der ein vernünftiger ist, setzt die geistige
Erkenntnis logisch voraus, da er sich nur in ihr und durch sie
ermöglicht. Religion und religiöser Glaube sind nicht identisch. Das
echte Problem liegt diesbezüglich nicht in der falsch gestellten Frage
"Religion oder Glaube?", sondern in der kritischen Frage nach dem
Verhältnis von Religion und Glaube, das sich im Christentum noch
zuspitzt.
Es gibt heute eine Menge Christen (Katholiken und Nicht-Katholiken),
denen es völlig gleichgültig ist, ob ihre eigene Religion, in der sie
leben, objektiv wahr ist oder nicht. Das ist eine unleugbare Tatsache.
"Etwas Wahres wird schon dran sein", sagen sie, "weil es Millionen
Christen gibt und das Christentum (einschließlich der Bibel) über die
ganze Welt verbreitet ist" (!). Daß diese Leute bereits von der
christlichen Religion abgefallen sind, kommt ihnen gar nicht mehr zu
Bewußtsein. Sie haben, wie viele Nicht-Christen ebenfalls, keine
Gotteserkenntnis und leben in einer gemeingefährlichen
Gottvergessenheit, in der sich der Mensch selbst den Strick um den Hals
legt.
Wenn die echte Religion, die der Mensch als ein religiöses Wesen von
Natur aus besitzt, durch Gottvergessenheit abstirbt, dann wird der
Mensch unheilbar krank und existentiell ortlos. Außerdem verliert er
durch Gottvergessenheit seine Person-Würde und seinen personalen Wert
als Geschöpf Gottes. Leute, die in Gottvergessenheit leben, sind auch
davon ('im Glauben') überzeugt, daß "Gott tot sei". Ihr 'Pech' ist nur,
daß sie Gott nicht vergessen hat und zur Rechenschaft ziehen wird. Der
Mensch ist schon von Jugend auf ein fragendes Wesen und stellt später
auch bestimmte religiöse Fragen, um schließlich in bezug auf Gott und
sich selbst eine letztgültige Antwort zu erhalten - vielleicht sogar
von Gott selbst. Kein vernünftiger Mensch stellt ernsthaft eine Frage
und verzichtet zugleich auf eine Antwort. Gott jedoch will, daß nach
Ihm gefragt wird - nicht aber arrogant, sondern in Demut. Denn Gott
"wohnt im unzugänglichen Lichte" (1 Tim 6,16). Darum die Verpflichtung:
"Nehmet zu in der Erkenntnis Gottes" (Kol 1,10). Ein solches Zunehmen
oder Voranschreiten aber ist ohne ein vernünftiges Fragen unmöglich.
Ist es denn nicht merkwürdig, daß 'moderne Christen' nur noch den
'Frohbotschaftsverkündern' aber keine Fragen mehr stellen, die sich auf
die christliche Religion beziehen?
Die zuerst im allgemeinen Seins-Denken (welches sich auf alles bezieht,
das ein Seiendes ist und Sein hat) sich selbst stellende Frase nach
Gott ist der Anfang der Religion der Menschen, wohlgemerkt: ihr Anfang,
nicht jedoch ihr Ursprung, denn dieser liegt nicht im Menschen, sondern
in Gott, dem Schöpfer aller Dinge und somit auch der Religion als eines
Ur-Phänomens, das mit dem Dasein des Menschen gegeben ist und in
Erscheinung tritt. Darum ist die Religion unausrottbar, und eine
Religion ist immer vorhanden, wo auch immer Menschen existieren. Darin
zeigt sich ihr hoher Wert, der allerdings auch radikal in Frage
gestellt werden kann, da die Verwirklichung der Religion vom Menschen
abhängt, der ihr Wesen verfälschen und bis zur Unkenntlichkeit
entstellen kann. Deshalb darf man auch nicht vom Kult auf eine wahre
Religion schließen, sondern nur darauf, daß eine Religion vorhanden ist
und ausgeübt wird, die dann immer entweder eine wahre oder unwahre ist.
Wer es ablehnt, hinsichtlich einer Religion, der die Menschen anhängen
und die sie ausüben, die Wahrheitsfrage zu stellen, der lästert Gott,
da die Religion ihren Ursprung in Gott hat und sich auf Gott als die
"ewige Wahrheit" Thomas von Aquin) bezieht, und zwar im Medium der
Gotteserkenntnis.
Der Kampf gegen die Religion ist oft nur ein Kampf gegen das Unwahre
einer oder in einer Religion und dann durchaus ein legitimer, ja sogar
moralische Pflicht, vorausgesetzt natürlich, daß er nicht auf einem
Mißverständnis gegenüber einer bestimmten Religion beruht. So hat z.B.
Friedrich Nietzsche, der von der Religion als einem Macht-Phänomen (das
sie ja ebenfalls ist) fasziniert war, in seinem Kampf gegen das
Christentum dieses in seinem Wesen gänzlich mißverstanden, da er eine
bestimmte Art von Christentum, in dem er aufgewachsen war und das er
bis zum Überdruß ständig vor Augen hatte, mit ihm selbst identifiziert.
Dieses seltsame Mißverstehen der christlichen Religion zieht sich wie
ein roter Faden durch sein ganzes Denken, Sinnen und Trachten und
machte ihm dann das 'religiöse Leben' zur Hölle. Der berühmte "Schatten
des Zarathustra", der diese 'religiöse Gestalt' "ständig begleitete"
und den sie "nicht überspringen" konnte, fiel schließlich auf Nietzsche
selbst zurück und umnachtete seinen Geist. Der Philosoph Nietzsche,
dessen Denken in vielen Farben schillert, war in seinem lebenslangen
Kampf gegen ein von ihm mißverstandenes Christentum weder ein
Gottesleugner noch ein Gottsucher, da er keine Gotteserkenntnis gehabt
und sich jeden Weg zu ihr versperrt hat. Dann aber gehen die Fragen
nach Gott ins Leere und der Mensch kreist nur noch um sich selbst. Er
versinkt in heilloser Subjektivität, in der die Vernunft nichts mehr
vernimmt. Da gähnt ein Abgrund. Man kann eben nicht als Mensch in
seinem personalen Sein existentieller Nihilist und Nicht-Nihilist
zugleich sein wollen.
Dies alles läßt sich, anders ausgedrückt und biblisch gesprochen, auf
den einfachen Nenner bringen: Am Anfang war weder die Tat noch ein
Tat-Wille, sondern das Wort, der LOGOS. Und nur im geistigen Wort ist
wahre Antwort möglich. Es gibt weder eine intuitive Gottanschauung noch
eine visionäre Gewahrung Gottes. Darum fragt der Mensch nach Gott und
ist in diese Frage gestellt, gleichgültig, ob er dies nun akzeptiert
oder nicht. Wenn ein Christ nicht mehr unruhigen Geistes nach Gott
fragt oder dieser existentiellen Frage ausweicht, dann ist er bereits
von der christlichen Religion abgefallen, auch wenn er dies nicht wahr
haben will.
Es ist unbedingt nötig, im untrennbaren Verhältnis von Religion und
Gotteserkenntnis, das auf einer inneren Einheit beruht, die Wurzel, den
Anfang und den Ursprung der Religion des Menschen als eines religiösen
Wesens deutlich zu erfassen und zu unterscheiden. Andernfalls ist es
auch nicht möglich, die Ursachen zu erkennen, die einen Manschen zu
einer "gottlosen Existenz" machen können. Auch ein durch und durch
Gottloser übt eine Religion aus, was vor allem Christen wissen sollten.
Der Satan wollte nicht Gott sein - so dumm war er nicht -, wohl aber
"wie Gott sein".
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