2. Das Erwachen des "religiösen Bewußtseins"
Wie jedermann weiß, spielt sich das (relativ) eigenständige Leben der
Menschen zwischen Geburt und Tod ab und verläuft dann mehr oder weniger
menschlich, abgesehen einmal von denen, die durch Selbstverschulden
oder auch durch Fremdverschulden ein elendes und menschenunwürdiges
Leben fristen. Doch erst ziemlich spät wacht im Leben des einzelnen,
nachdem er mit sich selbst und den anderen (Ich und der andere) in der
Regel mehr schlechte als gute Erfahrungen gemacht hat, das sog.
"religiöse Bewußtsein" auf. Wie gesagt, es wacht erst auf, und zwar
nicht plötzlich, sondern langsam und ohne zunächst besonders klar oder
gar eindeutig zu sein. Es ist innerlich verbunden mit dem Beginn
selbständigen Denkens, zu dem jeder normale Mensch befähigt ist.
Hier aber liegt ein entscheidender Punkt im Leben des Einzelmenschen
und seiner geistigen Entwicklung, besser: Reifwerdung, die mit der
biologischen Reife gar nichts zu tun hat. Jeder weiß, daß biologische
und geistige Reife nicht dasselbe sind und daß letztere auch bei
religiösen Menschen, die eine Religion ausüben, nicht selten viel zu
wünschen übrig läßt. Es gibt Erwachsene genug, die nie geistig reif
geworden sind, sich aber dennoch anmaßen, auch auf religiösem Gebiet
alles beurteilen zu können. Dabei haben sie in ihrem Leben noch nie ein
waches und abgeklärtes "religiöses Bewußtsein" besessen.
Nun aber hat dieses Bewußtsein, das aus dem wachen und reflexiven
Selbstbewußtsein nicht zufällig hervorgeht, das Eigentümliche an sich,
den Menschen in eine existentielle Unruhe zu versetzen, so daß er sich
schließlich die Frage nach dem eigentlichen Sinn und Zweck seines
persönlichen Daseins stellt - eine Frage übrigens, die, wenn sie sich
ernsthaft stellt, äußerst bedrückend werden kann und auch so empfunden
wird, da sich eine wahrhaft gültige Antwort auf sie nicht einfach so
von selbst ergibt. Dies ist im wachen Bewußtsein evident. Dann aber
kommt es ganz darauf an, ob diese Existentialfrage nüchtern und
unbefangen aufgenommen und durchgetragen oder schnell wieder vergessen
bzw. verdrängt wird. In der Regel ist leider letzteres der Fall, so daß
das "religiöse Bewußtsein" eine ernstliche Trübung erleidet, die man
selbst verschuldet hat.
Indessen läßt sich diese Frage nie gänzlich ausrotten und aus dem
Bewußtsein tilgen. Vielmehr kehrt sie immer wieder und bisweilen sogar
mit Nachdruck zurück. Verhängnisvoll jedoch kann es dann werden, wenn
ein Mensch, da er ja ein religiöses Wesen ist, überhaupt keine wahre
Antwort auf sie findet, weder durch eigenes Nachdenken noch von Seiten
des Wissens anderer, die er um Rat gefragt hat. Denn dies hat eine
tiefgehende Vereinsamung zur Folge, aus der man sich selbst nicht mehr
befreien kann. Es gibt viele bemitleidenswerte Menschen, die so ihr
persönliches Dasein leben und leben müssen, obwohl sie dies gar nicht
wollen (und auch nicht müßten). Wer aber kümmert sich um sie und hilft
ihnen? Uns möge doch kein Kleriker irgendetwas von christlicher
Nächstenliebe erzählen, der nicht mehr weiß, was ein geistiges Almosen
in Wirklichkeit ist, das zu geben jeder gebildete Christ die strenge
Pflicht hat. Vereinsamte Christen stehen in der Gefahr, dem Nihilismus
zu verfallen und gottlos zu werden. (Im übrigen ist diese Gefahr bei
Nicht-Christen noch viel größer, auch wenn sie eine Religion ausüben,
da sie aus bestimmten Gründen, die wir hier nicht erörtern können,
grundsätzlich kein ungetrübtes "religiöses Bewußtsein" haben. Diese
Trübung reicht bis zu seiner Verfinsterung, die immer auch eine
selbstverschuldete ist.)
Bereits in der sich erstmalig und ernsthaft stellenden Frage nach dem
eigentlichen Sinn und Zweck des eigenen persönlichen Daseins, das man
sich doch nicht selbst gegeben hat, sondern in dem man sich vorfindet,
kommt das religiöse Wesen des Menschen zum Ausdruck und prägt dem
religiösen Bewußtsein seinen Stempel auf. Auch ein radikaler Atheist,
zu dem ein Mensch immer erst geworden ist, ist sich dessen bewußt, auch
wenn er dies leugnet, d.h. nicht (mehr) wahr-haben will (und sich
dadurch allerdings als ein amoralischer und stupider Geist entpuppt).
Mit dieser Frage jedoch, die man auch als eine religiöse Grundfrage
bezeichnen kann, verbindet sich im religiösen Bewußtsein immer eine
existentielle Unruhe, die sich sogar bis zu einer Daseinsangst steigern
kann. Es ist nötig, daß ein religiöser Mensch sich darüber klar wird,
weil sich sonst das erwachte religiöse Bewußtsein wieder eintrübt und
seine ursprüngliche Helle verliert, so daß es zu nachhaltigen geistigen
Verwirrungen kommen kann.
Das vernunftgemäße Denken unterscheidet schon im allgemeinen deutlich
zwischen Furcht und Angst. In den geistigen Grundakten der Religion ist
es auch nicht anders. Denn die Religion ist in ihrem Wesen ein
menschliches Phänomen.
Das religiöse Bewußtsein, das weder aus dem Unbewußten noch aus dem
Unterbewußtsein 'auftaucht', da es einzig und allein aus der Helle des
reflexiven Selbstbewußtsein hervorgeht, hat aber auch nichts Sinnliches
an sich, es ist weder ein Gefühl noch eine Empfindung noch ein Erleben,
auch wenn es von solchen Zustandserfahrungen nachfolgend - konsekutive
- begleitet sein kann, nicht jedoch sein muß. Wer als religiöser Mensch
im Bereich der Religion, die er hat und vollzieht, immer nur 'fühlt',
'empfindet' oder 'erlebt', der hat noch nie etwas geistig erfaßt und im
Denken durchdrungen, was Mühe und Anstrengungen erfordert. Der
Erkenntnisweg eines Menschen zum "mündigen Christen" ist ein sehr
langer und nie ein leichter, auf dem man 'selig wandeln' könnte. Dies
scheint den sog. 'Traditionalisten' völlig unbekannt geworden zu sein.
Es hat auch keinen Sinn, so etwas beschönigen zu wollen, ganz abgesehen
von der hier vorliegenden Unredlichkeit.
Im wachen religiösen Bewußtsein wird ein jeder als eine über sich
selbst verfügende Person sich mehr und mehr der Tatsache reflexiv
bewußt, daß er in seinem einfachen Dasein keine notwendige Existenz
(bzw. kein notwendig existierendes Wesen) ist, und zugleich, daß er in
seinem Sein von etwas prinzipiell Anderem, das er nicht ist, abhängig
ist, aber auch abgehalten wird, das wiederum nicht bloß außerhalb oder
oberhalb seiner selbst, sondern schlechthin über ihm "West", ohne
jedoch jenseits von ihm in absoluter Transzendenz zu existieren, also
nicht völlig beziehungslos zu ihm selbst. Damit aber wird auch
deutlich, daß die "existentielle Unruhe" eine transsubjektive Ursache
hat und keine grundlose ist, wenn sie sich einstellt. Sie identifiziert
jedoch keinen Abgrund, vor dem man plötzlich hilflos dastehen würde und
in ihn abstürzen müßte. Eine solche Meinung, die oft von religiösen
Menschen geäußert wird, ist jedoch eine Übertreibung. Sie entspringt
einem getrübten und durchaus nicht klaren Selbstbewußtsein in der
Erkenntnis seiner selbst. Außerdem wird im wachen und reflexiven
religiösen Bewußtsein sicher gewußt - ein sicheres Wissen ist freilich
noch lange kein vollkommenes -, daß dieses Andere, von dem man in
seinem eigenen Sein abhängig ist und gleichsam über dem "Nichts"
gehalten wird, kein wesenloses Etwas, kein "Es" ist, sondern eine reale
personhafte Macht, die auf ein reines Geistwesen verweist und dieses
indiziert.
Zugleich aber weiß man im religiösen Bewußtsein und wird sich auf eine
konkrete Weise dessen inne, auf dieses Andere unbedingt bezogen und
entitativ hingeordnet zu sein. Es ist unmöglich, diese im geistigen
Erkennen erfaßte Relation von sich abzuschütteln oder aus ihr
auszutreten, denn der kreatürliche Mensch ist nun einmal nicht
zufällig, sondern notwendig ein religiöses Wesen, das sich im
Selbstbewußtsein reflektiert und seiner selbst gleichsam "ansichtig"
wird.
Alle, die stupiden Geistes vom "autonomen Menschen" reden, von dieser
'Idee' fasziniert sind und dem Autonomismus huldigen, haben ein
defizientes, verdunkeltes und in sich verkrümmtes religiöses
Bewußtsein, das seine Ursachen in ihnen selbst hat. Die realen Folgen,
die eine solche Bewußtseinslage nach sich zieht, aber sind verheerend
und machen einen Menschen zu einer würdelosen und moralisch defekten
Existenz. Dies ist ein unleugbares Faktum, das von niemandem beschönigt
werden sollte. Es führt zu nichts Gutem, wenn man so etwas tut. Auch
die transzendente personhafte Macht verdunkelt sich im Bewußtsein
dieser Leute und erscheint dann wie ein alles bedrohendes 'Über-Wesen',
das den Menschen in seiner Gewalt hat und mit ihm willkürlich verfährt,
ähnlich einem absoluten Despoten, einem schlechthin bösen
Gewaltherrscher, der seine Macht ständig mißbraucht.
Hier liegt der Punkt, wo die von einem Autonomisten vollzogene
Religion, da er ja notwendig Religion hat, negativ, pervers und unwahr
wird. Die Autonomisten mit ihrem "Willkürgott" gehören zur 'feinen'
Gesellschaft der Atheisten. So manche von ihnen zahlen auch ohne Zögern
Kirchensteuer und bekleiden sogar 'kirchliche' Ämter. Einfache Gläubige
halten sie in ihrer Naivität schlimmstenfalls für schlechte Christen,
obwohl sie überhaupt keine Christen sind.
Im unverfälschten religiösen Bewußtsein, das wesenhaft ein geistiges
ist, wird unmittelbar erfaßt und bereits vor-wissenschaftlich
begriffen, daß die Religion als solche ein relationaler Sachverhalt
ist, der zwei inkommensurable Seitenhat: die eine liegt im Menschen,
von dem iran vieles weiß, die andere jedoch in Gott, von dem man aber
keineswegs nichts weiß, sondern zunächst nur sehr wenig weiß, indessen
mehr wissen möchte, sofern ein Mensch geistig reif geworden ist.
Die in der Religion liegende und sie bestimmende Relation ist keine
Polarität; denn Polarität ist ein Gegensatz von Gleichwertigkeiten der
beiden Seiten (extrema), die in der gleichen Kategorie liegen und von
ihr bestimmt sind. Darum beinhaltet und impliziert die Religion auch
kein "Ich-Du-Verhältnis", von dem so manche träumen. (Nb: im "Gebet des
Herrn", das ER für den Menschen als angemessen vorgeschrieben hat,
heißt es nicht: "Vater meiner", sondern "Vater unser", wobei es sich um
einen ganz anderen Sachverhalt handelt.) Die offenkundigen
Schwierigkeiten in der Religion des nie religionslos existierenden
Menschen beginnen nicht im ursprünglichen religiösen Bewußtsein,
sondern mit einem nachfolgenden falschen oder irrigen Denken, das die
Wirklichkeit des Gegebenen und Vorgegebenen verfehlt, so daß es sich
wie eine Sperre vor das Einsichtsvermögen des Menschen legt. Mit dem
irrigen Denken aber verbindet sich auch ein irriger religiöser Glaube,
was oft gar nicht bemerkt wird; beides jedoch verdirbt die natürliche
Religion des Menschen und zieht sie dann in die Unwahrheit, woraus es
kein Entrinnen (mehr) gibt. In diesem Prozeß, dem jeder einzelne
ausgesetzt sein kann, fällt der Mensch als ein religiöses Wesen nicht
nur von Gott ab, sondern auch von sich selbst und seiner Werthöhe und
wird zu einer "wertlosen Existenz". Die Hl. Schrift bezeichnet solche
Menschen als "Nichtse". Man muß schon im doppelten Sinne des Wortes
ziemlich verrückt geworden sein, um solchen 'Persönlichkeiten' auch
noch Ehre zu erweisen. Hier ist nichts zu sehen von der berühmten
'Menschenwürde', weder bei den Gelehrten noch bei den sie Ehrenden.
Dies dürfte doch wohl evident sein. Die Tatsache, daß der Mensch
notwendig Religion hat, schließt nicht aus, daß er nicht auch total
verrückt sein kann.
Viele Gläubige (Katholiken und Nicht-Katholiken) leben in dem
gedankenlosen Irrglauben, die christliche Religion bewege als Religion
das menschliche Herz, das vermeintlich "Gründe hat, die die Vernunft
nicht kennt" (Pascal). In Wirklichkeit jedoch bewegt die Religion, da
sie ein menschliches Urphänomen ist, den menschlichen Geist in seinem
Erkennen und Wollen, indem sie ihn zugleich auf Gott bezieht und
hinordnet, und zwar auf Gott als ihrem Finalprinzip, zumal sich der
kreatürliche Mensch im religiösen Bewußtsein auch des Seins Gottes
innewird oder, anders ausgedrückt zu einem ersten Wissen um IHN
gelangt, und hierbei zuerst als einer realen personhaften Macht, von
der er abhängt.
Nun ist es aber unmöglich, die allgemeine diffuse Religiosität (pietas
confusa) der Menschen sachgerecht (recta rei ratio) und wirksam
(efficax) zu ordnen ohne autoritative Macht und Weisheit, die im
übrigen nicht verborgen bleiben, sondern sich auch kund tun muß. Ist
der Mensch von sich aus zu einem solchen Ordnen, von dem auch sein Heil
abhängt, fähig? Nun, sicherlich nicht, ganz gewiß nicht! Denn so etwas
übersteigt seine Potenzen. Eine wahre Religion setzt das Wissen um die
das menschliche Leben ordnende autoritative Macht und Weisheit des
Schöpfergottes voraus, dem der Mensch und somit ein jeder das Sein
verdankt. Das unverbildete religiöse Bewußtsein ist auch darüber
informiert, sobald es aus dem reflexiven Selbstbewußtsein hervorgeht,
andauert und wach bleibt.
Der Mensch hat, wie schon gesagt, nicht zufällig 'auch Religion',
sondern notwendig Religion, da er ein sich verwirklichendes religiöses
Wesen ist, das sich im religiösen Bewußtsein reflektiert, d.h. auf sich
selbst zurückbeugt und zugleich über sich hinausweist, aber weder in
eine Leere noch in ein "Nichts". In dieser Existentialsituation
lebt der Mensch und vollzieht sein Dasein... mehr schlecht als recht,
wie jeder weiß, der sich nicht selbst belügt. Indes hilft es niemandem,
wenn ihm von Weisen gesagt wird: du sollst ein gottgefälliges Leben
führen! Denn der Durchschnittsmensch versteht das nicht und begreift
auch nicht, was damit gemeint wird, weil er kein reflexives religiöses
Bewußtsein hat und ihm noch nie die Religion, die er ererbt hat und in
der er lebt, zum Problem wurde. Dies gilt auch für viele katholische
und nicht-katholische Christen und insbesondere für die
'Traditionalisten', die aus bloßer Tradition und Gewohnheit
'christlich' sind und Christen zu sein glauben. Es hat doch keinen Sinn
und ist zudem noch unredlich, eine solche defiziente Lebenslage einfach
zu leugnen, wie es so oft geschieht. Vielmehr ist gerade die Religion,
die einer hat und in der er lebt und die er bisweilen auch als ein
besonderes Wertobjekt anpreist, der harten Wahrheitsfrage unterworfen,
ganz abgesehen davon, daß die Religion den ganzen Menschen einvernimmt
und gleichsam in Beschlag nimmt (nicht bloß seine Seele). Dies aber
macht die ganze Sache gewiß nicht leichter, sondern im recht
verstandenen Sinne noch problematischer, als sie es bereits ist.
Es gibt eine Menge Leute, auch sehr 'fromme', die sich davor fürchten
(Furcht ist auch Flucht vor etwas) und dann der Wahrheitsfrage
ausweichen, als ob es sich um ein Übel oder sogar um etwas Böses
handeln würde. Diese Erfahrung kann man heutzutage überall machen, wenn
man bei im religiösen Sinne Gläubigen die Religionsfrage, die ja kein
Glaubensproblem ist, in ein Gespräch zieht und das dann plötzlich nicht
mehr weitergeführt werden kann. Nicht selten wird der die
Religionsfrage aufwerfende Gesprächspartner sogar für einen Ungläubigen
gehalten, der nichts Gutes im Schilde führt und mit dem man lieber
nicht zusammenkommt. Die Religion erzeugt leider auch deplacierte und
ihr abträgliche Emotionen. Sie ist kein "Heilsphänomen a priori",
sondern eine zu heiligende Wirklichkeit im Dasein des Menschen als
eines religiösen Wesens. Es gibt genügend Religionen, die nichts
anderes als Unheils-Phänomene sind. Doch auch ihre Anhänger genießen
die sog. 'Religionsfreiheit', wenn eine Staatsgewalt dies zuläßt oder
nichts dagegen hat. Deshalb ist es verständlich, wenn gewisse
'Menschenfreunde' nicht müde werden, auf ihre Fahnen die Parole zu
schreiben: "Freiheit von der Religion!" Das Pech dieser Leute ist nur,
es nicht zu begreifen, daß und warum ein solches Ziel niemals erreicht
werden kann. Es ist nun einmal dem Menschen unmöglich, religionslos zu
existieren. Er wird immer irgendeine Religion haben, und sei es auch
eine gänzlich absurde. Die Religion ist ein Drama, aber keine Tragödie,
auch wenn man aus ihr eine solche machen kann.
Jeder Mensch mit wachem Geist erkennt in der Reflexion auf sich selbst
und sein Sein zureichend deutlich, daß er kein absolutes Wesen und kein
notwendig Seiendes ist, d.h. er erfaßt sich als eine durch und durch
kreatürliche Existenz, die nicht nur dem Werden und Vergehen
unterworfen, sondern auch in vielfacher Hinsicht defekt ist. Jeder
weiß, sobald er eine gewisse geistige Reife erlangt hat, daß der
individuell-konkrete Mensch in seinem Leben von Natur aus und ständig
z.B. in seinem Denken zum Irrtum und in seinem Wollen zum sittlich
Schlechten (Bösen) geneigt ist, so daß er immer die Wahrheit und das
Gute verfehlen kann (nicht muß!), was dann auf ihn selbst zurückschlägt
und seine Existenz prägt. Das Verfehlen der Wahrheit und des Guten aber
ist nicht bloß ein Übel, sondern ein geistiges Unheil und ein
eindeutiges Zeichen religiöser Heillosigkeit menschlichen Daseins.
Für einen selbstkritischen Menschen ist diese Erkenntnis eine ganz und
gar nicht erfreuliche, geschweige denn eine Glück verheißende. Der
Mensch ist in seiner individuellen Existenz ein "Sein zum Tode", nicht
jedoch zum "ewigen Leben" und zur "Glückseligkeit". Darum ist es
durchaus verständlich, wenn ständig der Versuch gemacht wird, diese
Erkenntnis zu verdunkeln, aus dem Bewußtsein zu verdrängen und
schließlich auszulöschen - nur: letzteres gelingt nicht! -, um bloß
nicht weiter, d.h. von sich her und über sich hinaus, denken zu müssen,
um eine Wahrheit tiefer zu erfassen. Ein sich selbst kritisch
gegenüberstehender Christ weiß, daß dieser Versuch auch eine satanische
Versuchung (tentatio daemonica) sein kann. Darum betet er: "Und führe
uns nicht in Versuchung".
Wie aber kommt es zu einem solchen 'Versuch, den der Mensch so oft
macht? Nun, ein Wille ist es, der sich aus der Tiefe des menschlichen
Geistes (genauer: der geistigen Seele des Menschen) meldet, mit Macht
hervorbricht und sich zugleich gegen diese Grunderkenntnis wendet, die
den Menschen auf ein höheres Ziel ausrichtet und hinlenkt, ohne ihn zu
nötigen oder auf ihn Zwang auszuüben. Der Wille bleibt frei in seinem
Wollen - zum Guten und zum Bösen. Die reale Folge dieses Versuches aber
ist, daß der Mensch in seinem personalen Sein zu einer antagonischen
Existenz wird, d.h. zu einer in sich verkrümmten Widerspruchseinheit,
die ihm schließlich wie ein heilloser Habitus anhängt, der sein Leben
bestimmt und den er nicht mehr los wird. Der Mensch selbst ist es, der
sich im Vollzug seiner kreatürlichen Existenz kraft seiner
Willensfreiheit ins Unheil stürzt, nicht aber eine außerhalb des
Menschen oder über ihm existierende personhafte Macht, und schon gar
nicht Gott in seiner Allmacht und der allein allem, was ist, das Sein
gibt und zu geben vermag - auch dem das Heil nicht wollenden Menschen!
Religionen, die auf irgendeine Weise eine Selbsterlösung des Menschen
von seiner naturhaften Neigung zum Irrtum und zum Bösen sowie von
seiner heillos antagonisch gewordenen Existenz lehren und verheißen,
mißverstehen sich nicht bloß selbst von Grund auf, sondern sind
prinzipiell unwahr und verlogen. Zudem sind sie völlig wertlos und des
Menschen unwürdig. Es gibt sogar Methoden und Praktiken, mit denen man
diese fiktive Selbsterlösung erreichen, ja sogar erzwingen möchte
(durch Magie, 'transzendentale' Meditation, Ekstasen), die indes nichts
anderes zum Resultate haben als einen religiösen Wahnsinn, der immer
auch von einer fixen Idee im psychopathologischen Sinne mitbestimmt
ist. Außerdem sitzt in allen Selbsterlösungslehren der Stachel des
nihilistischen Atheismus. Zugleich aber suggerieren sie dem(n) Menschen
einen Eigenwert, den er (sie) gar nicht hat (haben), so daß sich eine
solche Maßlosigkeit immer rächt. Auch die modernen Ideologien mit ihren
'Verheißungen' sind verschleierte Selbsterlösungslehren auf mehr oder
weniger primitiver Grundlage. Und deshalb bieten sie sich ja auch und
insbesondere gegenüber dem "allgemeinen Christentum" als Ersatzreligion
an. Der Erfolg läßt sich nicht bestreiten. Die verschiedenen Apostel
aus dem großen 'Orden von der Selbsterlösung' verkünden: "Jesus hat
noch niemanden erlöst", nicht einmal das "auserwählte Volk" der Juden,
"und war auch nicht der Messias", sondern ein jüdischer Wanderprediger,
der sich selbst mißverstand und überschätzte, da er selbst einer
"Erlösung bedürftig" war. Sein Tod sei "überflüssig" gewesen und habe
auch "niemandem in seiner existentiellen Lage genützt". Der Mensch
könne von seinem "elenden Dasein" nur durch Selbsterlösung erlöst
werden. Jeder Nihilist habe mehr Mut als ein Christ, der nie an sich
selbst, sondern immer nur "an Jesus glaube".
Es hat einmal ein verärgerter Eremit auf die im religiösen Sinne
gemeinte Frage, "was ist der Mensch?" die sarkastische Antwort gegeben:
"Nun, vor allem ein großes Geschwätz, wenn er nur den Mund aufmacht!"
Dieser Mann hatte recht - oder etwa nicht?
Es gäbe nicht das Urphänomen der Religion, wenn der Mensch nicht von
Natur aus ein religiöses Wesen wäre, und es gäbe auch nicht Religionen,
wenn der Mensch nicht an sich selbst scheitern und dann sowohl von sich
selbst und seiner Werthöhe als auch von Gott abfallen könnte. Dieser
doppelte Abfall durchzieht das ganze Menschengeschlecht und tradiert
sich oder pflanzt sich fort von Generation zu Generation. Nur der
"Massenmensch" in seiner areligiösen Stupidität bemerkt das nicht, denn
er lebt, anthropologisch betrachtet, ein unter-menschliches Dasein, in
dem er sich im doppelten Sinne des Wortes auslebt. Er ist in jeder
Gesellschaftsschicht zu finden. Auch der heute noch existierende
Polytheismus ist für diesen doppelten Abfall ein Beweis. Dies gilt aber
auch in gewisser Hinsicht für den Monotheismus und insbesondere dann,
wenn es sich um einen erkenntnisleeren Ein-Gott-Glauben handelt, der
sich nur auf ein (vermeintlich) "höchstes Wesen" oder ein "oberstes
Numen" oder auf ein "Ur-Eines" (Henotheismus) bezieht und sich darin
bis zur Sinnwidrigkeit erschöpft.
Ein solcher religiöser Glaube verdirbt die Religion und geht an sich
selbst zugrunde. Hier kann man auch sagen: er hält nicht, was er
verspricht und bleibt bedeutungslos. Der echte und erkenntnisklare
Monotheismus, auf den der Mensch als ein religiöses Wesen existentiell
bezogen ist, ist etwas ganz anderes und hat auch, wenn man so sagen
will, ein ganz anderes Gesicht. Im übrigen unterscheidet er sich auch
prinzipiell vom Deismus der sog. europäischen Aufklärung, der jedoch
gar nichts anderes ist als eine flache und ziemlich naive
rationalistische Fiktion, die einem irrigen Denken entsprungen war. Ein
Deist hat es noch nie begriffen, daß und warum der existierende Mensch
notwendig Religion hat, aber nicht notwendig eine wahre. Das
Christentum hinwiederum unterscheidet sich wesenhaft und prinzipiell
von allen anderen Religionen. Daraus aber folgt nicht, wie wahnwitzige
Protestanten behauptet haben, daß es keine Religion sei. Sicherlich war
Christus kein sog. 'Religionsstifter', denn das wäre schließlich auch
unter seiner Würde gewesen. Offensichtlich hat man nicht mehr
verstanden, was das heißt: "Er kam in das Seine (bzw. in Sein
Eigentum), aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf" (Joh 1,11), oder: "Er
war in der Welt, und die Welt ist durch Ihn geworden, aber die Welt hat
Ihn nicht erkannt" (ebd. 5,10). Das Christentum ist eben absolut keine
Selbstverständlichkeit und kann dies auch gar nicht sein. Christen, die
das vergessen haben oder sich dessen nicht mehr klar bewußt sind, haben
sich bereits von der christlichen Religion entfernt. Heute trifft man
überall auf solche Zeitgenossen, auch in den 'Kirchen', und selbst
dort, wo man es gar nicht vermutet hat.
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