1. Der Stachel des Nihilismus
Kein vernünftiger Mensch, der von seinem abstraktiv-intellektiven
Denken einen kritischen Gebrauch machte, hat jemals geleugnet, daß der
Mensch in seiner konkreten Existenz - im Unterschied und Gegensatz zum
Tier - ein religiöses Wesen ist, und zwar nicht zufällig, sondern
notwendig und somit ein nicht-religiöses überhaupt nicht sein kann.
Dies jedoch ist nicht verwunderlich. Denn die Religion ist ein
Ur-Phänomen menschlichen Daseins. Deshalb gibt es auch keinen
religionslosen Menschen. Um so verwunderlicher aber dürfte dann die
Tatsache sein, daß es dennoch so viele Atheisten gibt, die im übrigen
in allen Gesellschaftsschichten zu finden sind, nicht bloß in einer
oder in zwei, wie oft angenommen wird. Darum werden sie von nicht
wenigen Katholiken nicht oder nicht deutlich genug erkannt und sogar
für 'christliche Mitbürger' gehalten, obwohl sie, falls sie überhaupt
einmal Christen waren, schon längst vom Christentum abgefallen sind und
sich nur noch 'christlich' geben, weil dies bisweilen opportun ist.
Für viele ist heute vieles zweifelhaft und undurchsichtig geworden,
insbesondere auf dem Gebiet der Religion, und dies nicht zuletzt
deswegen, weil immer noch ein 'christliches Vokabular' gebraucht wird,
das jedoch sinnleer geworden ist. Die Ursache für diese Sinnleere aber
liegt immer in einem schwerwiegenden Mangel in der geistigen Erkenntnis
und rationalen Erfassung religiöser Dinge und Sachverhalte. Außerdem
läßt sich nur sehr wenig von dem, was im Wesen der Religion liegt,
'popularisieren'.
Wie aber ist es möglich, daß der Mensch, obwohl er doch ein religiöses
Wesen ist, dennoch radikal atheistisch und somit schlechthin gottlos
werden kann und dadurch allerdings nicht zu einem Tier wird, wohl aber
zu einem Untermenschen (im Unterschied zu einem fiktiven
'Übermenschen', auf den er hinaus will oder der er bereits zu sein
glaubt)?! Dieses offenkundige Scheitern des Menschen an sich selbst und
zugleich an Gott gehört zu den merkwürdigsten Erscheinungen im Leben
vieler 'Persönlichkeiten', die vor allem im kulturellen und politischen
Bereich tätig sind und dort ungehindert ihr Unwesen treiben. Manche
katholische und andere Christen beten mit Inbrunst, Gott möge diese
Leute doch an ihrem bösen Tun hindern und mit Macht dagegen
einschreiten, was Gott freilich nicht tut, da er will, daß der Mensch
frei sei und über sich selbst verfüge. Andere wiederum interessiert das
alles nicht, da sie immer nur um ihr eigenes 'Seelenheil' besorgt sind,
wogegen selbst Atheisten nichts einzuwenden haben.
Zu dieser Gottlosen-'Rasse' aber gehören auch jene 'intellektuellen'
Radikal-Nihilisten, die paradoxerweise 'aus religiöser Überzeugung' des
Glaubens sind, daß letztlich alles sinnlos, wertlos, unnütz und umsonst
sei. Nur das - so sagen sie - in allem, was ist, "immer wiederkehrende
Nichts ist ewig". Zudem ist der Radikal-Nihilist ein Mensch, der in dem
'religiösen Glauben' lebt, dazu berufen! zu sein, dieses "Nichts" trotz
allem "auszuhalten" und "durchzuhalten", ohne dabei in eine
Verzweiflung fallen zu müssen. Darin, so meint er, beweist sich auch
seine "starke Persönlichkeit", kraft welcher er sich aus den
Niederungen des allgemeinen Lebens der Menschen erhebt und so den
lästigen Ballast eines "unwerten Lebens" hinter sich läßt. Der
gewöhnliche Alltagsmensch versteht das alles nicht, weil er nur sein
Leben lebt und nie reflex-bewußt lebt, sondern gleichsam nur 'gelebt'
wird, ohne jemals wirklich bei-sich-zu-sein in seinem personalen
Selbst-sein. In ihm aber reflektiert sich das 'religiöse Wesen' des
Menschen.
Echte Nihilisten sind, philosophisch gesprochen, in ihrem Denken auf
ein unbestimmtes "Nichts" fixiert, das in allem Werden liegt und
mächtiger zu sein scheint als das Sein. Denn das Werden ist ein
Noch-nicht-sein und sollte nicht mit dem Begriff der Entwicklung
verwechselt werden. Jeder echte Nihilist weiß, daß leben und existieren
(ek-sistieren) nicht dasselbe sind. Indessen will er nicht eine
kreatürliche Existenz sein, sondern sozusagen wenigstens ein Halbgott
werden, ein "Übermensch"... Darum ist der nihilistische Atheismus
gemeingefährlich und einer Seuche ähnlich, die das menschliche Leben
von innen heraus zerstört.
Der existentielle Nihilismus (sofern er noch atheistisch ist), der
potentiell im Menschen liegt und von dem gerade religiöse Menschen
betroffen sein können, hat nichts zu tun mit Pessimismus,
Schwarzseherei oder primitiver Lebensverneinung aber auch nichts mit
Unglauben oder Glaubenslosigkeit im christlichen Sinne. Denn der
spezifisch christliche Glaube ist und bleibt ihm genau so verschlossen
wie die christliche Religion, zu der er sich den Zugang verbaut hat.
Indessen ist er eine Vorstufe des intellektuellen Atheismus, der heute
überall verbreitet ist (nicht bloß an den Universitäten, von denen er
seinen Ausgang genommen hatte) und dem auch gebildete 'Christen'
verfallen sind. Es ist fast die Regel, daß sie sich dessen so gut wie
gar nicht mehr bewußt sind. Dies kann man in Gesprächen und
Diskussionen, wenn sie das Problem der Religion berühren, leicht
feststellen. Zudem ist es ein großer Irrtum von Katholiken und anderen
Christen, bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Atheismus, der immer
auch mit einem Nihilismus verbunden ist, zu meinen, der echte Atheist
sei eine bemitleidenswerte "tragische Existenz", die er ganz und gar
nicht ist. Denn er glaubt nicht an ein Fatum, dem er hilflos
ausgeliefert wäre und das ihn um seine Freiheit bringt oder bringen
könnte. Nicht einmal der nihilistische Atheist ist ein Fatalist. Für
ihn sind Fatalisten bestenfalls "schwache Persönlichkeiten" und im
Grund nichts anderes als geistlose "dumme Leute", die nicht wissen, was
"existieren" heißt. Sie haben, poetisch formuliert, noch nie gesessen
"auf den Klippen des Nichts".
Der in seinem religiösen Glauben nichts Böses ahnende einfache Christ
versteht nicht die existentielle Lebenssituation "religiöser
Gottlosigkeit", in der sich ein Mensch befindet, nachdem er sich in
eine solche Lage hineingebracht hat. In diesem "Existentialzustand"
kommt nicht der freie Übermensch, sondern der unfreie Untermensch zum
Vorschein, der im Bereich der Religion ein Degenerationsphänomen ist.
Auch das Christentum kann bis zur Unkenntlichkeit degenerieren, da es
von Menschen getragen und ausgeübt wird. Ein degeneriertes Christentum
aber hat bereits sein Existenzrecht verloren und kann mit Recht aus dem
öffentlichen Leben entfernt werden.
In jeder bewußt vollzogenen und frei ausgeübten Religion verbirgt sich,
sofern es sich um eine rein natürliche handelt, auf eine eigentümliche
Weise ein Nihilismus, der nicht selten sogar wie ein "Stachel im
Fleisch" empfunden wird und üble Folgen nach sich ziehen kann, welche
die Religion verderben. Dies leugnen immer nur diejenigen, denen ihre
eigene Religion noch nie zu einem echten Problem geworden ist. Unter
einem Problem versteht man eine Frage, die nicht so ohne weiteres und
leicht gelöst bzw. beantwortet werden kann. Auch die christliche
Religion ist eine durchaus problematische und dies schon dadurch, daß
sie prinzipiell überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Deshalb ist
es gar nicht verwunderlich, wenn sie nicht erst seit heute von vielen
(ja sogar von den meisten Zeitgenossen) als ein besonderer Wert für das
allgemeine Leben der Menschen untereinander verneint und als ein
allgemeiner Ordnungsfaktor radikal abgelehnt wird, insbesondere im
zivilen und staatlichen Rechtsbereich. Es herrscht überall die Meinung
vor, sie sei als Religion genau so viel wert wie die anderen und also
im Grunde wertlos und überflüssig. Hier spielt auch die alles
pervertierende Reduktion des Christentum auf 'allgemeine Menschenliebe'
eine große Rolle, eine Sache, die bereits viele Mitchristen regelrecht
um ihren Verstand gebracht hat. Seither leiden sie an einer Art
religiöser "anorexia mentalis" ("psychischer Magersucht" geistigen
Ursprungs) und sind von großer Furcht, geheimen Ängsten und von
Menschenfurcht erfüllt. Das riecht geradezu nach Fatalismus und
Selbstaufgabe. Das Christentum jedoch braucht keine sog. 'religiösen
Leute', die bloß Gebete murmeln, fromme Lieder singen, ihr Innenleben
betrachten oder in geistlose Meditationen fallen, sondern paulinische
Christen, die fähig sind und den Mut haben, ein geistiges Schwert zu
gebrauchen, um das überall wirkende Böse wenigstens zurückzudrängen,
das eben auch im Nihilismus liegt. Das Christentum ist nicht einfachhin
die "Religion der Liebe" (das riecht schon nach Nihilismus), da es eine
echte Liebe ohne eine geistige Erkenntnis des Wahren und des sittlichen
Sollens gar nicht gibt.
Man kann folgende Erfahrung machen: Erst dann, wenn einem aus bloßer
Tradition 'Gläubigen' - das sind die meisten Katholiken und
Nicht-Katholiken - infolge einer üblen religiösen Lebenssituation
langsam bewußt wird, daß Glaube und Religion nicht dasselbe sind, kommt
es zu einer echten und kritischen Frage nach dem Wesen der Religion im
allgemeinen und der eigenen im besonderen, so daß sich dieser Gläubige
plötzlich gar nicht mehr so sicher ist, auf dem Boden der christlichen
Religion zu stehen und aus ihr zu leben. Da tut sich gleichsam ein
tiefes Loch auf, das von manchen sogar wie eine abgründige Leere
empfunden wird, die oft und nicht zu Unrecht mit dem Worte "Nichtung"
bezeichnet wird. Im übrigen ist das etwas ganz Natürliches und weder
gut noch böse. Diese selbstkritische Frage bezieht sich nicht darauf,
ob man ein gläubiger oder ungläubiger oder ein guter oder schlechter
Christ ist, sondern ob man wirklich ein Christ und überhaupt in der
christlichen Religion verwurzelt ist. M.a.W.: Diese Frage ist keine
moralische, sondern eine existentielle, die sich vom Personsein her
stellt, so daß es auch völlig gleichgültig ist, was jetzt andere Leute
meinen oder wie sie einen bewerten, dem die eigene Religion zum Problem
und diese Leere bewußt wird. Ein solcher Mensch bemerkt, daß er
plötzlich allein dasteht. Übel wird die Sache aber erst dann, wenn er
sie aus dem Bewußtsein zu vertreiben oder einfach zu verdrängen sucht,
was leider häufig der Fall ist.
Kein Mensch ist, auch wenn er aus einer christlichen oder gut
katholischen Familie stammt, sozusagen von Natur aus Christ, sondern
kann es werden, und wenn er es geworden ist, dann kann man nur hoffen,
daß er es auch bleibt. Niemand kann sich dessen sicher sein, solange er
lebt. Denn das Christentum ist eine ganz außergewöhnliche Religion, da
ihr Daseinsgrund nicht im Menschen liegt. "Wer zu stehen glaubt, der
sehe zu, daß er nicht falle!" und in Nihilismus und Gottlosigkeit ende.
Ein sog. 'Traditionschristentum', in dem viele leben, insbesondere die
'Kirchengläubigen', ist eine Ausgeburt und nichts anderes als ein
"religiöser Bastard".
Nicht einmal das Taufsakrament und sein unzerstörbares Siegel ist ein
wirksamer Schutz gegen einen Abfall von der christlichen Religion. Denn
das Christentum ist nicht auf die sieben Sakramente reduzierbar, da
diese 'nur' "Sakramente der Kirche" sind und nur in ihr ihren
eigentlichen Sinn haben. Darum gibt es sie ja auch nicht außerhalb der
Kirche. Außerdem sind Christentum und Kirche nicht identisch, so daß es
wiederum nicht verwunderlich ist, wenn man oft auf organisierte und
aktive 'Kirchenchristen' trifft, die schon lange von der christlichen
Religion abgefallen sind. Und dies bringt dann das ganze Christentum in
aller Öffentlichkeit zwangsläufig in Verruf, da Religion eben keine
Privatangelegenheit ist. Anders ausgedrückt: in der Religion steht
nicht das 'Ich' vor Gott, sondern der Mensch, da sie ein menschliches
Urphänomen ist, das die Existenz eines religions-losen Menschen
ausschließt, auch wenn sich ein Mensch noch so gottlos gebärdet. Alle
Menschen haben nicht nur Religion, sondern notwendig Religion, aber
nicht notwendig eine wahre. Wenn ein Christ von der christlichen
Religion abfällt (apostasiert), dann wird er nicht religionslos,
sondern er verfällt zwangsläufig einer unwahren Religion, die dann
seine personale Existenz bestimmt, gleichgültig, ob er dies nun
wahr-haben will oder nicht. Es ist heutzutage für viele sehr schwierig
geworden, echte Christen von unechten oder Scheinchristen zu
unterscheiden, da sich letztere auch in den 'Kirchen' befinden und dort
ungehindert ihr apostatisches Unwesen treiben können im Namen des
Christentums. Die einfachen Gläubigen sind diesen Leuten hilflos
ausgeliefert. Diese Katholiken sind nicht fähig, das allgemeine
Religionsphänomen zu erfassen und eine konkrete Religions-Situation zu
durchschauen. Sie sind 'unmündige' Christen geblieben.
Es führt zu nichts Gutem, wenn Katholiken, die besonders 'gläubig' zu
sein glauben, offenkundige Fakten ständig leugnen und dadurch nicht
bloß anderen das Leben schwer machen, sondern zudem noch dem Teufel in
die Hände spielen, der aus dem Religionsphänomen gar nicht weggedacht
werden kann. Das Resultat von so etwas ist eine allgemeine Verwirrung
und Verunsicherung der christlichen Religionsgemeinschaft bis hin zu
deren Auflösung. Orthodoxe Katholiken stehen heute inmitten dieses
Prozesses und sind von ihm bedroht. Darum fragen sie ja nach dem Wesen
der Religion im allgemeinen und der christlichen im besonderen, da
ihnen beides zum Problem geworden ist.
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