WAS IST DAS EIGENTLICH: DIE RELIGION?
- Durchblicke zu einer aufbrechenden Frage, der nicht ausgewichen werden sollte -
von
Prof. Dr. Diether Wendland
Inhaltsangabe:
Vorbemerkung zu einer "existentiellen Frage"
1. Der Stachel des Nihilismus
2. Das Erwachen des "religiösen Bewußtseins"
3. Die das "religiöse Bewußtsein" bewegende Frage nach Gott
4. Die Wesens-Wirklichkeit der Religion
5. Die Religion als ein sittliches Macht-Phänomen
Anmerkungen der Redaktion:
Wir leben in einer religiösen Dauerkrise, von der alle ohne Ausnahme
betroffen sind. Durch den allgemeinen Glaubensabfall hat diejenige
Institution, die als von Christus gegründete Kirche das öffentliche
Leben u.a. als Hüterin des Sittengesetzes beieinflußte, weitgehend
aufgehört, als solche im öffentlichen Leben zu existieren. Dadurch
sehen sich nicht nur die Gläubigen, die weiterhin der von Gott
geoffenbarten Wahrheit treu bleiben wollen, verraten und gelegentlich
vor Probleme gestellt, die sie mit dem ihnen in ihrer Jugend und/oder
später vermittelten Glaubens wissen nicht (mehr) lösen können, sondern
es wird auch immer schwieriger, jemandem, der den katholischen Glauben
kennen lernen möchte, ihm diesen zu vermitteln.
Bisher konnte der christliche Offenbarungsglaube bei den Christen als
gegeben vorausgesetzt werden. Ein moderner Katechet sieht sich heute
gezwungen, gegenüber konkurrierenden Ideologien und Religionen den
Beweis der absoluten und alleinigen Geltendheit der christlichen
Religion zu erbringen und zu demonstrieren, d.h. er muß ein
allgemeines, sich bewährendes Fundament des christlichen Glaubens
errichten, auf dem dann die einzelnen Lehraussagen der Kirche aufbauen
können. Dabei gewinnt die Frage, wie man heute zu einer begründeten
Überzeugung gelangen kann, daß sich Gott vor 2000 Jahren in Christus
offenbart hat bzw. daß Christus, der als Mensch unter uns gewohnt hat,
der sich geoffenbart habende Gott ist, eine zentrale Rolle. Denn nur
auf der Basis einer solchen Überzeugung läßt sich ein religiöses Leben
führen, besonders heute, wo es von allen Seiten gefährdet ist.
Die folgenden Überlegungen von Prof. Wendland wollen mithelfen, Probleme dieser Art zunächst zu stellen und auch zu lösen.
Eberhard Heller
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Vorbemerkung zu einer "existentiellen Frage"
Im folgenden soll auf diese Frage, die keine abstrakte, sondern eine
konkrete ist und auch so verstanden wird, etwas näher eingegangen und
ein kleines Erkenntnislicht geworfen werden, da sich besorgte
katholische Christen zu dieser Frage, wie sie schreiben, "ständig
gedrängt fühlen" oder sich "dauernd mit Religion beschäftigen müßten",
nachdem ihnen das 'Religions-Gebilde' der sog. 'kath. Kirche' zu einem
großen "Ärgernis" geworden war - aber nicht deswegen, weil es in ihr so
viele ungläubige, irrgläubige, aber - gläubige und sogar glaubenslose
Leute gäbe, sondern aus ganz anderen Gründen, die sich jedoch allesamt
auf die christliche Religion als Religion bezogen, also nicht auf eine
spezielle Religion neben anderen. M.a.W.: sie fragten und fragen auf
eine konkrete Weise nach dem Wesen der Religion, einschließlich der
eigenen, in der sie leben.
Die Verunsicherung in dieser Sache trat offen zutage, bewegte ihre
Gemüter und machte ihnen das religiöse Leben immer schwerer. Auch der
religiöse Glaube half ihnen hier nicht nur nicht weiter, sondern
vertiefte noch ihre Unsicherheit, so daß sie schließlich sogar an der
christlichen Religion selbst in ihrem Wert zu zweifeln begannen, in die
sie einmal hineingeboren wurden und die sie hernach mehr unbewußt als
bewußt, mehr unfrei als frei ausübten. Für letzteres sorgten schon das
familiäre katholische Milieu und die gesellschaftliche 'kath. Umwelt'.
Mit der Frage nach der Religion aber verknüpft sich dann, wie ebenfalls
bemerkt wurde, das besondere Problem von Religion und Glaube, das sich
in der christlichen Religion noch verschärft und von vielen leider gar
nicht erfaßt wird. Das Bedauerliche daran ist, daß man auch dies nicht
ändern kann. Versuche in dieser Hinsicht stoßen an eine unüberwindbare
Grenze, die in der Individualnatur des Menschen liegt.
Den o.g. Katholiken, denen aufgrund übelster Erfahrungen mit der
'Kirche' das Problem der Religion in ihrer Realität bewußt wurde und
die dann nach ihrem Wesen fragten, ist, was vorher nicht der Fall
gewesen war, die nackte Tatsache evident geworden, daß das Christentum
überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist und sein kann. Zugleich aber
ging ihre Verunsicherung und Besorgnis so weit, daß sie sich in ihrer
christlichen Existenz bzw. in ihrem Dasein als katholischer Christ von
allen Seiten bedroht fühlten. Aber von wem oder was eigentlich? Das war
hier die große Frage. Denn sowohl die 'kath. Kirche' als auch der
'demokratische Rechtsstaat' garantierten doch auch ihnen die berühmte
"Religionsfreiheit". Das war doch nicht immer so.
Welches sind denn die Ursachen für diese um sich greifende
Verunsicherung, Unsicherheit und Beängstigung, wovon nicht wenige
heimgesucht werden? So etwas ist doch kein Zufall und kommt auch nicht
schicksalhaft über den "homo religiosus", etwa durch ein
unpersönliches, schreckliches und blind waltendes Schicksal (fatum
horribile), dem man ausgeliefert sein würde. Selbst das Böse, dem alle
Ungerechtigkeit entspringt und das immer in einer kreatürlichen Person
wurzelt, hat seine erkennbaren Ursachen. Außerdem vermag es sogar zu
faszinieren und so als etwas Werthaftes und gar nicht so Übles zu
erscheinen. Warum erreichen denn im Fernsehen brutalste Kriminal- und
Horrorfilme, einschließlich der widerwärtigen Sexfilme, viel höhere
Einschaltquoten als ein Heimat oder Liebesfilm? Die Faszination des
Bösen hat viele Erscheinungsweisen und kann sich auch in einer Religion
zeigen, die nicht oder nicht mehr wahr ist. Dem gegenüber hat ein
echter Heiliger der Kirche noch niemand fasziniert, auch wenn er noch
so sehr bewundert und als bewundernswert erachtet wurde. - Im übrigen
hätte er jede Bewunderung abgelehnt und sich ihr entzogen. (Nb.: auch
Katholiken sollten es wissen, daß jeder Heiligen-Kult ambivalent und
nie eindeutig ist, da er sich auf einen Menschen bezieht, Menschenwerk
ist und zu einem religionswidrigen Personenkult entarten kann.
Beispiele dafür gibt es genug.)
Jesus Christus, der göttliche Menschensohn, war weder ein Heiliger noch
ein außergewöhnlich heiliger Mann, den das Volk heiß verehrte und innig
liebte (davon steht nichts in der Hl. Schrift), sondern der Heilige
Gottes, dem nichts vergleichbar war (und ist). Darum heißt es so
erstaunlich nüchtern, unzweideutig und erkenntnisklar: "Wir haben seine
Herrlichkeit geschaut (d.h. ganz konkret erfassen und wahrnehmen oder
sehen können), eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voll
Gnade und Wahrheit (= von einzigartiger und unvergleichbarer Heiligkeit
und Macht)" Joh 1,14. Deshalb ist es auch gar nicht verwunderlich, daß
die Dämonen beim Erfassen der Seinsgestalt Christi voller Wut
aufschrien und sich so viel Haß auf den "Nazarener" konzentrierte. Aus
alledem aber kann man erkennen, wie dumm und lächerlich zugleich es
ist, Christus für einen 'Religionsstifter' zu halten. Dieser
verheerende Irrglaube ist sogar unter 'Christen' verbreitet, nachdem
man sie mit Erfolg 'aufgeklärt' hat. Im übrigen ist Heiligkeit nicht
bloß ein religiös-moralischer Begriff, sondern ein metaphysischer von
ontologischer Geltung, andernfalls sie mißverstanden wird. Sie ist
bezüglich des Menschen eine erwerbbare Qualität, die dem Personsein
inhäriert, aber nie ohne eine göttliche Gnade erworben werden kann. Es
hat noch nie ein echter Heiliger den Eindruck zu erwecken gesucht oder
gar von sich gesagt, er sei einer. Dies blieb den Scheinheiligen
vorbehalten.
Wenn heutzutage besonders fromme Leute, die sich für Christen halten
und die man insbesondere unter den 'Visionärinnen' findet, andern
erzählen, sie wären "Jesus begegnet" oder es sei ihnen "Jesus
erschienen", mit dem sie seither "innigen Umgang pflegen" (ja sogar
dialogisierend) etc., dann müßten sie IHN doch zumindest so 'geschaut'
haben und 'schauen' wie der hl. Johannes und andere Apostel... In
Wahrheit jedoch sehen sie nur ein Phantom, das entweder ihrer eigenen
'religiösen Phantasie' entspringt (ähnlich einer Halluzination im
Delirium) oder durch einen bösen Geist verursacht wird, der ihnen kraft
und vermittels einer objektiven Materialisation einer Scheingestalt
'Jesu' etwas vorgaukelt. Solche Menschen sind nie eines Besseren
belehrbar, da sie zu einer rationalen Selbstkritik und Einsicht unfähig
geworden sind. Alle Religionen kennen derartige Phänomene, die aber
keineswegs übernatürlich sind, sondern nur außer-natürlich, sofern sie
ein objektives Fundament haben. Es ist nicht bloß traurig, wenn auch
Katholiken diese beiden Seinsbereiche nicht mehr unterscheiden können.
Es ist beileibe kein schlechtes Zeichen, sondern durchaus ein
Hoffnungebendes, wenn katholische Christen, denen die ganze 'kirchliche
Situation' unheimlich geworden ist, sich heute zu der Grundfrage
gedrängt fühlen: "Was ist das eigentlich: die Religion?", und so
zielgerichtet nach ihrem Wesen fragen, zumal das Christentum doch auch
eine Religion ist. Außerdem haben diese Katholiken durch leidvolle
Erfahrung erkennen müssen, daß christliche Religion und Kirche nicht
identisch sind, was ihnen früher gar nicht klar war, und daß sie mit
der allgemeinen Meinung, Religion sei "nichts anderes als
Gottesverehrung", überhaupt nichts mehr anfangen konnten -
verständlicherweise, da man sich unter 'Gott' auch das Unsinnigste
denken kann. Viele verehren 'Gott' - das meinen sie nicht nur, sondern
sind davon auch überzeugt -, obwohl das, was sie verehren, nachweislich
nicht Gott ist und auch nicht sein kann. Daraus folgt aber nicht, daß
sie nichts verehren, sondern daß sie in ihrer Religion etwas anderes
verehren, dem sie dennoch 'göttliche' Ehre erweisen. Der tiefere Grund
hierfür liegt darin, daß es keinen religionslosen Menschen gibt. Damit
wiederum stellt sich das Problem einer wahren Religion im Unterschied
und Gegensatz zu einer unwahren. Eine halbe, viertel oder achtel
Wahrheit indes gibt es nicht; denn die Wahrheit ist unteilbar. Es blieb
dem 'Konzil', das sich das "Zweite Vatikanum" nannte, vorbehalten, die
in Sachen "Religion der Menschen" sich notwendig stellende
Wahrheitsfrage auf eine raffinierte Weise zu leugnen bzw. für
bedeutungslos zu erklären. Darum wurde den "Glaubenden und
Nichtglaubenden" 'urbi et orbi' verkündet, der Hl. Geist (genauer: ein
heiliger Geist) wehe in allen großen Religionen der Menschheit,
insbesondere freilich im Christentum.
Von dieser 'neuen Erkenntnis', in der sich eine in vielen Farben
schillernde Häresie zeigte, waren alle Bischöfe und die meisten
Priester und Ordensleute geradezu fasziniert (!). Jetzt, so glaubten
sie, breche nun endlich das große Zeitalter (Äon) des Hl. Geistes an,
von dem man immer schon 'dunkel gewußt' hätte. Zugleich aber verschwand
mehr und mehr die Wesens-Wirklichkeit der christlichen Religion aus dem
religiösen Bewußtsein vieler und machte einer Leere Platz, die bei
manchen sogar den Charakter einer Bedrohung annahm. Doch sie fragten
sich nicht, woher das denn komme. Nur diejenigen, die sich mit den
häretischen Lehren dieses sog. 'Konzils' befaßten, erkannten die
Ursachen. Es gab sogar nicht wenige Katholiken, allerdings mehr
Kleriker als Laien, die der festen Überzeugung waren, der Hl. Geist
beginne jetzt, alle 'Heiligen' aus allen Religionen 'zu sammeln'. Diese
'Christen' erkannten nicht, daß der Antichrist seine Schatten
vorauswarf.
Wenn sich katholische Christen in der heutigen Lebenssituation die
Frage nach dem Wesen der Religion stellt, dann sollten sie sich dessen
bewußt werden, daß sie vor einem echten und schwerwiegenden Problem
stehen und daß es sich dabei um eine "existentielle Frage" handelt, die
nicht zuletzt auch das Heil oder Unheil einer menschlichen Person
einschließt. Außerdem ist der Weg bezüglich der geistigen Erfassung der
Religion als solcher bis hin zur christlichen ein sehr langer und oft
auch ein recht mühsamer. Denn das Christentum ist nun einmal die am
wenigsten selbstverständliche Religion. Darum war und ist immer sogar
ein Massenabfall, d.h. ein Abfall unzählbar vieler von der christlichen
Religion möglich. Ein solcher aber geschieht nicht plötzlich, sondern
allmählich und von vielen unbemerkt. Auch das haben die o.g. Katholiken
bei ihrer Frage nach dem Wesen der Religion erkannt. Wer jedoch ein
Übel, das ihn bedrängt, wirklich erkennt und in seinen Ursachen erfaßt,
der kann es auch überwinden.
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