MIT DER PISTOLE ZUR SCHULE
(aus: PRIVATDEPESCHE vom 23.3.1994)
Die Schulämter mehrerer Großstädte sowie einige Kulturministerien
legten "Gewaltstudien" vor, die feststellten, daß mittlerweile jeder
fünfte Schüler eine Waffe bei sich trägt. Ziemlich einmütig kamen sie
zu dem Resultat, daß Gewalt zunimmmt und immer jüngere Altersstufen
erreicht - bis in den Kin-dergarten - und daß die Qualität der Gewalt
wächst. Während sich die Täter damit begnügten, daß die Opfer am Boden
lagen, treten sie ihnen dort heute mit den Springerstiefel ins Gesicht.
In diesem Jahr nähert sich unsere Gesellschaft der Rekordmarke von
sieben Millionen Straftaten; in Brandenburg etwa ist dabei die Hälfte
aller Gewalttäter jünger als 17 Jahre. Je nach ihrem ideologischen
Standpunkt haben Gewaltforscher ein ganzes Bündel möglicher Motive
ausgemacht:
- Familienzerfall
- Abnahme religiöser Bindungen, Werteverlust
- unzulängliche Wohn-, Nachbarschafts- und Spielbedingungen
- Arbeitslosigkeit, Langeweile
- "neue Armut" und eine veränderte, oft einsame Kindheit.
Wir rücken in Richtung US-Verhältnisse vor, wo sich Väter im Schnitt
nur 37 Sekunden täglich mit ihren Kindern beschäftigen. Sicher
scheint: Höhere Bildung führt nicht zur Abnahme jugendlicher Gewalt.
Autoagressives Verhalten nimmt zu
Viele Kinder und Jugendliche halten sich an das Gewalttabu gegenüber
Menschen und Sachen. Sie schlagen niemand, sie schreien keinen an, sie
zerstören oder beschmieren nichts. Sie sind aber oft genauso frustriert
wie aggressive Gewalttäter. Auch sie fühlen sich ungeliebt, störend
oder als Versager. Sie richten jedoch ihre Aggressionen gegen sich
selbst.
Autoaggressive Menschen sind mit ihren Hemmungen und ihrer Unfähigkeit,
Aggressionen sinnvoll zu kanalisieren (durch Bewegung, Sport, Spiel,
Kampfsport, Diskussion, Disput, konfliktbewältigendes Handeln) häufig
schwerer verhaltensgestört als um sich schlagende.
Alamierende Zahlen:
Jedes dritte Kind leidet mittlerweile unter Allergie, die nicht nur
umweltbedingt, vor allem psychogen sind; im Vorschulalter sind etwa 20
% betroffen, bei Achtjährigen sind es bereits 40 %.
Jedes fünfte Kind hat Neurodermitis oder Ekzeme, jedes zwanzigste
kanalisiert seine Enge- gefühle mit Asthmaanfällen, sieben Prozent
erkranken an Pseudokrupp.
Jeder dritte Schüler nimmt regelmäßig Medikamente (Schlaf-, Anregungs-
oder Beruhigungsmittel), um Probleme in der Schule, in der Familie oder
im Freundeskreis zu bewältigen. Ärzte verordnen pro Jahr etwa 500000
Psychopillen an Jungen und Mädchen. Viele Kinder beginnen schon mit
neun Jahren mit dem Rauchen. Beim Tabletten- und Nikotinkonsum liegen
die Mäd-chen zur Zeit vorn.
Von der 17 Millionen deutschen Kindern und Jugendlichen leiden drei
Millionen unter dem Alkoholismus ihrer Eltern. 500 00 konsomieren
selbst regelmäßig Alkohol; 20 000 davon sind alkoholkrank. 2 500 Kinder
werden jährlich in Deutschland schwer geschädigt geboren, weil ihre
Mütter während der Schwangerschaft zu viel Alkohol getrunken haben.
Von den 15-jährigen trinken 66 % Alkohol, 50 % rauchen, 15 % haschen
und 2 Prozent nehmen Kokain und Heroin; jeder zwanzigste der 10- bis
13jährigen schnüffelt, bei Gymnasiasten steigt der Haschisch-Konsum
rapide.
Die Zahl der bewußt vorgenommenen Selbstverletzungen mit Messern oder
Rasierklingen, die symbolisieren, daß man sich selbst ablehnt, weil man
auch von den anderen abgelehnt wird, hat sich in den letzten 5
Jahren vervierfacht. 1992 gab es etwa in Deutshland etwa 13 500
Suizidversuche von Schülern. Das sind im Schnitt 37 am Tag, vier davon
sind "erfolgreich". Nach Aussage des Deutschen Kinderschutzbundes ist
jeder vierte junge Mensch psychisch bzw. psychosomatisch gestört.
Durch Verlierer- und Verachtungsgefühle gestört sind
- fast zwei Millionen deutschen "Scheidungskindern",
- ca. eine Millionen schwer mißhandelter Jungen und Mädchen pro Jahr,
- fast 80 000 sexuell in Familien mißbrauchte junge Menschen,
- etwa 34 000 minderjährige, von zu Hause weglaufene Kinder,
- ungefähr 70 000 Schulversagern und
- 750 000 Kinder, die in der "neuen Armut" von der Sozialhilfe leben.
Bei kleinen Kindern, die unerwünscht geboren wurden oder deren Eltern
sich nach der Geburt von ihnen oft gestört und gestreßt fühlen, kann
man immer wieder die tragische Entwicklung beobach-ten, daß sie
zunächst viel und laut schreien. Später versuchen sie, besonders
schnell zu sprechen, um Liebe und Aufmerksamkeit ihrer Eltern zu
gewinnen. Wenn sie irgendwann merken, daß sie damit keinen
ausreichenden Erfolg haben, weichen sie auf deftige Floskeln aus, reich
an Ausdrücken der Fäkaliensprache. Oder sie sprechen in Einwortsätzen,
unterstützt durch Mimik und Gestik, zu der dann schließlich Boxen,
Schlagen und Treten gehören.
Wenn solche Kinder in den Kindergarten oder in die Vorschule kommen,
treffen sie immer häufiger auf ebensolche Mitschüler, so daß sie sich
schon früh an sprachliche Verrohung und an ein gewaltreiches
Miteinander gewöhnen. Nur mit Gewalt setzen sie sich durch und
erreichen ihre Ziele. Wer nicht tüchtig und beliebt sein kann, will
wenigstens stark sein. Viele Jugendliche, die eigentlich Gewalt
ablehnen, setzen sie dennoch ein, weil ihnen Einbindung, Anerkennung,
Geborgenheit und Solidarität in ihrer jugendkulturellen Nische
wichtiger sind als die Verachtung von Gewalt in ihrer eigenen
Werteskala. Das gilt vor allem auch für Mitläufer in
rechts-extremistischen Gruppierungen, für Hooligans und Straßenbanden.
Gewaltverherrlichung durch Medien
Kinder, die sinnesgeschwächt und mit einem Mangel an Bewegungs-,
Koordinations- und Umwelterfahrungen aufwachsen, weil sie überwiegend
vor dem Bildschirm sitzen, gewinnen weniger als andere Distanz zu
gewaltreichen Bildschirmerfahrungen. Sie leben in einer Angst-,
Aggresions-, und Horrorwelt. Sie können die Gewalterlebnisse nicht
verarbeiten und sind deshalb montags nicht mehr unterrichtsfähig
("Montags-Syndrom" der Schule). Sie sind geneigt, das Unverarbeitete
und Ängste aufbauende Material Mitschülern und Lehrern gegenüber
nachzuerleben. Ihre Hemm- oder Reizschwelle zum Einsatz von Gewalt ist
medienbedingt verändert. Zu diesen Menschen gehören auch gewaltreiche
Texte einiger Musikgruppen, vornehmlich aus der Rapper-Szene.
Nach einer Studie der Universität Frankfurt haben Kinder bis zu zwölf
Jahren bereits 14 000 Tötungsdelikte im Fehrnsehen und auf Videofilmen
gesehen. Abstumpfungsprozesse und unstimmige Weltbilder sind die Folge.
Unrealistische und gewaltverniedlichende Szenen begünstigen das
Unver-mögen, sich in das Opfer hineinzufühlen oder ein
Unrechtsbewußtsein zu entwickeln.
In Deutschland gibt es 1,8 Millionen Scheidungskinder; jährlich kommen
400 000 hinzu. Der Verlust an Familien und Perspektiven veranlaßt viele
junge Menschen zur Suche nach familienersetzender Geborgenheit, nach
Wir-Bewußtsein, Sinnerfüllung und Anerkennung oder Zuwendung. Denn
Materialismus und Konsum allein tragen nicht weit und nicht lange. Die
Jugendlichen finden diese Bedürfnisse oft in jugendkulturellen Nischen
(Grafiti-Sprayer, Skins, Straßenbanden, okkultische und Satansgruppen,
Jugendsekten...).
Wer in der Schule gescheitert ist oder nicht den von ihm selbst oder
seinen Eltern gewünschten Abschluß erreicht hat, wer keinen
Arbeitsplatz bekommen hat, wem wie in den trostlosen Plattensiedlungen
und Trabantenstädten der neuen Bundesländer alle Freizeitangebote
geraubt sind, wer sich mit arbeitslosen Vätern und Müttern oder mit
alkoholkranken Eltern eine viel zu kleine Wohnung teilen muß, dem
mangelt es oft an zukunftsträchtigen Perspektiven, Motivation und
Sinnerfüllung. Er / sie wird Opfer seiner / ihrer Langweile und greift
dann eventuell zur nächsten sich bietenden Ersatzlösung, sei es eine
"Schwarze Messe", eine haßerfüllte Nazi-Gruppe oder eine Waffen
verherrlichende Stadtteilbande.
Als man vor 25 Jahren das Autoriäre in der Erziehung abschaffen wollte,
hat man leider auch die Autorität mit über Bord gekippt. Kinder
brauchen Autoritäten, von denen sie zur Entwicklung ihrer Fähikeiten
herausgefordert werden und durch die sie Grenzen für ihr Verhalten
erleben.
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