DER BEVÖLKERUNGSRÜCKGANG
ALS SOZIALE ERRUNGENSCHAFT
von
Univ.Prof. Dr. Robert Hepp
Vorwort der Redaktion
Nachfolgende empirische Analyse von Herrn Prof. Hepp über die
katastrophale demographische Entwicklung in Deutschland, die er u.a.
als Resultat mangelnder Religiosität interpretiert, erschien bereits in
der EINSICHT vom November 1986, 16. Jahrg. Nr. 4, S. 92 ff. Die darin
gegebene Vorausschau auf die nächsten Dekaden unserer Zeitrechnung -
entwickelt durch Projektion der bereits gesichteten und ausgewerteten
Entwicklungslinie, die nur weitergezeichnet wurde - hat schon heute,
d.i. zehn Jahre später, ihre überdeutliche Bestätigung in den
Realitäten unserer Tage gefunden: eine weitgehende Liberalisierung der
Abtreibung, d.h. straffreie Tötung von Menschenleben auf einer
gleichbleibenden Zahl von jährlich ca. 300.000 Kindern (auf der Basis
einer in sich widersprüchlichen Rechtssprechung des höchsten deutschen
Gerichtes, mit der fatalen Konsequenz, daß dadurch der Staat als
Institution der Rechtssicherung und -durchsetzung ad absurdum geführt
wurde), die Aushöhlung des Generationsvertrages (als Folge dieser
'Errungenschaft'), auf dem unser Rentensystem aufgebaut ist - und das
heißt konkret: die materielle Versorgung eines Großteiles unserer
Bevölkerung! -, die zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft, die
dadurch auf Dauer unfähig wird, sich selbst zu erhalten und die
nötigen, versorgungsrelevanten Funktionen auszufüllen.
Angesichts der sich leerenden Rentenkassen - bereits heute fehlen in
ihnen 9 Milliard. D-Mark (DT vom 3.2.96) - hört man zwar gelegentlich
schon auf, diese Entwicklung als "Errungenschaft" zu feiern, doch fehlt
andererseits die Bereitschaft, sich von lieb gewordenen Vorstellungen,
die den eigenen Egoismus stützen, wieder zu trennen, um eine wirkliche
ideologische Entrümpelung vorzunehmen und eine tatsächliche Umkehr zu
vollziehen. (Inzwischen hat Herr Dr. A. Häußler die Vision aufgestellt,
das sich öffnende "demographische Vakuum" könnte "mit den Menschen"
eines expandierenden Islams aufgefüllt werden - DT vom 13.1.96 -. Die
Vorstellung einer schleichenden Islamisierung Europas als Folge eines
sich auflösenden Christentums, scheint in diesem Zusammenhang nicht so
unrealistisch zu sein: in Deutschland leben bereits über 2,7 Millionen
Mohammedaner.)
Verschärfend kam noch die Propaganda für eine multikulturelle,
multireligiöse, d.i. synkrtistische Gesellschaft hinzu, in der
konkurrierende Wert- und Religionssysteme mit ihren jeweiligen
kulturellen Ausprägungen und Entwicklungen zu einer Symbiose
verschmelzen sollten. D.h. konkret: auf den Verzicht des eigenen,
ehemals christlich geprägten Wertehorizont, dem die moderne sog.
Frauenemanzipation fremd war. Und damit selbstverständlich verbunden,
daß der eigene Horizont nichts, während der fremde alles gilt. Und
damit ist eine moralische Kapitulation verbunden, die bei einer
geistigen Sterilität ansetzt und sich in einer biologischen fortsetzt.
Doch diese Lieblingsidee linker, liberaler Intellektueller ist durch
den kaum beendeten Krieg auf dem Balkan inzwischen blutigst Lügen
gestraft worden. Diese Ideologie als gefährliche Illusion entlarvt zu
haben, gehört zu den unbestrittenen Verdiensten von Herrn Prof. Hepp,
wofür er noch vor Jahren in rüdester Form von der linksextremen
Front als Nationalist verschrieen wurde.
All diese Momente, besonders aber die aktuelle soziale Instabilität,
die sich inzwischen überdeutlich abzeichnet, als Folge des immer noch
als Fortschritt gehandelten demographischen Schrumpfungsprozesses hat
uns bewogen, die klarsichtigen Ausführungen Hepps wieder zu
publizieren.
Eberhard Heller
***
Über die demographische Lage der Bundesrepublik braucht man kein Wort
mehr zu verlieren. Selbst unser sonniger Bundeskanzler hat sie - sogar
vor der Frauenvereinigung seiner Partei - wiederholt als "katastrophal"
bezeichnet. Mit einer Geburtenrate, die seit Anfang der siebziger Jahre
auf dem Niveau angelangt ist, das bisher nicht einmal in den
schlimmsten Kriegszeiten erreicht worden ist, und mit 1,3 Geburten pro
Frau (ZGZ) - etwa 2,2 wären zur Erhaltung des erreichten
Bevölkerungsstandes erforderlich - verringert sich die Bevölkerung der
Bundesrepublik derzeit alljährlich um etwa 200.000 Deutsche. Nur durch
die Anwesenheit der Ausländer wird die Tatsache verdeckt, daß wir in
den letzten 15 Jahren um etwa 3 Millionen abgenommen haben. Nach den
Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes werden bei einer
Fortdauer des "generativen Verhaltens", wie es sich seit den siebiziger
Jahren eingespielt hat - und die Prämisse einer konstanten
Fruchtbarkeit ist die einzige "Unbekannte", die in diese Berechnungen
einging! - im Jahre 2020 noch 43 Millionen und im Jahr 2030 ganze 38
Millionen Deutsche übrig sein, von denen am Ende 28% über 65, 35% über
60 und etwa die Hälfte über 50 Jahre alt sein werden. Auf eine Geburt
werden dann drei Beerdigungen entfallen!
Man muß kein Pessimist sein, um sich unter solchen Umständen die
deutsche Zukunft in den schwärzesten Farben vorzustellen. Man braucht
nur den Problemkatalog über die Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs
auf die verschiedenen Bereiche von Staat und Gesellschaft zu studieren,
den die interministerielle "Arbeitsgruppe für Bevölkerungsfragen" dem
Bundestag vorgelegt hat (Bundestagsdrucksache 10-863 vom 5.1.1984), um
die "Umstellungsschwierigkeiten" zu ahnen, die mit dem
Bevölkerungsrückgang langfristig auf uns zukommen würden. Ganz
abgesehen von der direkten Beeinträchtigung der politischen Position
der Bundesrepublik in Europa und in der Welt, wären die Folgen für die
Wirtschaftsentwicklung und den Arbeitsmarkt, für die Alterssicherung
und das Gesundheitswesen, für den Bildungsbereich und andere Zweige der
Daseinsvorsorge, für die gesamte Regional- und Infrastruktur und nicht
zuletzt auch für den Fiskus so verheerend, daß es selbst der um
"Entdramatisierung" bemühten Regierungskommission nicht recht gelingen
wollte, die drohende Gefahr zu bagatellisieren.
In einigen Bereichen sind die Probleme so gravierend, daß sie sogar von
den Parlamentariern gesichtet worden sind, die sonst nicht über den
Tellerand einer Legislaturperiode hinauszuschauen pflegen. So wird
aufgrund des Geburtenrückgangs die Zahl der Wehrdienstfähigen von
366.900 im Jahr 1983 auf 181.200 im Jahr 1997 zurückgehen. Ohne
"Sondermaßnahmen" (Verlängerung des Wehrdienstes, Verringerung der
Ausnahmen von Wehrpflicht, Einsatz von Frauen bei der Bundeswehr,
Erhöhung des Anteils der Längerdienenden usw.) wäre bereits in den
neunziger Jahren der "Friedensumfang" der Bundeswehr von 495.000 und
der "Verteidigungsumfang" von 1.250.000 Soldaten nicht mehr zu halten.
Schon bei einem "Friedensumfang" von 430.000 Mann wäre die Bundeswehr
auf einen Überraschungsfall nicht mehr eingestellt. Bei einer Reduktion
auf 400.000 Soldaten müßte das Heer auf 13 der 38 präsenten Brigaden
verzichten, die Luftwaffe einzelne fliegende Kampfverbände auflösen,
und bei der Marine würden zwischen 30 und 20 der Seekriegsmittel für
die Nordsee und Ostsee entfallen. An eine "Vorneverteidigung"
wäre.nicht mehr zu denken. Die "atomare Schwelle" müßte gesenkt werden.
Da aus den künftigen Jahrgangsstärken auch mit "Sondermaßnahmen" nicht
einmal eine Streitkraft von 300 000 Mann zusammengebracht werden kann,
muß sich die Bundesrepublik nach 1995 auf die anderen Natoverbündeten
oder gar auf ihre "friedenspolitische Glaubwürdigkeit" verlassen, falls
sie das Altersheim Bundesrepublik nicht mit türkischen
Nato-Janitscharen schützen oder auf jede Verteidigung verzichten will.
Angesichts der heftigen Debatten über Notmaßnahmen, mit denen man die
Probleme kurzfristig "in den Griff bekommen" will, fragen sich
hellsichtige Beobachter, warum man denn unbedingt bis 1995 durchhalten
wolle, "wenn das Ende ohnehin feststeht". (Karl Feldmeyer)
Ein anderes Feld, auf dem die politischen Pragmatiker sich selbst und
ihre Klientel mit kurzfristig wirksamen Notlösungen über die
langfristigen Konsequenzen des Geburtenrückgangs hinwegtäuschen, ist
das System der gesetzlichen Altersversicherung, das nicht von ungefähr
ins Zentrum des öffentlichen Interesse gerückt ist. Es verstent sich
von selbst, daß das bisher praktizierte "Umlageverfahren" bei einer
ständig abnehmenden und alternden Bevölkerung nicht mehr funktionieren
kann.
Dieses staatstragende System, das nicht nur den "obersten Wert" der
bundesrepublikanischen Gesellschaft, die "Sicherheit", repräsentiert,
sondern die soziale Grundlage seiner politischen Verfassung bildet, ist
praktisch schon heute ruiniert, da die Mehrheit der Kinderlosen und der
Kinderarmen - paradoxerweise gerade im Vertrauen auf die Sicherheit
dieses Systems - den "Generationsvertrag" gekündigt hat.
Aber das große Debakel steht erst noch bevor. Wenn - was nach den
Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes in etwa 40 Jahren der
Fall sein wird - nicht mehr 38, sondern mehr als 70 Alte über 60 Jahre
auf l00 Personen im erwerbsfähigen Alter kommen, werden sich alle
"bevölkerungsdynamischen Rentenformeln", nach denen sich die
Beitragszahler und die Rentenempfänger zu gleichen Teilen an der
Finanzierung des Defizits beteiligen sollen, als Bluff erweisen.
Niemand kann im Ernst daran glauben, daß eine Belastung der Lohnsumme
allein mit Sozialabgaben von 40%, die vom Wissenschaftlichen Beirat
beim Bundeswirtschaftsminister für das Jahr 2030 aufgrund seiner
Bevölkerungsentwicklung errechnet worden ist, selbst bei günstigster
Entwicklung der Produktivität von einer künftigen Generation getragen
werden kann oder getragen werden wird. Das ist vollkom-men
ausgeschlossen. Hinzu kämen ja noch die Steuern.
Auch mit einer "bevölkerungsdynamischen Rentenformell" wären jedoch die
künftigen Pbleme nur unter der Voraussetzung zu lösen, daß die
"Produktivität" mindestens in demselben Maße steigt wie in den
vergangen Jahrzehnten. Aber gerade der Produktivitätsfortschritt, den
die Anpassungsstrategen in ihren Rentenformeln schlicht als Tatsache
unterstellen, wäre in einer "überalterten Gesellschaft" am wenigsten
gesichert. Produktivität ist nämlich - wie Jean Fourastie,
unbestreitbar die größte Autorität in dieser Sache, immer wieder betont
hat - vor allem eine Frage der "Mentalität". Alle
Beschwichtigungsversuche von Gerontologen und Gerontopsychologen, die
den Prozeß der "Überalterung" mit ihrer "wissenschaftlichen"
Sekundärrationalisierung begleiten, können nichts daran ändern, daß das
hohe Alter auch künftig wenigstens insofern ein "defizitärer Status"
bleiben wird, als die durchschnittliche Innovationskraft und die
Umstellungsbereitschaft in höheren Jahren eben deutlich abnimmt. Und
auf der Entfaltung dieser Fähigkeiten beruht die ganze Hoffnung, die
die Anpassungsstrategen auf die höhere Produktivität einer
"hochmobilen" und "kreativen" Gesellschaft der Zukunft gesetzt haben,
die auf ganzer Linie "Quantität durch Qualität ersetzen" soll.
Französische Bevölkerungswissenschaftler wie Alfred Sauvy, die durch
ihre eigene Geschichte vorgewarnt sind, sehen da klarer. Sauvy hat
nachgewiesen, daß die Phrase von der Kompensation der Quantität durch
Qualität eine jener neomalthusianischen Lebenslügen ist, die sich im
Laufe des französischen Bevölkerungsrückgang vor dem 2. Weltkrieg in
Luft aufgelöst haben. Wenn man mit manchen Nationalökonomen davon
ausgeht, daß der Wohlstand eines Landes mit dem Rückgang seiner
Bevölkerung nur zunehmen kann, weil das Pro-Kopf-Einkommen nach dem
Wachstumsmodell Adam Rieses im selben Maße steigt, wie sich die Zahl
der zu berücksichtigenden Köpfe verringert, müßte der Wohlstand unseres
Landes unter der Voraussetzung konstanter Rahmenbedingungen natürlich
allein in Folge des Bevöikerungsrückgangs ständig wachsen. Nun wäre es
nach den französischen Erfahrungen zwar denkbar, daß im Altersheim
Bundesrepublik künftig die Sparquote, zumal die private, gewaltig
ansteigen würde, aber es wäre selbst dann durchaus nicht sicher, ob
diese Ersparnisse auch in die Produktion investiert würden und dem
nationalen "Kapitalstock" zugute kämen. Eher ist doch zu befürchten,
daß in einer Gesellschaft von Alten der unternehmerische Pioniergeist,
der Wagemut und der Glaube an die Zukunft schwindet, und daß die
Ersparnisse in junge Länder abfließen, also dazu benützt werden, "die
Kinder anderer Leute großzuziehen", während das eigene Land in moroser
Lethargie versinkt.
Wenn man vom erträumten Produktivitätsschritt abstrahiert, ist von
einem Bevölkerungsrückgang nicht nur keine "höhere Lebensqualität",
sondern eher das Gegenteil zu erwarten. Zwar würden die aktuellen
ökologischen Probleme der Bevölkerungsdichte verschwinden und das
Gedränge am Skilift im Schwarzwald dürfte sich auflösen, aber dafür
müßten auf der anderen Seite Verkehrsverbindungen, Krankenhäuser,
Universitäten, Bibliotheken usw. wegen ungenügender Nachfrage eingehen
oder - falls sie als unverzichtbar gelten - mit steigenden Kosten
"vorgehalten" und also teurer werden. Es gibt sogar Nationalökonomen,
die mit guten Gründen bestreiten, daß die Arbeitslosigkeit mit dem
Bevölkerungsrückgang abnehmen würde. Nicht nur die
"Stagnationstheoretiker" rechnen eher damit, daß die "sozialen" und
"wirtschaftlichen" Probleme der Gegenwart in 2ukunft eher eskalieren
und einen Prozeß in Gang setzen werden, den man nur mit dem Kürzel
"Dekadenz" adäquat bezeichnen kann.
Wie die Folgen des Geburtenrückgangs, so sind auch seine Ursachen
bekannt. Es ist nicht wahr, daß nicht einmal die
Bevölkerungswissenschaftler angeben könnten, worauf der "demographische
Zusammenbruch" zurückzuführen sei. Die Spezialisten sind sich darin
einig, daß der Geburtenrückgang primär durch einen "Wandel des
generativen Verhaltens" verursacht ist. Und auch über die Faktoren, die
diesen Wandel herbeigeführt haben, gibt es einen breiten Konsens. Bei
den fachinternen Kontroversen geht es im Grunde nur um die Priorität
von Erklärungsmodellen und um die Frage, welches Gewicht bestimmten
"Faktoren" in den verschiedenen Modellen zukommt. Aber die
"Ursachenkonstellation" als solche ist sicherlich besser erforscht als
im Fall des "Waldsterbens". An welchem Ende man das Gewebe auch
aufzudröseln beginnt - ob psychologische, soziologische, ökonomische
Analysen auf der "Mikro-" oder "Makroebene" ansetzen, ob sie
Veränderungen des "Überbaues" in den Vordergrund rücken - immer stößt
man auf ein komplexes Syndrom von "Ursachen", deren jede für sich
allein zwar den erschreckenden Rückgang der Fruchtbarkeit nicht zu
erklären vermag, die aber insgesamt den Eindruck machen, als handle es
sich dabei um so etwas wie eine gesetzliche Notwendigkeit.
Die Perfektionierung der Empfängnisverhütung, die Legalisierung der
Abtreibung und die neomalthusianische Propaganda, die
"Frauenemanzipation" und die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen,
die Bildungsexpansion, die "Verstädterung" und der Wandel der
Erwerbsstruktur, die mit zunehmendem Wohlstand eskalierenden
Bedürfnisse und sozialen Ambitionen, der abnehmende ökonomische Nutzen
von Kindern und die steigenden Kinderlasten, die Sozialisierung der
Altersversorgung, der Funktionsverlust und die Desinstitutionalisierung
der Ehe und Familie, der hemmungslose "Sexismus", der hysterische
Sicherheitswahn und die Risikoscheu, der Kleinkapitalismus der Massen
und ihr Hang zur Lustgewinnmaximierung, der Schwund überindividueller
Verpflichtungen und die "Säkularisierung" der Religionen, all diese und
andere "Einzelfaktoren", die für den Geburtenrückgang "verantwortlich"
gemacht worden sind, hängen auf eine vertrackte Art miteinander
zusammen und bilden insgesamt ein Syndrom, das sich weitgehend mit
jenen Verhältnissen und Vorstellungen deckt, die in den sogenannten
Modernisierungstheorien als "modern" gelten und die unsere
Sozialpolitiker ziemlich einhellig für "soziale Errungenschaften"
halten.
Der Zusammenhang ist derart, daß man oft nicht weiß, was "Ursache" und
was "Wirkung" ist. Die niedrige Fruchtbarkeit ist oft ihrerseits eine
Bedingung der "sozialen Errungenschaften", aus denen man sie herleitet.
Daher ist zum Beispiel im Einzelfall nicht immer klar auszumachen, ob
eine Frau erwerbstätig ist, weil sie keine Kinder will, oder ob sie
keine Kinder will, weil sie erwerbstätig sein möchte, ob die
Kleinhaltung der Familie die Scheidung erleichtert oder ob die bei
Eheschluß bereits antizipierte Scheidung der Grund für die Kinderarmut
ist. Eine niedrige Geburtenrate kann - wie der Leiter der deutschen
Delegation bei der letzten Weltbevölkerungskonferenz ganz zu Recht
betont hat - sowohl Voraussetzung als auch Folge des "sozialen
Fortschritts" sein.
Der "Bericht der Bundesregierung über die Bevölkerungsentwicklung in
der Bundesrepublik Deutschland" faßt die communis opinio doctorum (=
gemeinsame Auffassung der Gelehrten) zusammen, wenn er feststellt, daß
"zahlreiche gesellschaftliche Veränderungen, die als Voraussetzung,
Folge und Begleiterscheinung, zum Teil auch als Errungenschaften einer
modernen Gesellschaft gelten können", die "Bedingungskonstellation"
geschaffen hätten, "denen eine kleine Familie ent-spricht". Er hat nur
vergessen hinzuzufügen, daß die "Kleinhaltung der Familie" auch eine
Voraus-setzung der gesellschaftlichen "Errungenschaften" einer
"modernen Gesellschaft" ist. Die "Norm einer niedrigen Fruchtbarkeit"
ist in der Tat optimal auf die "Lebensbedingungen" der "modernen
Gesellschaft" abgestimmt. (K.M. Bolte) Sie ist sozusagen der
konzentrierte "biologische" Ausdruck dieser "modernen Welt", die
niemand besser charakterisiert hat, als der kompromißlose Analytiker
der Moderne, Charles Peguy. Lange bevor sein Landsmann, der große
Demograph Alfred Sauvy, die Entdeckung machte, daß die malthusianische
"Familienplanung" mit einer generellen malthusianischen Mentalität
einhergeht, die in jeder Beziehung zur "Kleinhaltung", zur
Risikovermeidung, zur Sparsamkeit und zum "Gesundschrumpfen" neigt, hat
Peguy in seiner großartigen Einseitigkeit auf diesen Zusammenhang
aufmerksam gemacht. Die "Moderne" mit ihrer Sparkassentheorie des
"Fortschritts" war für ihn eine Welt, "die nur an ihre alten Tage
denkt". Das ganze Leben des "modernen Menschen" sei bloß eine
Vorbereitung des Ruhestandes. Wie sich der Christ auf den Tod
vorbereite, so bereite sich jener auf den Ruhestand vor. Sein Ideal sei
ein immenses Altersheim und Sterbehaus. Um in Zukunft seinen "Frieden"
und seine "Ruhe" zu haben, mache er aus der Gegenwart eine Zeit der
Bedächtigkeit und der Vorsicht, eine tote Zeit, eine Vergangenheit. "Um
morgen den Frieden zu haben, hat man heute keine Kinder... Daher diese
universelle Unfruchtbarkeit... dieses monströse Bedürfnis nach Ruhe,
das in der Unfruchtbarkeit eines ganzen Volkes, in der Vernichtung
einer gan-zen Rasse zum Vorschein kommt." Vom Standpunkt der
Wissenschaft ist das sicherlich eine maß-lose Übertreibung. Aber im
Unterschied zu manchem zeitgenössischen Wissenschaftler hat der
fran-zösische Dichter wenigstens erkannt, daß die "sozialen
Errungenschaften", die mit dem Geburten-rückgang zusammenhängen, recht
dubioser Natur sind.
Neben dem Sicherheitswahn, der seinen institutionellen Ausdruck im
hypertrophen "System der sozialen Sicherheit" gefunden hat, wäre als
weiterer Hauptbestandteil der "modernen Welt" noch der "Liberalismus"
zu nennen. Es ist gewiß kein Zufall, daß der Beginn des demographischen
Zusammenbruchs der Bundesrepublik in die "Ära der liberalen Reformen"
fiel. Zu Beginn der siebziger Jahre breitete sich eine allgemeine
Anomie auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. Die liberale "Gesinnung
der Gesinnungslosigkeit", die auf "Diskreminierung" verzichtet, weil
sie nichts mehr unterscheiden kann, und die alles "toleriert", weil ihr
alles gleichgültig ist, prägte nicht nur den neuen "permissiven"
Erziehungsstil. Sie drang auch in die Gesetzgebung ein. Die
sozial-liberalen Reformer machten sich daran, mit allen "Vorurteilen"
aufzuräumen, die der "freien Entfaltung der Persönlichkeit" noch im Weg
waren. Die Zwanglosigkeit begann verbindlich zu werden.
Von den Reformen, die die Bevölkerungsentwicklung beeinflußt haben,-
können hier nur die wichtigsten erwähnt werden. Die "Neufassung" der
Familien- und Sexualdelikte (Freigabe des Ehebruchs, der
Homosexualität, der Kuppelei und pornographischer Schriften), die
"Anpassung" des nichtehelichen- sowie des Ehe- und Familienrechts
(Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht, Gleichberechtigungsgrundsatz im
Eherecht, elterliches Sorgerecht) und natürlich besonders die
großzügige Legalisierung der Abtreibung. All diese "Liberalisierungen"
wurden von den Politikern in einer Art religiöser Begeisterung als
"Errungenschaften des Fortschritts" gefeiert. Als sich - zuerst in der
Statistik der Eheschließungen, der Ehescheidungen und der Abtreibungen
- ihre fatalen Konsequenzen offenbarten, wagte daher niemand mehr, sie
ernstlich in Frage zu stellen. Selbst christ-demokratische
Frauenvereinigungen warnten davor, am wohlerworbenen "Recht" auf
Abtreibung zu rütteln. Eine "pronatalistische" Bevölkerungspolitik kam
unter diesen Umständen ohnhin nicht mehr in Betracht. Sie wurde
allgemein mit der Begründung abgelehnt, der Staat sei nicht berechtigt,
"in die Schlafzimmer seiner Bürger hineinzuregieren".
Im Zielkonflikt zwischen dem "generativen Gemeinwohl" und der
"individuellen Selbstverwirklichung" konnte sich der liberale Staat nur
für den Vorrang der "persönlichen Freiheit" entscheiden. Im Unterschied
zu den "sozialistischen Staaten", die - wie etwa das Beispiel Rumänien
zeigt - zu rigorosen Eingriffen in die "Privatsphäre" ihrer
Bürger bereit und fähig sind, wenn es das "generative Gemeinwohl"
erfordert, fehlt liberalen Demokratien vom Typ der Bundesrepublik
offenbar die Legitimation, das Gesamtinteresse gegen konkurrierende
Einzelinteressen ihrer Bürger durchzusetzen.
Natürlich sind die Politiker nicht für jede "soziale Errungenschaft"
verantwortlich zu machen, die zu der "Bedingungskonstellation" des
Geburtenrückgangs gehört. Die "Modernisierung" hat offenbar ihre
Eigendynamik: Die "Säkularisierung" der Religionen, die "Verstädterung"
und auch der wirtschaftliche Strukturwandel vollziehen sich nach
Gesetzen, die kein Parlament beschlossen hat. Die Politiker sind gewiß
nicht direkt daran schuld, daß der Anteil der regelmäßigen
Kirchenbesucher bei den jungen Leuten unter 30 Jahren innerhalb einer
Generation um 85% (Protestanten) bzw. 76% (Katholiken) abgenommen hat.
Trotz der "Gemeindereform" sind sie auch nicht allein dafür
verantwortlich zu machen, daß der Anteil der mehr oder weniger
verstädterten Bevölkerung (gemessen an der Einwohnerschaft von
Gemeinden über 5000 Einwohner) seit Gründung der Bundesrepublik um 28%
zugenommen hat. Und trotz aller "Arbeitsmarkt- und
Beschäftigungspolitik" ist es sicherlich nicht ihr Werk, wenn sich der
Anteil der Beamten und Angestellten an den Erwerbstätigen in diesem
Zeitraum mehr als verdoppelt hat. Aber die Regierungen der
Bundesrepublik haben die "Modernisierung" mit ihrer
"Gesellschaftspolitik" doch direkt und indirekt unterstützt. Aus primär
ideologischen Motiven haben sie jene "Liberalisierung" vorangetrieben,
von der die Rede war. Sie haben damit zweifellos einen "Prozeß", der
ohnehin "im Gang war", noch beschleunigt und verschärft, statt ihn zu
bremsen oder gar rückgängig zu machen. Wenn heute in der Bundesrepublik
ein Viertel der Ungeborenen auf Krankenschein abgetrieben werden kann,
wenn in deutschen Großstädten auf zwei Eheschließungen eine Scheidung
kommt, wenn die Heiratsziffern der Twens seit 1972 um die Hälfte
gesunken sind, während sich die Zahl der unverheirat zusammenlebenden
jungen Paare seither versechsfacht hat, wenn der Anteil der
Schülerinnen an der weiblichen Bevölkerung von 15 bis 23 Jahren
l980 dreimal und die Zahl der Studentinnen viermal größer war als 20
Jahre zuvor, wenn die Erwerbstätigen in der Landwirtschaft in den
letzten 20 Jahren um 70% und die landwirtschaftlichen Betriebe um 50%
abgenommen haben, wenn es nach den geltenden Regelungen der
Altersversorgung 51% der künftigen Versorgungsberechtigten den übrigen
49% überlassen können, ihre Renten zu sichern, dann ist das zweifellos
auch ein Verdienst der bundesrepublikanischen "Gesellschaftspolitik".
Der Einfluß all dieser Maßnahmen auf das "generative Verhalten" - so
schwer er auch im Einzelfall nachzuweisen sein mag - liegt auf der
Hand. Die Bedeutung der Landwirtschaft als Bevölkerungsreservoir läßt
sich ebensowenig leugnen wie etwa der kontrazeptive Effekt der
Verstädterung, des "Ausstiegs" zum Angestellten, der Bildungsexpansion
oder eines familienunabhängigen Systems der Altersvorsorge, das die
kinderlosen Doppelverdiener privilegiert.
Inzwischen haben sich die "Errungenschaften des sozialen Fortschritts"
in der Sozialstruktur niedergeschlagen und sind zu "unverzichtbaren
Besitzständen" geronnen. Da die Mehrheit der Wähler davon profitiert,
wagt es kein Politiker, sie in Frage zu stellen. Angesichts der
komplexen "Bedingungskonstellation" des Geburtenrückgangs wäre es auch
eine Illusion zu glauben, man könnte schon mit wenigen gut gemeinten
Einzelmaßnahmen viel erreichen. Rein theoretisch könnte man mit einem
Federstrich die Fruchtharkeit in der BRD auf das
"Selbsterhaltungsniveau" anheben, indem man den Vertrieb von
Kontrazeptiva und die Abtreibung verbietet.
Nach einer Untersuchung, die Jean Bourgeois-Pichat bekanntgemacht hat,
waren in Frankreich bei einer Geburtenrate von 18%o, 50% der Geburten
keine Wunschkinder; bei einer perfekten Geburtenkontrolle hätten die
Franzosen also schon damals eine ebenso niedrige Geburtenrate gehabt
wie die Deutschen in den siebziger Jahren. Ein ähnliches Resultat ergab
eine Befragung aus dem Jahre 1974. Und was die Abtreibung berifft, so
hätten wir uns etwa im Jahr 1981 über den Fortbestand des deutschen
Volkes keine Gedanken zu machen brauchen, wenn die 212 000 Ungeborenen
ausgetragen worden wären, die nach den Ermittlungen des
Parlamentarischen Staatssekretärs im Justizministerium, Benno Erhardt,
in diesem Jahr der legalen Abtreibung zum Opfer gefallen sind. Bei 837
000, statt 625 000 Geburten und 722 000 Sterbefällen hätten wir statt
eines Geburtendefizitis einen hübschen Überschuß erzielt. Angesichts
solcher Bilanzen müßte eigentlich jedem Einsichtigen klarzumachen sein,
daß erst die "Pille" und die Liberalisierung des § 218 StGB den
diversen Motiven zur Kleinhaltung der Familie zu jenem durchschlagenden
Erfolg verholfen haben, den man an der deutschen Geburtenstatistik seit
l970 ablesen kann. Es ist eine bodenlose Bagatellisierung, wenn
Bevölkerungswissenschaftler behaupten, die "Pille" und die "Abtreibung"
seien "neutrale Mittel" der "Geburtenkontrolle" und kämen daher als
Ursachen des Geburtenrückgangs nicht in Betracht. Diese "Mittel" haben
für die Bevölkerungsentwicklung eine ähnliche Bedeutung wie die
Atomwaffen für den Krieg. Sie sind das einzig wirklich Neue am
"neuesten demographischen Regime". Aber sie sind natürlich nicht
zufällig entdeckt worden, und sie werden auch nicht im luftleeren Raum
vertrieben und angewandt. Bei Lichte betrachtet sind sie lediglich der
konzentrierteste Ausdruck der "modernen Welt". Die Menschheit, so
könnte man Hegel variierend, sagen, bedurfte der Pille und der
automatisierten Abtreibung und alsobald waren sie da. Ihre
"Abschaffung", gesetzt sie wäre "politisch durchzusetzen", könnte daher
nicht per ordine di mufti, sondern nur durch eine "Kulturrevolution"
gelingen, die mit der ganzen "modernen Welt" und ihren "sozialen
Errungenschaften", die sich in der Vevölkerungsentwicklung des
Abendlandes als Schrittmacher der Dekadenz erwiesen haben, aufräumt.
Ohne Rückbesinnung auf die Prinzipien einer Sittenlehre, "die sich auf
das Naturgesetz gründet und von der göttlichen Offenbarung erleuchtet
und bereichert wird" ("Humanae vitae"), wird die demographische Krise
des Abendlandes wohl kaum zu bewältigen sein. Angesichts des "großen
Abfalls" mag der "Abfall der Geburtenrate" als ein harmloses
Epiphänomen erscheinen, aber andererseits gibt es wohl kaum ein Feld,
auf dem die Folgen der "Säkularisierung" deutlicher hervortreten. Noch
l980 ergab eine nüchterne empirische Untersuchung über die "Einstellung
deutscher Ehefrauen zu Familienplanung und Schwangerschaftsabbruch"
(von Katharina Pohl), "daß die Bedeutung der Religion für den
generativen Bereich unverändert eine entscheidende Rolle spielt", wobei
allerdings nicht die formale Konfessionszugehörigkeit, sondern der
"Grad der Religiosität" im Sinn der "Säkularisierungsthese"
ausschlaggebend ist. Eine "Umkehr des Säkularisierungstrends", den die
Autorin allerdings fiir "nicht sehr wahrscheinlich" hält, scheint auch
nach dem Befund der Bevölkerungswissenschaft das einzige Heilmittel
gegen die unheimliche Krankeit zu sein, die an der Lebenskraft des
Abendlandes nagt.
***
Hinweise der Redaktion:
1. Gegen eine entsprechende Spende und (erhöhte!) Versandkosten
kann die Redaktion noch komplette alte Jahrgänge der EINSICHT abgeben.
Ihre Bestellung richten Sie am besten an meine Privatadresse (Heller,
Riedhofweg 4, D - 82554 - Ergertshausen, Tel.: 08171/28816).
2. Kostenlos können die weiter hinten aufgelisteten religiösen Bücher, Kleinschriften und
Zeitschriften von der Redaktion bezogen werden, die wir aus einem Nachlaß erhielten.
3. Herr Jerrentrup hat ein komplettes Autoren- und Titel-Register über
alle Jahrgänge EINSICHT erstellt, welches Sie für eine kostendeckende
Spende von 8,50 DM bei uns anfordern können. |