Philosophie-geschichtliche Einordnung des hl. Thomas von Aquin
Der neu entdeckte Aristoteles
In der ersten HäIfte des 13. Jahrhunderts gab es einen Wendepunkt in
der Geschichte der mittelalterlichen Wissenschaft. Sie erlebte einen
bedeutenden Umbruch. Über den Umweg der arabischen und jüdischen
Philosophie war das Gesamtwerk des Aristoteles zunächst bekannt
geworden, von dem man bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts nur die
logischen Schriften, das "Organon", besessen hatte. Durch den Fall von
Toledo im Jahre 1085, das bis dahin fest in arabischer Hand war, waren
die reichen Schätze arabischer Wissenschaft in christliche Hände
gefallen. Das Interesse an Aristoteles wurde noch zusätzlich dadurch
geweckt, als im Laufe des 13. Jahrhunderts die griechischen Urtexte des
Stagiriten von Konstantinopel her bekannt geworden und ins Lateinische
übersetzt worden waren. Dieses Gesamtwerk des Aristoteles umfaßte neben
der Metaphysik, der (nikomachischen und eudemischen) Ethik, der Politik
und der Poetik auch die Darstellungen der Naturwissenschaften und übte
wegen der Erweiterung des Wissens hinsichtlich seines Inhalts und
Umfangs einen tiefgreifenden Einfluß auf die damalige Zeit aus.
Aristoteles, der über den Umweg über die arabischen und jüdischen
Philosophen - hier seien aufgeführt: Averroes, den man bald schlicht
den "Commentator" nennt, und Maimonides - Eingang in das westliche
Denken gefunden hatte, galt bald nicht mehr als philosophischer Autor
unter anderen, sondern er war schlechthin der Philosoph. In den
Statuten der seit Philipp Augusts Privileg von 1200 mächtig
aufblühenden Pariser Universität von 1215 war zwar vorerst nur das
Studium der aristotelischen Logik erlaubt. Die Einarbeitung dieses
wissenschaftlichen Materials in die christlich-abendländische
Gedankenwelt war trotz vielfältiger Hindernisse und Vorbehalte gegen
bestimmte Werke des Aristoteles (gegen die Naturphilosophie und die
Metaphysik), auch seitens der Kirche, Aufgabe der damaligen Zeit, an
der vor Thomas von Aquin neben seinem späteren Lehrer Albertus
auch Alexander von Hales (+ 1245) maßgeblich beteiligt war, der als
erster Scholastiker die gesamte Philosophie des Aristoteles gekannt und
für die Begründung der Theologie ausgewertet hat. In diesen
Anstrengungen sahen die Scholastiker gleichsam einen geistigen Kreuzzug
gegen die arabische Welt, von der man annahm, sie wolle via Philosophie
noch den Sieg über das Christentum erringen, den sie auf politischem
Gebiet bereits verloren hatte.
Biographische Notizen zum Leben des Thomas von Aquin
Um den spezifischen Beitrag, den Thomas zur Verwirklichung dieses
immensen Vorhabens geleistet hat, zu verstehen, sei ein kurzer
biographischer Exkurs 1) erlaubt, der bald - wie wir sehen werden - mit
seiner Lehrtätigkeit und seinem literarischen Schaffen zusammenfließen
wird und in den zugleich die Entstehungsgeschichte seiner Hauptwerke
mitaufgenommen werden soll.
Auf dem Stammsitz der hochadeligen, lombardischen Familie derer von
Aquino, der Burg Roccasecca in der Nähe von Aquin, gut 100 km südlich
von Rom, wurde Thomas um 1225 (oder 1224) als jüngster Sohn des
Landulph v.A. und seiner Frau Donna Theodora, die eine entfernte
Verwandte von Kaiser Friedrich II. war, geboren. Die Eltern bringen den
fünfjährigen Thomas als sog. "Oblaten" auf den Monte Cassino,
wobei bei den adeligen Eltern der Gedanke mitgespielt haben mag, ihren
Sohn einmal als Abt dieser mächtigen Benediktiner-Abtei und damit als
einen der mächtigsten Kirchenfürsten Italiens zu erleben.
Die geplante geistliche Karriere wird zunächst abgebrochen, als im
Streit zwischen Friedrich II. und dem Papst 1239 kaiserliche Truppen
den Monte Cassino stürmen und fast alle Mönche vertreiben.
Der Abt rät dem Vater, seinen Sohn nach Neapel zum Studieren zu
schicken. So kommt Thomas mit 15 Jahren - nicht als Oblate, sondern als
Laie - nach Neapel, wo er zunächst die "Artes liberales" studiert, die
jeder Student durchlaufen mußte. In Neapel, das auf Betreiben
Friedrichs II. auch offen für nicht-christliche Kulturen und
Philosophien ist und wo an des Kaisers Hof sich die bedeutendsten
Kenner der antiken Philosophie aufhalten, die die arabische
Aristoteles-Rezeption ins Abendland bringen, macht Thomas nun
Bekanntschaft mit den Schriften des Aristoteles, deren Studium im
Kirchenstaat verboten war und die er bei seinem Lehrer, Petrus von
Hiberna, studierte. Bald ist auch Thomas von den Ideen des griechischen
Philosophen so fasziniert, daß er sich zeit seines Lebens mit ihm
beschäftigt. In Neapel lernt Thomas aber auch die Predigerbrüder - nach
ihrem Ordensgründer Dominikaner genannt, wie die Franziskaner ein
Bettelorden - kennen, von denen er sich mächtig angezogen fühlt.
Gegen den Willen seiner Familie tritt er dort im April 1244 in den neu
gegründeten Orden ein, weswegen er im Auftrag seiner Mutter von seinen
Brüdern zunächst entführt und unter Hausarrest gestellt wird. Dieser
Schritt eines Familienmitgliedes, den man schon als Abt des mächtigen
Klosters Monte Cassino gesehen hatte, stellt die Welt, aus der die
Aquinos stammen, radikal in Frage. Hier die feudale Struktur weltlicher
und - mit ihr verbunden - kirchlicher Macht, die ihre Pfründe auch für
caritative Zwecke verwendet, aber auf materielle Abgesichertheit setzt,
dort die Absage an diesen Wohlstand und die Hinwendung zu den
evangelischen Räten, hin zum Ideal der Armut - dem sich nicht nur
einzelne Personen, sondern ganze Communitäten verpflichtet fühlen, um
frei zu sein für Gottes Anruf. Seine Familie sieht aber bald ein, daß
sich Thomas nicht umstimmen läßt. Thomas kann deshalb nach gut einem
Jahr (1245) seine Studien in Paris fortsetzen.
Die dortige Universität ist eine Körperschaft, vergleichbar mit den
handwerkschaftlichen Zünften. Magistri und Studenten bilden eine
wirkliche intellektuelle, internationale Gemeinschaft. 2) Diese
Gemeinschaft stellt ein juristisches Kollektiv dar, bevollmächtigt, im
Namen dieser Gemeinschaft zu spre-chen und zu handeln. Nach Paris, und
das heißt: in das intellektuelle Zentrum der damaligen Zeit, waren
schon vor Thomas die Predigerbrüder zum Studieren von ihrem Orden
entsandt worden. Dort lernt er wahrscheinlich schon Albertus (den
Großen) kennen, der im Ordenshaus lehrt. Albert sah seine Aufgabe
darin, das griechische Denken den Lateinern zu erschließen. In der Zeit
von 1240 bis 1248 hatte er fünf Kommentare zu den Werken des
Aristoteles geschrieben, die großes Aufsehen erregten, zumal dessen
Schriften weitgehend noch verboten waren. Sicher ist, daß Thomas 1248
mit ihm nach Köln geht, wo Albertus das deutsche Generalstudium der
Dominikaner aufbauen soll. Bei ihm studiert Thomas mit äußerster
Konzentration bis 1252 den gesamten Aristoteles. Zwischen Schüler und
Lehrer herrscht zeitlebens ein herzliches Einvernehmen. Albert, bald
auf die überragende Begabung seines Schülers aufmerksam geworden, macht
Thomas schon in Köln zu seinem Assistenten, zum "Baccalaureus". Als
solcher hatte er u.a. die Aufgabe, die "Sentenzen" des Petrus
Lombardus, des ehemaligen Bischofs von Paris, zu kommentieren.
Auf Alberts Anraten und durch die Protektion des Kardinals Hugo a S.
Caro geht er zurück nach Paris. Dort beginnt er in gespannter
Atmosphäre seine Lehrtätigkeit. Auf Drängen Papst Alexanders IV. kann
seine Ernennung zum Magister 1256 durchgesetzt werden. Doch aufgrund
interner Streitigkeiten wird er - zusammen mit Bonaventura - erst im
August des kommenden Jahres in den Kreis der Kollegen aufgenommen. Als
"Magister theologiae" ist er ein Bearbeiter des Wortes Gottes, der
dieser Aufgabe durch Lesen von Texten aus der Hl. Schrift, durch
(öffentliches) Disputieren (von quaestiones, d.i. Fragen) und Predigen
nachkommt. Thomas ist - im eigentlichen Sinne des Wortes - ein
Intellektueller, der einen theologischen Inhalt doziert - ohne auf den
unmittelbaren seelsorglichen Nutzen zu sehen, wie es sonst üblich ist,
und sich dabei absetzt von der Unterrichtsmethode in den Klöstern, wo
geistliche Unterweisungen erteilt werden. Davon ausgehend, daß - wie es
der hl. Anselm von Canterbury schon 100 Jahre vorher gezeigt hatte -
der Glaube vernünftig ist, galt das Bemühen in diesen theologischen
Vorlesungen, den Glaubensinhalt verstandesmäßig auf diskursivem Wege
nachzuzeichnen: "Wenn wir die Probleme des Glaubens nur auf dem Wege
der Autorität lösen, werden wir gewiß die Wahrheit besitzen, aber in
einem leeren Kopf!" 3) Und für Thomas ist das Erarbeiten solch
verstandesgemäßer, begrifflicher Transparenz des Glaubens seine
eigentliche theologische Aufgabe: "Wenn der Mensch einen entschiedenen
Willen zum Glauben besitzt, so liebt er die im Glauben erfaßte
Wahrheit, denkt darüber nach und greift nach allen Gründen, die er dazu
nur auffinden kann." 4) Doch im Gegensatz zu Anselm, der die
Darstellung der Begriffe in sich durch ein absolutes Moment begründet
wissen wollte - bei ihm: das "unum argumentum" -, fehlt Thomas diese
Systematik im rein begrifflichen Bereich.
Das erste große Werk, welches in dieser Zeit entsteht, ist die "Summa
contra gentiles", wobei mit den Heiden (gentiles) durchaus Kollegen und
Kontrahenten aus Paris gemeint sein können. 5) Das Summenverfahren, das
vor Thomas schon von dem englischen Fraziskaner Alexander von Hales (+
in Paris 1245) für seine "Summa universae theologiae" benutzt worden
war, ist die eigentlich schola-stische Methode. Man behandelt eine aus
einem vorgegebenen Text entnommene theologische Frage, die dann nach
beiden Seiten hin diskutiert wird - mit bejahenden und verneinenden
Antworten, zu deren Begründung entweder "auctoritates" (Bibelsprüche
oder Aussprüche der Kirchenlehrer) oder "rationes" (Argumente antiker
oder arabisch-jüdischer Philosophen, besonders aber des "Philosophus"
schlechthin, d.i. des Aristoteles) herangezogen werden, um die
gestellte Frage auf dieser Basis schließlich zu entscheiden (mit und
ohne "distinctiones"). Thomas selbst hat zu diesem Verfahren, dem ein
wirkliches Deduzieren der Prinzipien fehlt, einmal festgestellt, daß
diese Art der Wahrheitssuche einem Gerichtsverfahren vergleichbar sei,
in dem man alle Gründe der Gegner anhört, bevor man urteilt. 6)
Nachdem Thomas noch seinen Nachfolger an der Universität zu Paris
promoviert hat, geht er 1259 nach Italien zurück. Sein Orden wollte den
jungen Startheologen wiederhaben. Nach einem kurzen Aufenthalt in
seinem Heimatkonvent in Neapel weilt Thomas in den folgenden Jahren
größtenteils am Hof Urbans IV. - zunächst in Orvieto, dann in Viterbo -
als "lector curiae". Als päpstlicher Hoftheologe hat er Zugang zu den
päpstlichen Archiven. Das dogmengeschichtliche Quellenstudium, welches
er dort betreiben kann, schlägt sich in seinen späteren Werken nieder.
Von dem Generalkapitel seines Ordens war er schon zu Neapel 1260 zum
"praedicator generalis" ernannt worden, von 1265 bis 1267 wird ihm die
Leitung der Ordensstudien in S. Sabina zu Rom übertragen. 1266 oder
1267 beginnt er - zunächst noch als Privatarbeit - mit der
Abfassung der "Summa theologiae", jenes Werkes, welches ihn in
der Geschichte der Theologie berühmt machen wird. 7) In Viterbo kann er
noch das erste Buch vollenden, welches die Lehre von Gott und der
Schöpfung enthält, als er 1269 unerwartet wieder als Magister nach
Paris berufen und von seinem Orden auch dorthin gesandt wird. In Paris
sind die Streitigkeiten über die Bedeutung des Aristoteles für die
Theologie in vollstem Gange. Es geht dabei um ganz zentrale Fragen: Ist
Gott Person oder nur unpersönliches, absolutes Prinzip? Gibt es einen
individuellen oder nur einen allgemeinen Nous? Wird die Freiheit durch
die Erkenntnis determiniert oder nicht? Haben die Averroisten mit ihrer
Aristoteles-Interpretation recht - ihre Positionen: Gott unpersönlich,
allgemeiner Nous, Determination durch Erkenntnis - (und sie haben in
der Tat recht!) -, dann besteht das Problem, welche Bedeutung die
Positionen des Aristoteles für die christliche Theologie noch haben
können. Diese tatsächliche Gefahr für die Theologie und für den Glauben
wird besonders von dem franziskanischen Con-Magister, Bonaventura,
gesehen, der seinen Kollegen Thomas aus seiner Kritik nicht ausspart.
Die-ser ist jedoch der Meinung, Averroes durch Aristoteles, der
inzwischen auf Drängen von Albert und Thomas im Dominikanerorden zur
Pflichtlektüre geworden war, widerlegen zu können. 8) Der dreijährige
Lehraufenthalt in Paris - Ostern 1272 wird Thomas von seinem Orden
wieder nach Neapel gerufen - wird so für den Magister Thomas zu einer
ungeheuer kräftezehrenden Zeit. Neben seiner
Lehrtätigkeit stellt er das zweite Buch der "Summa" fertig, enthaltend
seine theologische 'Ethik'. Für seine literarische Produktion stellte
ihm der Orden jede erdenkliche Unterstützung. So ist bezeugt, daß er
drei Sekretären gleichzeitig verschiedene Werke bzw. Abhandlungen zu
verschiedenen Themen diktierte... und auch gelegentlich dabei
einschlief. 9) Seine theologische Produktion ging soweit, daß er sich
von der Teilnahme an der Liturgie und dem Stundengebet seines Ordens
zeitweise dispensieren ließ. "Wenn er nicht im Chor der Engel mitsingen
könne - gemeint ist das Chorgebet des Convents - wolle er versuchen,
wenigstens gut über die Engel zu schreiben." 10)
Im letzten Jahr seines Aufenthaltes als Magister an S. Sabina zu Rom -
um 1268 - beginnt Thomas mit der Kommentierung von Aristoteles "De
anima". In Paris verfaßt er weitere Kommentare. Etwa ab Mitte Oktober
1271 behandelt er dessen "Metaphysik", die ihm in der Übersetzung von
Moerbeke vorlag. Die Kommentierung wird auch nach dem neuerlichen
Weggang von Paris am 24.4.1272 in Neapel weitergeführt. In die Pariser
Zeit (1271-1272) fällt noch die Abfassung der "Sententia libri
Ethicorum", in denen Thomas die "Nikomachische Ethik" kommentiert,
wobei er die Ethik des Aristoteles unter christliche Moralprinzipien
stellt. Im Jahre 1271 bearbeitet Thomas weiterhin die Physik, auch die
Logik kommentiert er. Die Kommentare waren nicht als Vorlesungen im
universitären Bereich gedacht, sondern entstanden nach der Lektüre der
Werke, um diese und den Autor möglichst genau zu verstehen. Mit der
Niederschrift der Sentenzen zur Nikomachischen Ethik bereitete sich
Thomas auf die Abfassungdes zweiten Teils der "Summa Theologiae" vor.
Die universitären Streitigkeiten über die Aristoteles-Interpretation
halten an. Dessen Gesamtwerk lag seit 1255 in Paris vor. Thomas steht
zwischen allen Fronten, den Augustinisten und den Averrovisten, die ihn
beide jeweils der gegnerischen Gruppe zurechnen. Ostern 1272 wird er
wieder nach Neapel zurückgerufen - die Gründe hierfür sind umstritten.
Sicher ist, daß er auf Wunsch des Königs Karl von Anjou die
theologische Fakultät der Universität von Neapel aufbaut und diesem
Institut dadurch neuen Glanz verleiht. Thomas arbeitet am dritten Band
seiner "Summa theologiae", die die Christologie, die Soteriologie, die
Sakramentenlehre und die Eschatologie enthält - der dritte Band wird
jedoch nicht mehr vollendet. 11) Über die Gründe dafür gleich mehr.
Hier noch einiges zum Aufbau und Plan der "Summa". Thomas skizziert
ersteren selbst: Da das Hauptthema dieser "sacra doctrina" die
Vermittlung der Gotteserkenntnis ist - die zugleich einen
Methodendiskurs enthält -, soll zuerst von Gott gehandelt werden (pars
prima), darauf von der Bewegung der vernünftigen Geschöpfe zu Gott hin
(pars secunda) und schließlich von Christus, der durch seine
Menschwerdung unser Weg zu Gott ist. 12) Hinsichtlich des Plans der
"Summa" wurden verschiedene Hypothesen entwickelt 13). Die
Thomas-Forscher gehen heute allgemein davon aus, die "Summa" lasse sich
nach dem neuplatonischen Schema von "exitus" und "reditus" lesen, d.h.
von Ausgang und Rückkehr, also vom Ausgang in Gott und der Rückkehr zu
Ihm als Endziel. 14) Thomas' Theologie ist also theozentrisch. Der
theologische 'Stoff' wird nach dem "ordo rerum", der Ordnung der Dinge
gegliedert, aus dem der "ordo disciplinae" resultiert.
Es wurde schon gesagt, daß der dritte Teil der "Summa" unvollendet
blieb. Bei Frage 90 hat Thomas seine Arbeit an ihr am 6.12.1273
abgebrochen und danach keine Zeile mehr geschrieben. Auslöser für
dieses literarische und wissenschaftliche Verstummen war ein
ekstatisches Erlebnis bei der Feier der hl. Messe an jenem 6. Dezember.
Thomas kam erschüttert vom Altar zurück und legte sein Schreibzeug
beiseite. Denen, die ihn verwundert anschauten sagte er: "Ich kann
nicht mehr, denn alles, was ich geschrieben habe, scheint mir wie Stroh
zu sein." 15)
Im Frühjahr des Jahres 1274 beruft Gregor X. das Zweite Konzil von Lyon
ein. Thomas wird als Konzilstheologe eingeladen. Auf dem Weg dorthin
kommt er am 6.3.1274 in der Zisterzienserabtei Fossa Nova an und wird
todkrank. Er bittet um die Sterbesakramente und die hl. Kommunion. Nach
dem Bericht seines ersten Biographen betet er: "Ich empfange dich als
Lösegeld meiner Seele, ich empfange dich als Wegzehrung für meine
Pilgerfahrt; aus Liebe zu dir habe ich studiert, gewacht und mich
bemüht. Dich habe ich gepredigt und gelehrt. Gegen dich habe ich
niemals etwas gesagt; sollte ich aber etwas gesagt haben, so habe ich
es unwissend gesagt, und ich beharre nicht hartnäckig auf meiner
Meinung, sondern wenn ich über dieses Sakrament oder über anderes
schlecht gelehrt habe, so überlasse ich es ganz der Verbesserung durch
die heilige, römische Kirche, in deren Gehorsam ich nun aus diesem
Leben scheide." 16) Einen Tag darauf stirbt er.
Auch wenn man ihn in Paris nicht vergißt, schaden seinem Ansehen
zunächst doch weitere Verurteilungen der Averroisten, in die auch
Thomas der Sache nach einbegriffen ist. Besonders scharf sind die
Attacken von seiten der Franziskaner-Theologen. Bald darauf erfährt der
Aquinate aber ob seiner immensen theologischen Arbeit eine besondere
Würdigung: bereits 1323 wird er von Papst Johannes XXII., der selbst
dem Orden der Franziskaner entstammte, heiliggesprochen (Fest: 7.
März), wobei dieser den Prozeß dazu selbst tatkräftig unterstützt
hatte. 1567 wird Thomas durch Pius V. zum Kirchenlehrer und von Leo
XIII. 1880 zum Patron aller kath. Hochschulen ernannt. - Auf Anordnung
Papst Urbans V. wurden die Gebeine 1369 in die Dominikaner-Kirche von
Toulouse überführt, wo sie bis zur Französischen Revolution verblieben.
Seit 1974 ruhen sie in der dortigen Jakobus-Kirche.
Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Thomas
Das Charakteristische an Thomas' wissenschaftlicher Leistung besteht -
wie schon angedeutet - in der Adaption der antiken, d.i.
insbesondere der aristotelischen Gedankenwelt in die der Kirche - nicht
bloß bewußt, sondern auch methodisch. Damit versucht er, die Gesamtheit
des Offenbarungsglaubens begrifflich transparent zu gestalten, denn der
Glaube ist vernünftig. Theologie - besser: die "sacra doctrina" (die
heilige Lehre), denn Thomas benutzt den Terminus "theologia"
durchgehend für die philosophische Gotteslehre - ist für ihn Weisheit
aufgrund des Lichtes, welches Gott durch den Glauben im Geist des
Menschen angezündet hat. 17) Die natürliche Vernunft-Erkenntnis (lumen
naturale) im prinzipiellen Bereich, das ist das, was philosophisch
erkannt werden kann, hat Geltung auch für die Theologie (im modernen
Sinne). Wo dieses natürliche Licht nicht weiterkommt, setzt das
übernatürliche Licht ein, welches uns durch die Offenbarung Gottes
gegeben ist. - das ist der Weg des Menschen zu Gott, denn er
allein ist das Heil 18). Die "sacra doctrina" (die heilige Lehre) ist
gleichsam "eine Einprägung des göttlichen Erkennens" im Geist des
Menschen. 19)
Hier geht es um die Erkenntnis der Gesamtheit des Wirklichen, um dessen
absoluten Seinsgrund und die letztgültige Zielbestimmung, die aus Gott
stammt - das Heil. Diese Art der Erkenntnis nennt er - Augustinus, aber
auch Aristoteles folgend - "sapientia" (Weisheit). 20) So kann zwar
mittels der Vernunft nach Thomas das Dasein Gottes erkannt werden
mittels Schlußverfahren, indem z.B. vom Bewegten auf einen ersten
Beweger oder von der Zweckmäßigkeit der Welt auf einen Schöpfer
geschlossen werden 21), dagegen kann sie uns nichts über Gottes
Substanz ausmachen. "Das ist das Letzte in der menschlichen Erkenntnis
von Gott, daß sie weiß, von Gott nichts zu wissen." 22) An andere
Stelle formuliert er diese These so: "Denn die Substanz Gottes
übersteigt jede Form, die unser Verstand erreicht, durch ihre
Unermeßlichkeit, und so können wir sie nicht begreifen, indem wir
erkennen, was sie ist. Wir haben jedoch gewisse Erkenntnis von ihr,
indem wir erkennen, was sie nicht ist." 23) Thomas präzisiert das
Verhältnis von natürlicher (Gottes)Erkenntnis und der "sacra doctrina"
noch weiter: "Die menschliche Vernunft verhält sich zum Erkennen der
Wahrheit des Glaubens, die allein denen, so die göttliche Substanz
schauen, ganz und gar bekannt sein kann, dermaßen, daß sie irgendwelche
Wahrscheinlichkeitsgründe für sie zu gewinnen vermag, welche jedoch
nicht dafür ausreichen, daß die vorgenannte Wahrheit gewissermaßen auf
dem Wege der beweisenden Darstellung oder als durch sie verstanden
begriffen wird. Dennoch ist es nützlich, daß in derlei Vernunftgründen,
mögen sie auch noch so schwächlich sein, der menschliche Geist sich
übt, wofern nur die Anmaßung des Begreifens und Beweisens entfällt."
24)
Allein aus diesen wenigen Textstellen läßt sich ablesen, daß es Thomas
primär um die Erreichung der "sapientia" geht, die durch die göttliche,
übernatürliche Erkenntnis, die "sacra doctrina" vermittelt wird. Durch
Erreichung der sapientia schaut man gleichsam mit Gottes Auge auf die
Welt, Mensch und Geschichte. Es ist offenkundig, daß Thomas bei diesem
Unternehmen der philosophischen Erkenntnis nur eine untergeordnete
Rolle beimißt, die er zugleich stark relativiert, ohne sie jedoch
dadurch aufheben zu wollen. 25) Die Vernunftgründe haben demnach nur
innerhalb der Offenbarung Geltung und Bedeutung in einem nur
untergeordneten Sinne. Darum ist die Philosophie die "Magd der
Theologie" ("philosophia ancilla theologiae"). 26) In diesem Sinne muß
nun auch das Bemühen Thomas' gesehen werden, warum und wie er
Aristoteles versteht und für die Belange der Theologie, bei ihm: "sacra
doctrina", einsetzt. Er benötigt die philosophischen Begriffe, die er
in der Logik, der Ethik, der Metaphysik des Aristoteles vorfindet -
ohne das Gesamte der Aussagen in sich, d.h. systematisch zu prüfen -
und appliziert sie auf seine theologischen Entfaltungen. So betreibt er
die Kommentierung der "Nikomachischen Ethik" als Vorbereitung für die
Abfassung des zweiten Teils der "Summa theologiae" (vgl. weiter oben).
Thomas wendet aristotelisch-philosophische Begriffe in mehrfacher Weise
in seiner Theologie an: als Reflexion der Wirklichkeit, als
Modellvorstellung, um analoge Sachverhalte zu erklären (z.B. Gnade als
"eine Art Qualität" 27), um einen analogen Zusammenhang darzustellen
oder um den aristotelischen Gegner mit dessen eigenen Waffen zu
schlagen (z.B. in der Auseinandersetzung mit Averroes). Dieses
Verfahren soll hier an einem markanten Beispiel expliziert werden. 28)
Um die Tugend zu erklären, wendet Thomas einen von Aristoteles
entwickelten Kategorialbegriff, den "Habitus"-Begriff auf sie an. 29)
Dieser ist den sog. 10 Prädikamenten des Stagiriten entnommen, d.h.
dessen Ober-Allgemeinbegriffen, mit denen ein Etwas als Etwas und als
etwas Bestimmtes definiert wird bzw. mit denen ein Etwas als Etwas und
als bestimmtes Etwas bestimmbar ist: d.s. die Substanz und die (neun)
Akzidenzien, zu denen auch u.a. neben der "qualitas"-
(Beschaffenheits-) auch die "Habitus"-Kategorie gehört, wobei nicht
ganz klar ist, ob Thomas die Habitus-Kategorie als Unterkategorie der
Qualitas anwendet. So wäre die Tugend also etwas, was man (an)hat.
Tugend aber ist nach Augustinus definiert als "gute Beschaffenheit des
Geistes, durch die man recht lebt, die niemand mißbraucht und die Gott
in uns ohne uns wirkt." 30) Wird aber die Tugend dem "Habitus"
zugeordnet, wie es Thomas tut, so muß sie sich u.a. folgende Vorwürfe
gefallen lassen:
1. Die als habitus verstandene Tugend macht das Leben im Glauben zu einer Sache der Einübung.
2. Die Gnade Gottes würde so zu einem Besitzstück, sie würde als persönliches Heilsangebot Gottes verkannt.
3. Die als habitus verstandene Tugend verkennt die Realität der Sünde, weil man annehmen muß, sie sei sozusagen 'weggeschafft'.
Dieses Beispiel soll nicht als Kritik gemeint sein, es demonstriert
aber recht gut das Problem der Applikation von systematisch nicht
ausgewiesenen Begriffen, weswegen schon die Zeitgenossen des Thomas
erhebliche Vorbehalte gegen dieses Verfahren angewandt haben. So hatte
einmal Bonaventura in einer Predigt seinen Kollegen Thomas der Sache
nach angegriffen, als er ihm vorwarf, diese Art von Rückgriff auf die
Philosophen hieße Wasser in den reinen Wein des Wortes Gottes gießen,
worauf Thomas - auf das kanaäische Wunder anspielend - antwortete: "Das
heißt den starken Wein der Wahrheit mit Wasser verschneiden, wirst du
sagen, nämlich den Wein des Wortes Gottes mit dem Wasser der
Vernunfterkenntnis - eine verderbliche Mischung! Aber nicht doch, wenn
du ein guter Theologe bist! Denn dann handelt es sich nicht mehr um
Wein, der mit Wasser verschnitten, sondern vielmehr um Wasser, das in
Wein verwandelt wird". 31) Doch mit solch eher scherzhaften Repliken
waren die systematischen Probleme nicht erledigt.
Um die Aristoteles-Interpretation des hl. Thomas entsprechend zu
würdigen, gebe ich hier der Einfachheit halber das Resultat von Torrell
wieder: "Was die Treue Aristoteles gegenüber betrifft, ist die
Forschung in den letzten Jahren immer kritischer geworden. Die
Interpretation durch Thomas ist sicherlich intelligent und tiefsinnig,
oft auch wörtlich, doch hat sie nichtsdestoweniger die Lehre des
Aristoteles in entscheidenden Punkten umgeformt. So wird zum Beispiel
der Kommentar zur Nikomachischen Ethik vom christlichen Grundsatz der
seligen Schau bestimmt, und derjenige zur Metaphysik vertritt eine
Aristoteles völlig fremde Ontologie, ganz zu schweigen von der
Schöpfungsmetaphysik oder der Abkehr vom Polytheismus. Einer der besten
Thomasforscher unserer Zeit meinte scherzhaft, Thomas habe Aristoteles
'getauft'. So kann man es sehen, wenn man es nicht vorzieht, wie
Gauthier davon auszugehen, daß Thomas einen "bereits verchristlichten"
Aristoteles geerbt hatte und sich darum bemühte, ihm eine gewisse
Reinheit zurückzugeben, um ihn in innovativer Weise der Theologie
dienstbar zu machen. Sogar diejenigen, die heute noch die These einer
grundsätzlichen Treue des Thomas gegenüber Aristoteles verteidigen,
müssen zugeben, daß diese Treue mit einer "Vertiefung und Überwindung
des aristotelischen Textes" einhergeht.
Ich bin der Ansicht, daß viele Mißverständnisse vermieden werden
könnten, würde man sich das Ziel des Thomas klar vor Augen halten.
Einer häufigen Ausdrucksweise des Thomas - nicht nur in den
Aristoteleskommentaren! - zufolge ist es sein Anliegen, die intentio
auctoris zu suchen. Dies ist eine der Regeln der expositio
reverentialis, das heißt der mittelalterlichen Hermeneutik, der es
exakt darum geht herauszufinden, was der Autor sagen wollte. Um
Aristoteles zu verstehen, muß man sich demnach bemühen, die seinem
gesamten Denken zugrundeliegende Dynamik zu begreifen und die Wahrheit,
von der seine Untersuchung ausging und die er vielleicht mehr oder
weniger ungeschickt auszudrücken wußte, herauszustellen. Genau deshalb
fühlte sich Thomas berechtigt, sich gleichsam an dessen Stelle zu
setzen, um sein Denken zu erweitern und ihn Dinge sagen zu lassen, an
die er selber gar nicht hätte denken können. Die historisch korrekte
Rekonstruktion des aristotelischen Denkens als Selbstzweck
interessierte ihn nicht. Auch wenn seine Ausbildung weniger umfassend
war als diejenige eines modernen Historikers, wußte Thomas doch
meistens sehr genau, woran er sich halten konnte. Er zog es vor, sich
auf das Vorhaben des Aristoteles einzulassen, um zu vollenden, was
seiner Ansicht nach zwar dessen Anliegen war, aber ohne das Licht der
Offenbarung noch nicht zu Ende geführt werden konnte. Thomas sah seine
Aufgabe demnach nicht wie ein Historiker des 20. ]ahrhunderts. Um sein
Werk angemessen einschätzen zu können, muß man sich ins Gedächtnis
rufen, daß er seine Kommentare in einer apostolischen Absicht
unternahm: um seiner Aufgabe als Theologe nachzukommen und um seinen
Beitrag zur Weisheit zu leisten, so wie beide Schulen, die des Paulus
und die des Aristoteles, diese verstehen: die Wahrheit zu sagen und den
Irrtum zurückzuweisen.
Es ist interessant, was Thomas etwa gegenüber den Versuchen und
Anstrengungen der großen antiken Philosophen bezüglich des letzten
Ziels des Menschen empfindet. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen,
bemitleidet er die 'Angst dieser großen Geister', die nicht gewußt
hätten, daß uns die höchste Glückseligkeit, die in der Erkenntnis
Gottes besteht, nach diesem Leben erwartet." 32)
Thomas' Stellung in den Auseinandersetzungen seiner Zeit
Zusammenfassend sei es im Rahmen dieser Untersuchung, die
selbstverständlich die Probleme nur gerafft darstellen konnte, erlaubt,
folgendes zu sagen: Thomas' Stellung in der Geschichte der Wissenschaft
resultiert aus der Auswertung der aristotelischen Philosophie, um sie
auf die gesamte Theologie anzuwenden. 33) Für ihn stellt das
universelle Wissen des Aristoteles den Unterbau dar, auf dem ihm die
Errichtung der christlichen Thelogie als Wissenschaft möglich erschien
und durch den die christlichen Lehrinhalte besser darzustellen seien,
obwohl z.B. die in Aristoteles' Theismus entfaltete Gottesvorstellung
sich keineswegs mit dem christlichen Gottesbegriff deckte. Nach
Aristoteles ist die Welt unentstanden, in der sich in ewigem Rhythmus
des Geschehens die Naturformen verwirklichen. Für Aristoteles stellt
sich nicht die Frage nach dem Ursprung bzw. der Schöpfung des Seins
dieser Welt, sondern nach ihrer Bewegung. Die Lösung sieht er in der
Annahme eines ersten Bewegers, der selbst unbewegt ist. Diesen Beweger
nennt er Gott, der reine Aktualität ist. Thomas fußt u.a. auf der
theistischen Vorstellung des Aristoteles, von dem er die Auffassung von
der Welt als "ordo" übernimmt, welche bei ihm von entscheidender
Bedeutung wird.
Zugleich galt es, das tradierte Material des Aristoteles von den
Schlacken seiner arabischen Übersetzer und Interpreten, zu deren
bedeutendsten der Arzt und Philosoph Avicenna (eigentlich: Ibn Sina)
(980-1037) und der in Cordoba / Spanien geborene Averroes (1126-1198)
gehörten, zu reinigen und Irrlehren zu bekämpfen, die von diesen
verbreitet worden waren wie z.B. der eigenartige Pantheismus des
Averroes, der bereits im christlichen Abendland viele Anhänger (u.a.
die Libertinisten) gewonnen hatte. Fußend auf dem aristotelischen
Theismus (Gott nur als Erstbeweger und nicht als Schöpfer) hatte dieser
behauptet, daß Gott die Einzelwesen nicht kennt bzw. anerkennt, weshalb
es nach Averroes auch keine göttliche Vorsehung geben kann. Dieser
reduzierte Gottesbegriff hatte auch (destruktive) Auswirkungen auf die
Konzeption des Sittengesetzes. Thomas und seine scholastischen Kollegen
insgesamt taten alles, um die averroistischen Irrtümer zu bekämpfen,
wobei Thomas die Auffassung vertrat, dies mit einem gereinigten und
vertieften Aristotelismus tun zu können, was ihm nicht zu unrecht von
seinen franziskanischen Universitätskollegen vorgeworfen wurde, da sie
in Averroes den besseren Aristoteles-Commentator sahen.
Auch wenn die Erweiterung des Wissensstandes durch den neu entdeckten
Aristoteles und die Auseinandersetzung mit den arabischen Philosophen
und auch mit den jüdischen - hier sei stellvertretend nur der
bedeutendste genannt: Moses Maimuni, latinisiert Maimonides
(1135-1204), der als höchstes Gut die Erkenntnis der Wahrheit ansetzte
und den Thomas genau studiert hatte - Gebot der Stunde war, um in der
Diskussion mit diesen zu bestehen und um immanent die von ihnen
vertretenen und verbreiteten Irrtümer zu bekämpfen, so war die
Einführung und Adaption seiner Lehren als kompendienhafte, theoretische
Basis für die christliche Theologie dennoch mehr als problematisch.
Denn die Ansätze des Aristoteles stellten weder ein System dar noch
waren sie Theologie und auf sie als Reformvorhaben aus
a) methodischen und
b) sach-logischen Gründen gravierende Probleme mit sich brachte.
Verurteilungen des Aristoteles und des Thomas von Aquin
Das Eindringen der aristotelischen Schriften in Westeuropa wird von den
kirchlichen Behörden mit restriktiven Maßnahmen begleitet. So verbietet
ein Konzil der Kirchenprovinz Sens in Paris im Jahre 1210 unter Vorsitz
des Erzbischofs Petrus von Corbeil die Behandlung der Naturphilosophie
des Aristoteles sowie die Kommentatierung dieser Schriften in
öffentlichen und geheimen Vorlesungen (nicht aber das Privatstudium der
Schriften) unter Androhung des Kirchenausschlusses 34). Fünf Jahre
später verbieten die neuen Universitätsstatuten der Artistenfakultät (
= philosophischen Fakultät) der Pariser Universität die Lektüre der
Naturphilosophie und Metaphysik des Aristoteles sowie der damaligen
Kommentatoren. 35) Am 7. Juli 1228 warnt Papst Gregor IX. die
Professoren der theologischen Fakultät der Universität Paris vor einer
Überschätzung der Philosophie im theologischen Lehrbetrieb und vor
"profanen Neuerungen". Gemeint war wiederum Aristoteles. 36)
Das Verbot des Konzils der Kirchenprovinz Sens von 1210 wird von Papst
Gregor IX. am 13. April 1231 erneut eingeschärft. Der Papst sagt
allerdings eine Prüfung der aristotelischen Naturlehre zu. Bis dahin
bleibe die Sache verboten. 37) Da diese Prüfung offenbar zu negativen
Ergebnissen gekom-men war, dehnt Innozenz IV. am 22. September 1245 das
Verbot der Naturphilosophie des Aristo-teles auf die Universität von
Toulouse aus. 38) Als die neuen Universitätstatuten der
Artistenfakultät trotz bestehenden Verbotes die Schriften des
Aristoteles ab 1255 in den Lehrplan aufnehmen, regt sich allerdings
kein päpstlicher Widerstand. 39) Erst 1263 wird das bestehende Verbot,
die Natur-philosophie des Aristoteles zu lesen, von Papst Urban IV.
wiederholt. 40)
Die Interpretation des Aristoteles hatte zu zwei Schulbildungen
geführt, einer orthodox-gemäßigten, der auch Thomas von Aquin
zuzurechnen ist und die Artistoteles in Übereinstimmung mit der
kirchlichen Lehre interpretiert wissen will, und einer
heterodox-häretischen, als deren Hauptvertreter Siger von Brabant zu
gelten hat. Als letztere Interpretation ab 1265 immer stärker zu
heidnischen Positionen hinsteuert, predigt Bonaventura mehrfach
öffentlich dagegen ("Collationes de decem praeceptis", März/April 1267,
"Collationes de septem donis Spiritus Sancti", März/April 1268); er
nimmt auch philosophische Positionen des Thomas nicht aus. 411) Ostern
1272 wird Bonaventura gar mit bis dahin nicht gekannter Schärfe erneut
gegen den Aristotelismus ("Collationes in Hexaemeron") predigen. Die
aristotelische Philosophie sei eine "apokalyptische Bedrohung der
gesamten Christenheit" 42), denn es ging in dieser Auseinandersetzung
um das Problem, ob Gott bloßes Prinzip (wobei die Offenbarung in Frage
gestellt wäre) - was die Gegner mit Aristoteles behaupteten - oder ob
Gott personales Sein zukäme.
Am 7. März 1274 stirbt Thomas von Aquin. Auf den Tag genau drei Jahre
später verurteilt der Pariser Erzbischof Stephan Tempier 219
philosophische Thesen 43) (infolge eines mahnenden Briefes des Papstes
vom 18. Januar 1277 an ihn 44)), von denen die meisten den Averroisten
Siger von Brabant und Boethius von Dacien zugeschrieben werden. In
dieser Verurteilung lassen sich Thomas von Aquin 16 Thesen zuschreiben
45). Doch richtete sich die Verurteilung nicht unmittelbar gegen
Thomas, sondern gegen die Artistenfakultät, wie aus dem Prolog
hervorgeht. 46) Nichtsdestoweniger ist das thomasische Denken von der
Verurteilung betroffen, da Thomas an der Artistenfakultät gelesen wird.
In einem zweiten Brief des Papstes Johannes XXI., des ehemaligen
Magisters Petrus Hispanus, der selbst an der Pariser Universität
gelehrt hatte, an den Pariser Erzbischof vom 28. April 1277 wird die
Verurteilung auch der betroffenen Theologen (Thomas und andere)
gutgeheißen 47). Der Papst fordert eine zweite lehramtliche Säuberung.
Erzbischof Tempier plant sogar einen eigenen Prozeß gegen Thomas. 48)
Die Verurteilungen - die n.b. für den Bereich Geltung haben, für den
die jeweilige Autorität zuständig ist - nehmen kein Ende. Am 18. März
1277 unternimmt der Erzbischof von Canterbury, Robert Kilwardby,
Dominikaner, für das Gebiet der Universität von Oxford eine ähnliche
Verurteilung 30 aristotelischer Grundsätze, darunter 16 Sätze
thomistischer Herkunft, als für den Glauben gefährlich. Er bezeichnet
die von Thomas vertretene Auffassung als phantastisch, falsch und
unmöglich, mit dem katholischen Glauben unvereinbar. 49)
1279 trägt Wilhelm de la Mare, der Nachfolger von John Pecham auf dem
franziskanischen Lehrstuhl in Paris, ein Correctorium zusammen,
das 117 Propositionen aus der Summa theologiae, den
Quaestiones disputatae, den Quodlibita und dem Sentenzenkommentar
des Thomas von Aquin als gegen die Wahrheit und die franziskanische
Lehre gerichtet bezeichnet. Es wird vom Franziskanergeneralkapitel als
Pflichtkommentar zur Summa theologiae, ohne den diese nicht gelesen
werden darf, formell angenommen. 50) (In diesem Correctorium spiegelt
sich vornehmlich der seit über mehr als 10 Jahren laufende Schulstreit
zwischen den Franziskanern und den Predigerbrüdern, den Dominikanern
wider.) Natürlich werden thomistische Dominikaner später
Gegendarstellungen verfassen. 51)
Am 29. Oktober 1284 und 30. April 1286 wiederholt der Nachfolger von
Kilwardby, Erzbischof Pecham, vormaliger Magister in Paris, die
Verurteilung der philosophischen und theologischen Ansichten des Thomas
von Aquin durch seinen Vorgänger von 1277 und erneuert sie 1286 für
Oxford, indem er wiederum acht thomistische Sätze zensiert. 52)
Umschwung zugunsten des Thomismus 53)
Unmittelbar nach dem Tode des Thomas v. Aquin setzt parallel zu der
oben beschriebenen Bekämpfung von überwiegend franziskanischer Seite
eine lebhafte Verteidigung seiner Lehren ein, nicht durch unmittelbare
Schüler des Thomas (Bartholomäus v. Lucca, Wilhelm v. Tocco,
Bartholomäus v. Capua), sondern durch Mitglieder des Dominikanerordens,
die durch die ständigen Verurteilungen (s.o.), auf deren Widerspruch ja
die Exkommunikation steht, und Pauschalverdächtigungen, Thomas sei mehr
oder weniger doch irrgläubig gewesen und zurecht verurteilt, zumindest
aber in den Verurteilungen inbegriffen, äußerst gereizt sind. Es sind
hier zu nennen Aegidius von Lessines, der bereits 1278 auf die
Verurteilung des Franziskanerbischofs Robert Kilwardby mit der Schrift
"De unitate formae" antwortet, auf Bernard von Trilia, der ab
1277 bis zu seinem Tode 1292 Thomas mit diversen Streitschriften
verteidigt, auf Bernhard von Auvergne (1294-1297), in England Richard
von Klapwell und Robert von Oxford, in Deutschland Johannes von
Sterngasse, in Italien Hannibald de Hanibaldis, Rambert von Bologna und
vor allem Remigius von Florenz. Um ihre Sympathie mit Thomas und seinen
Ansichten zu bekunden, hatten sie den Predigerbrüdern angeboten, die
sterbliche Hülle Thomas' an der Universität beizusetzen. Auch
Theologen, die mit Thomas nicht übereinstimmen, nehmen für ihn
Stellung, indem sie das Verfahren von 1277 zwar als legitim, aber
inhaltlich als pauschalisierend ablehnen. 1277 bemüht sich Albert der
Große 77-jährig nach Paris, um Thomas zu verteidigen. Das
Generalkapitel der Dominikaner 1278 setzt sich über die Verurteilung
durch den Dominikanerbischof Kilwardby hinweg und empfiehlt Thomas;
nachfolgende Generalkapitel (1279, 1286, 1309, 1311, 1315, 1329, 1342,
1346) schreiben Thomas' Lehre mit der Wendung "De tenenda doctrina Fr.
Thomae" regelrecht vor; dem Generalkapitel 1346 wird von Papst
Clemens VI., einem ehemaligen Benediktiner, gar verboten, in
irgendeinem Punkte von Thomas abzuweichen.
So kommt es, daß angesichts des immer stärker werdenden Nominalismus -
einer philosophischen Schule, die in ihrer extremen Ausrichtung dem
Erkenntnisgegenstand keine wirkliche Realität beimißt, was für die
Gotteserkenntnis, die moralischen Prinzipien fatale Folgen hat 54) -
Thomas als letzte umfassende Lehrautorität und Stütze der Kirche
angesehen wird. Seine Lehre muß nur noch offiziell sanktioniert werden.
Noch immer sind seine Werke von den Verurteilungen von 1277, 1284 und
1286 in der intellektuellen Öffentlichkeit stillschweigend mit
inbegriffen. 1294 ergreift die Dominikanerprovinz Rom die Initiative,
die Heiligsprechung voranzutreiben, später, unabhängig davon, auch die
Provinz Sizilien. Daher ist es ein Glücksfall, daß Johannes XXII. (ein
Franzose namens Jacques Duèse aus dem Franziskanerorden!), ab 1316
Papst mit Residenz in Avignon, auch persönlich ein Bewunderer des
Thomas von Aquin ist und den Heiligsprechungsprozeß eigenhändig am 13.
September 1318 in Gang setzt. Der erste Heiligsprechungsprozeß findet
in Neapel vom 21. Juli bis 18. September 1319 statt, er soll
Erkundigungen über die Tugenden und das Leben des Thomas von Aquin
einholen; im zweiten Heiligsprechungsprozeß vom 10. bis 20. November
1321 geht es um die Erforschung der Wunder nach seinem Tode. Die
Heiligsprechung erfolgt am 18. Juli 1323 durch Johannes XXII. in
Avignon. Sein Fest wird auf seinen Todestag, den 7. März, festgelegt.
Knapp zwei Jahre später, am 24. Februar 1325, hebt der Pariser
Erzbischof Etienne Bourret die Verurteilung seines Vorgängers von 1277
in bezug auf Thomas von Aquin formell auf.
Entwicklung des Thomismus bis zur Neuzeit 55)
Unter Thomismus versteht man die systematische Darstellung der
Philosophie und Theologie des Thomas von Aquin. Da der Begriff im Laufe
der Zeit eine Erweiterung erfährt und auch als Benennung für
philosophische und theologische Schulsysteme, die sich (zu Recht oder
Unrecht) auf Thomas von Aquin berufen, benutzt wird, werden in
Abgrenzung dazu neuere, von historischer Präzision getragenen
Bemühungen, die Darstellung der Lehre des Thomas quellenmäßig zu
belegen, als thomanisch bzw. thomasisch bezeichnet.
Die übliche Einteilung der Geschichte der Thomismus in vier Phasen ist
bedingt durch die Art und Weise der Auseinandersetzung der Autoren mit
seinem Werk. Unmittelbar nach seinem Tode beginnt die Epoche der
Verteidigungsschriften (defensiones), die bis in die Mitte des 15.
Jahrhunderts reicht. Es entstehen abkürzende Kompendien
(abbreviationes), alphabetische Indizes (tabulae) und Konkordanzen
(concordantiae), welche letzteren vor allem Widersprüche zwischen der
"Summa theologiae" und dem Sentenzenkommentar aus der Welt schaffen
wollen. Übernahme von Gedankengängen und wörtliche Zitate finden sich
ab 1280; auch der Ehrentitel "Doctor communis" taucht vor der
Jahrhundertwende bereits in Paris auf. Zur Zeit der Heiligsprechung
wird Thomas erstmals als theologische Autorität zitiert. Innerhalb der
Orden verhärten sich die Positionen. Nachdem im Dominikanerorden die
letzten Gegner verstummt sind (Robert Kilwardby, Robert Pechum), wird
die Lehre des Thomas ebenso offizielle Ordensdoktrin, wie sie von den
Franziskanern durch Korrektorien (d.s. korrigierende Kommentarwerke,
ohne die die Originalschrift nicht gelesen werden darf) bekämpft wird.
Hauptgegner im Franziskanerorden ist zu Beginn des 14. Jahrhunderts
Duns Scotus, der der Gefahr einer durch Aristoteles beeinflußten
Determination des Willens durch den Verstand bei den Thomisten begegnen
will. Da die franziskanische Position die (häresieverdächtige) Nähe zum
Nominalismus in den Augen ihrer Gegner nie hat überwinden können,
gewinnen die Verteidiger des Thomas allmählich die Oberhand; das Werk
des Johannes Capreolus, des "Fürsten der Thomisten" (princeps
thomistarum), bildet in der Mitte des 15. Jahrhunderts Höhepunkt und
Abschluß dieser Literaturgattung.
Bis zum Tridentinum folgt dann die Epoche der Kommentarschriften
(commentariae). Das erste Werk dieser Art, von Johannes Tinctoris zum
1. Teil der "Summa theologiae" um 1450 in Köln erschienen, zieht bis
zur Gegenwart schätzungsweise 90 Komplett- und 550 Teilkommentare nach
sich. Die Summa Theologiae löst die Sentenzen des Petrus Lombardus als
Theologielehrbuch ab. Spanische Autoren treten besonders hervor (Bañez,
Vitoria etc.) Berühmtestes Werk, zugleich der erste Komplettkommentar,
wird das Werk des Kardinals Cajetan (1509-22). Für die folgenden
Generationen hat es aber auch Filterfunktion gegenüber der
Vergangenheit. Aufgrund seines Einflusses wird es sogar Teil der
kritischen, von Leo XIII. im Jahre 1882 initiierten Thomas-Ausgabe
(Leonina, die n.b. heute, d.h. nach über 100 Jahren noch nicht
abgeschlossen ist! ) werden.
Mit dem Tridentinum wendet sich das Interesse den Disputationen
(disputationes) zu, welche Methodik bis zur Aufklärung die
vorherrschende sein wird. Wichtigstes Ereignis der nach-tridentinischen
Zeit ist die Erhebung des hl. Thomas zum Kirchenlehrer 1567 durch S.
Pius V. und seine Gleichstellung mit den Kirchenvätern
Augustinus, Hieronymus, Ambrosius und Gregor. Die durch die
Glaubensspaltung hervorgetretene Problematik wird durch Verwendung der
Summen-Technik in relativ eigenständigen Werken analog der von Thomas
gelieferten Vorgaben unter Integration positiver Momente zu lösen
versucht. Dabei wird der originär auf Thomas zurückgehende Rahmen weit
gesprengt. Der neu entstandene Jesuitenorden übernimmt seine Lehre als
Grundlage der Theologie in die Ordenskonstitutionen. In der Folge
spaltet sich der Thomismus in eine molinistische Richtung, die vor
allem vom Jesuitenorden adaptiert und repräsentiert wird, und eine
bañezische Richtung, welche Unterscheidung vor allem im Gnadenstreit
des 17. und 18. Jahrhunderts massiv zum Durchbruch kommt und bis heute
als ungelöst gilt.
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts geht die Geschichte des klassischen
Thomismus mit dem Tode von Gotti (+ 1742) und Billuart (+ 1757)
unwiderruflich zu Ende, nachdem bereits der Unterricht in den
Seminarien seit langem wesentlich cartesianisch orientiert ist.
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