WELCHE PHILOSOPHIE?
von
Eberhard Heller
unter Mitarbeit von Christian Jerrentrup
Einleitung
Seit Beginn der Herausgabe unserer Zeitschrift begann man, entweder
sachlich offen über die philosophische Ausrichtung des jeweiligen
Redakteurs oder einzelner Mitarbeiter des neuen Blattes zu diskutieren,
wie dies z.B. + H.H. Dr. Otto Katzer und der damalige Redakteur, Herr
M. Wildfeuer, taten, oder mehr oder weniger verdeckt, aber direkt
aggressiv die von den EINSICHT-Mitarbeitern vertretene philosophische
Ausrichtung zu beargwöhnen. Diese nämlich gaben unumwunden zu, nicht
den von der Kirche empfohlenen Thomismus zu vertreten, sondern
ihren theologisch-dogmatischen Argumentationen (die n.b. nie widerlegt
wurden!) als phiosophisches Fundament die auf Kant und Fichte fußende
Transzendental-Philosophie zugrundezulegen. (N.b. das Ergebnis des
Disputes mit H.H. Dr. Otto Katzer war, daß er, der ausgebildete
Thomist, sich von der Stichhaltigkeit der Argumentation und von unserem
redlichen Bemühen um die Darstellung der Wahrheit überzeugen ließ und
mit uns in bestem Einvernehmen bis zu seinem Tod zusammenarbeitete.)
Einzelne kritische oder skeptische Stimmen formierten sich bereits Ende
der 70iger Jahre zu einer von den Herren Holzer und Erren inszenierten
Kampagne gegen die EINSICHT, sie vertrete eine freimaurerische
Philosophie, nämlich die des Freimaurers Fichte - eine völlig abstruse
Behauptung, wobei die demagogische Wirkung des Reizwortes "Freimaurer"
bewußt eingesetzt wurde... jeder Sachkompetenz höhnend. Dieser
Kampagne wurde damals unsererseits von Herrn Lauth nicht auf einer rein
sachlichen, sondern - den Stil von Holzer und Erren aufgreifend -
leider streckenweise nur auf einer polemischen Ebene begegnet. Dies
hatte den Nachteil, daß die eigentliche Problematik, ob die von uns
vertretene philosophische Position - eine andere, als die von der
Kirche empfohlene! - sich auch legitimieren lasse (philosophisch und
kirchlich autoritativ), verschoben und nicht aufgeklärt wurde und daß
sich in diesem Halbdunkel von Unwissen und Mißtrauen gegenüber einer
eventuell doch kirchenfeindlichen (?) Einflußnahme auf den Widerstand
Gerüchte und Verleumdungen ansiedelten, die über bekannte Anwürfe von
Frau Gerstner (KYRIE ELEISON, Nr. 1, 1994, in dem sie einen ehemaligen
Kandidaten des Storckschen Seminars zu Worte kommen läßt und sich bei
ihrer Polemik gegen Fichte auf Ernest Hello beruft) schließlich einen
vorläufigen Höhepunkt in den - zugegebenermaßen - autoritativ und
kirchenrechtlich am besten dokumentierten Vorwürfen von Herrn Dr.
Filser gefunden haben. Auch wenn diesem philosophische Kompetenz abgeht
- er argumentiert ausschließlich von einem formalistisch-legalistischen
Standpunkt aus -, so stellt er im ATHANASIUS, Nr.5.6/94 - n.b. in einem
von dem verstorbenen Bischof Storck, der ein über-zeugter Verfechter
der Transzendentalphilosophie war, initiiertes Blatt -, den
transzendental-philosophischen Unterricht, den die Kandidaten bisher
erhalten hätten, als Ungehorsam gegen die Kirche dar. Filser hat bei
seinen Ausführungen vornehmlich die Verhältnisse im Seminar des
verstorbenen Bischofs Storck im Visier. Auch wenn wir von diesen
Ausführungen nicht unmittelbar betroffen sind, so geht dieser Disput
die Redaktion der Sache nach aber auch an, da das Problem kirchlicher
Bestimmungen bezüglich des philosophischen Unterrichts an katholischen
Seminarien über diesen Bereich weit hinausgeht und ebenso ganz
allgemein das Philsophieren in katholischen Instituten meint, wovon
auch unsere Arbeit berührt ist. - Auch wenn der Freundeskreis kein
Seminar betreibt, so sprechen doch diese Bestimmungen ganz allgemein
das Verhältnis von Philosophie und (orthodox) katholischer Theologie
an, von dem die Ausrichtung der EINSICHT mitbetroffen ist. Außerdem
wird dieses Problem inzwischen in einem größeren Kreis diskutiert.
Darüber hinaus bin ich von einer Reihe von Lesern gebeten worden,
dazu Stellung zu nehmen.
Filser schreibt: "Bischof Storck hatte sich beim Aufbau des
Priesterseminars bewegen lassen [Hervorhebung von mir], daß - immerhin
unter seiner fachkundigen Begleitung - für die philosophische
Ausbildung der Priesteramtskandidaten im wesentlichen die
Transzendentalphilosophie nach Fichte von Universitätsprofessor Dr.Dr.
Lauth vorgetragen wurde" 1), also eine von der Kirche nicht nicht nur
nicht geförderte, sondern sogar eine von dieser angeblich (!!!)
verbotenen (weil angeblich idealistischen!) Philosophie, der Filser und
sein Verein das Prädikat "nichtkatholisch" 2) verleihen.
In diesem Satz ist gleich mehreres direkt falsch oder schief
dargestellt. Storck hat sich nie "bewegen lassen", daß
Transzendentalphilosophie von Herrn Lauth an seinem Seminar doziert
würde. Storck selbst, der ja zunächst auch eine thomistisch geprägte
Ausbildung in Münster erhalten und die Schwächen dieser philosophischen
Ausrichtung kennen gelernt hatte, war davon überzeugt, daß nur mit
einer Fundierung der Philosophie im absoluten Wissen die modernen
Probleme überhaupt adäquat erfaßt und gelöst werden könnten. Die
Klärung des philosophischen Standpunktes war für ihn persönlich
mitentscheidend, Priester zu werden. Bei Gründung des Seminars im Jahre
1980 herrschte zwischen H.H. Kaplan Dr. Storck und Herrn Prof. Lauth
ein erheblicher Dissens - u.a. auch wegen der Art und Weise, wie diese
Gründung erfolgt war -, der erst Jahre später überbrückt wurde - m.W.
im Jahre 1982. Und erst ab Februar 1985 - also erst fünf Jahre nach der
Aufnahme des Lehrbetriebes! - hat Lauth auf Storcks Bitte im Seminar
Philosophie unterrichtet. Was nun Lauths philosophische Kompetenz
angeht, so ist diese international unbestritten, besonders was die
Edition der Fichte-Gesamtausgabe betrifft. Lauth trägt Philosophie in
durchaus eigenständigen Systemzyklen vor, und nicht einfach "nach
Fichte", wie Herr Filser behauptet, wiewohl Lauth immer die immense
Leistung Fichtes gerade in Hinsicht auf eine wissenschaftliche
Begründung und Systematisierung der Philosophie betont, auf welcher er
- Lauth - u.a. auch aufbaut. Die Transzendentalphilosophie als
"nichtkatholisch" zu bezeichnen, illustriert am deutlichsten das totale
Un- bzw. Mißverständnis des vorliegenden Problems. Mit dem Terminus
"Philosophie" ist entweder Prinzipien-Wissenschaft (mit dem Anspruch
auf absolute Wahrheit!) gemeint, die allgemein gilt und die von keiner
Konfession in ausschließlichen Beschlag genommen werden kann,- dann ist
das Gerede von einer sog. "katholischen Philosophie" völlig abstrus
(ähnlich verfehlt, wie wenn man die Mathematik in eine "katholische"
oder "nichtkatholische" einteilen würde, es würde nur die absolute
Ignoranz derer verdeutlichen, die so etwas behaupten würden) - oder der
Terminus "Philosophie" steht für die "Weltanschauung" bestimmter
Gruppen, der aber dann jegliche wissenschaftliche Verbindlichkeit. Ich
nehme zugunsten von Herrn Filser einmal an, daß er und sein Verein den
Anspruch auf Wahrheit wohl doch nicht fallen lassen wollen, dann
dokumentiert die Einstufung von Philosophien in sog. "katholische" und
"nicht-katholische" schon überdeutlich sein seltsames Verhältnis zur
Philosophie als Wissenschaft! (N.b. dieses Vermengen von
kirchlich-autoritativen Momenten mit sachlicher Inkompetenz macht einen
wesentlichen Teil der sog. 'katholischen' Misere aus!)
Nach dem Tode von Bischof Storck sei es - so Filser weiter - zu
Kontroversen bezüglich der philosophischen Ausbildung gekommen, da der
"Verein St. Athanasius Priesterseminar (...) nämlich im Zeitverlauf
intensivere Nachforschungen über die tatsächlichen Regelungen und
Anordnungen der katholischen Kirche, und zwar sowohl der Päpste als
auch des kirchlichen Rechts, insbesondere hinsichtlich des
philosophischen Studiums bei der Seminarausbildung angestellt habe. In
deren Ver-lauf zeigte sich mehr und mehr, daß die katholische Kirche,
zumindest bis zum Tode von Papst Pius XII., die philosophische
Ausbildung der Priesteramtskandidaten klar und eindeutig geregelt und
auch so angeordnet hat. (...) Die Kirche fordert diese Ausbildung
nämlich 'nach der Lehre, den Re-geln und den Grundsätzen' des heiligen
Thomas von Aquin (...). Diese Wirklichkeit ist im übrigen neuerdings
von mehreren katholischen Bischöfen im Widerstand klar, eindeutig und
verpflichtend bestätigt worden." 3)
Unter Hinweis auf verschiedene kirchliche Entscheidungen zugunsten des
Thomismus - angefangen bei Pius IX., über Leo XIII., Pius X., Benedikt
XV., Pius XI. und Pius XII., mit Hinweis auf die entscheidende Stelle
im CIC, Kanon 1633, §2 - versucht Herr Filser nun nachzuweisen, daß
diejenigen, die sich nicht an die zitierten kirchlichen Erlasse in
dieser Angelegenheit hielten, "sich wissentlich und willentlich in
einer wichtigen Sache gegen bestehende Anordnungen und Vorschriften der
katholischen Kirche stellen" 4). Filser spekuliert weiter: "Wenn sich
die Priesteramtskandidaten dazu bereit fänden, warum könnten sie dann
nicht mit gleichem Anspruch auch in den theologischen Fächern ähnliche
Abweichungen entweder für sich selbst beanspruchen oder zur Annahme
solcher verpflichtet werden?" 5)
Auch wenn Herrn Filser sicherlich nicht alle Aussagen der Päpste
zugunsten des Thomismus zu Lebzeiten von Mgr. Storck bekannt gewesen
sein sollten, so hat Storck aus seiner Abweichung von den kirchlichen
Vorschriften bezüglich des philosophischen Unterrichts von Anfang nie
einen Hehl gemacht. Schon bei der Gründung wurde darüber diskutiert.
Und dieses Thema hat das Seminar immer wieder beschäftigt. Auch Herr
Filser hat von dieser Abweichung gewußt, was ihn nicht davon abgehalten
hatte, das Seminar und seine Aktivitäten in einer Vertrauensstellung zu
Bischof Storck tatkräftig zu unterstützen. Wenn er die Sache nun so
darstellt, als ob er erst nach dem Tod von Storck erfahren hätte, daß
dieser hinsichtlich der Philosophie anders als von der Kirche erwartet
vorgegangen sei, so ist dies eine bewußte Irreführung seiner Leser. Das
geschieht auch dort, wo er sich auf die Autorität der angeblich im
Widerstand befindlichen Bischöfe beruft. Zunächst haben diese Bischöfe
- ganz allgemein gesprochen - keine eigentliche Jurisdiktion, sondern
nur pastorale Autorität. Zum andern: was soll das heißen, wenn sich ein
Bischof Oravec, der von Hause aus Zahnmedizin studiert hat und sich nur
für 1 1/2 Jahren an den Wochenenden der Theologie widmen konnte, der
obendrein mit einer Reihe von Problemen bezüglich seiner Priesterweihe
behaftet ist, für oder gegen etwas ausspricht, was er überhaupt nicht
kennt!!! - hier: die Transzendentalphilosophie; nach eigenem Bekunden
will er Fichte auf der Fahrt von Presov/Slowakei nach München
'studiert' haben!!! - so geschehen bei seinem Besuch in München, wo
angeblich das ehemalige Seminar von Mgr. Storck noch weiterbestehen
soll.
Filser unternimmt mit diesen Ausführungen unterschwellig den Versuch,
aus diesem verkürzten legalistischen Blickwinkel den Eindruck zu
erwecken, als ob die Kirche darüber befunden hätte, was als Philosophie
zu gelten habe und was nicht. In dieser Hinsicht erschiene die
Philosophie eher ein Appendix der Theologie, denn eine eigenständige
Wissenschaft zu sein. Man muß Filser aber einräumen, daß die Kirche an
solchen Mißverständnissen mitschuldig ist. Zusehr wurde neben der
theologischen auch die philosophische Kompetenz des Aquinaten von den
kirchlichen Autoritäten betont, wobei nicht unterschieden wurde, ob es
sich bei der Favorisierung der Philosophie des hl. Thomas um
didaktische Empfehlungen oder um die Verpflichtung zur Übernahme
eigentlich inhaltlicher Momente handeln sollte. 6)
Verhielte es sich in der Tat so, würde das bedeuten, daß die
Philosophie entweder ihrer wissenschaftlichen Eigenständigkeit beraubt
und gleichsam lehramtlich diszipliniert würde, deren Sätze nicht mehr
einzusehen, sondern zu glauben wären, oder daß die Kirche zu Recht die
ihr zugewiesenen Bereiche, über die sie autoritative Entscheidungen
fällen soll und muß - Glaube und Sitte -, nach Belieben erweitern
dürfe. Hörte die Philosophie dann auf, eine eigenständige Wissenschaft
zu sein, sähe sich letztlich auch die Theologie außerstande, ihre
Inhalte ohne dieses wissenschaftliche Instrumentarium begrifflich zu
präzisieren.
Damit wäre dann die sachliche Diskussion über philosophische Aussagen
der eigentlich fachlichen Ebene entzogen und gleichsam dem
theologischen Bereich zugeordnet, wodurch es quasi erlaubt erschiene,
alle Nicht-Thomisten der Ketzerei zu bezichtigen. Wer die
traditionalistische Szene kennt, weiß, daß dies laufend geschieht. Ich
verweise noch einmal auf die von Filser oben ausgesprochenen
Verdächtigungen. (Ich kann mich noch an einen Brief erinnern, in dem +
H.H. Pfr. Aßmayr von einem fanatischen Thomisten in unflätiger Weise
beschimpft wurde, weil er mit der EINSICHT, die bekanntlich von
dezidierten Nicht-Thomisten redigiert würde, zusammenarbeitete.)
Da die Debatte untergründig oder offen nicht abzureißen scheint
und die Erwähnung des Reizwortes "Freimaurer" seine demagogische
Wirkung noch immer ausübt, möchte ich versuchen, bei der Erörterung des
Problems, welche Philosophie zu gelten habe, auch die Hintergründe der
kirchlichen Entscheidung zugunsten des Thomismus zu klären, aber auch
deren Selbstbeschränkung aufzuzeigen.
Ich möchte betonen, daß diese Debatte unter den gegebenen
Voraussetzungen vornehmlich geführt wird, um traditionalistische
Gläubige, die in dieser Materie nicht verwurzelt sind und die durch
Propagandisten, die in der Regel sachlich inkompetent sind, verführt
wurden, von der Rechtmäßigkeit unseres Vorgehens zu überzeugen und um
ihnen zu zeigen, was die kirchlichen Bestimmungen für das Studium der
Philosophie mit der Betonung des Thomismus wirklich bedeuten, auch auf
die Gefahr hin, daß die Erörterung in dieser Form Wissenschaftlern
grotesk erscheinen mag. Denn es bedarf unter Philosophen keiner Debatte
mehr, daß eine Seinsmetaphysik alten Stils - d.h. ohne
Wis-sensbegründung, keine wissenschaftliche Dignität mehr besitzt, und
daß wissenschaftliche Philosophie als Prinzipienwissenschaft nicht
summarisch (d.i. nach dem scholastischen Summenverfahren, das seinen
Vorläufer in den römischen Gerichtsverfahren hat), sondern nur
systematisch betrieben werden kann.
Zugleich bitte ich um Verständnis, wenn die nachfolgende Darstellung
nicht die Ausführlichkeit aufweist, die die Barbeitung eines solchen
Themas eigentlich erfordern würde. Doch ließen mir berufliche und
anderweitige Verpflichtungen nicht mehr Zeit zur Ausarbeitung. Falls
deshalb Probleme offen bleiben sollten, bitte ich um Nachfragen.
Es ist doch mehr als seltsam, daß gerade diejenigen, die sich nunmehr
seit fast drei Jahrzehnten um eine begriffliche und theologische
Klärung und Darstellung der modernen Häresien bemühen, die die
versteckten Häresien der Reformer aufgedeckt und transparent gemacht
und die die theologische Argumentation vorangetrieben haben, um klare
Positionen beziehen zu können, die allgemein übernommen wurden - ich
denke nur an solch entscheidende Aussagen über die Ungültigkeit des
N.O.M. und die Vakanz des päpstlichen Stuhls spätestens seit Paul VI.
-, von Ignoranten, ver-ängstigten und verunsicherten Gläubigen oder
Fanatikern aber der Ketzerei und des Ungehorsams gegenüber der Kirche
bezichtigt werden. 7)
Das Erzeugen dieser Transparenz war und ist nur möglich auf der
Grundlage einer systematisch durchgeführten und wissenschaftlich
abgesicherten Philosophie. Wie will z.B. ein Nur-Thomist das System
eines Hegels durchschauen, dessen Dialektik u.a. einen Karl Rahner 8)
und andere moderne Theologen beeinflußt haben - mit den bekannten
Ergebnissen! - Und wie will er ihn widerlegen? Er verstünde nicht
einmal dessen Ansatz und dessen Dialektik! Auch der Vorschlag Pius XI.
(in seinem Schreiben "Deus scientarum Dominus" - vgl. Anhang) ist hier
wenig hilfreich, nämlich dieses System mit dem des Thomas zu
vergleichen. Daß sie von einander abweichen, das will der 'kath.'
Hegel-Epigone ja und sagt es auch noch. Aber - um in der
wissenschaftlichen Debatte zu bleiben! - solche Vergleiche sagen nichts
darüber aus, welches System wahr ist, und welches nicht! Und die
katholischen Institute machten es sich es zu leicht, darauf zu hoffen,
daß Thomas in allen Punkte recht und der Gegener keine Argumente hätte.
In der Tat trifft es zu, daß sich die Päpste ab der Mitte des letzten
Jahrhunderts, beginnend mit Pius IX., besonders aber seit Leo
XIII, für einen Philosophieunterricht an den katholischen
Seminarien nach "der Methode, der Lehre und den Grundsätzen" des hl.
Thomas ausgesprochen haben. Diese Empfehlung hat unter Benedikt XV.
auch eine rechtliche Normierung im CIC von 1917 erhalten. Im Kanon
1366, §2, heißt es: "Die Lehrer in den Priesterseminarien sollen
ihre Forschungen der Philosophie und der Theologie und die
Unterrichtung der Alumnen in diesen Fächern ganz und gar nach der
Denkweise (ratio), der Lehre und den Grundsätzen des Engelgleichen
Lehrers (gemeint: hl. Thomas v. Aquin) betreiben und diese gewissenhaft
einhalten." (der Anhang enthält alle wichtigen Dokumente zugunsten des
Unterrichts nach der Lehre des hl. Thomas)
Um zu verstehen, warum die Kirche erst ab diesem Zeitpunkt auf Thomas
von Aquin zurückgreift und ihn so nachhaltig als philosophischen Lehrer
empfiehlt - zum ersten Mal durch Pius IX. in seinem Schreiben
gegen Bonnetty (vgl. Anhang) -, ja sogar die Professoren und Studenten
der Seminarien später auf diesen verpflichtet, es aber daneben sowohl
mit kirchlicher Autorität als auch aus sachlogischen Gesichtspunkten
geboten ist, einen anderen philosophischen Standpunkt als den des
Thomismus einzunehmen, dazu bedarf es einer etwas ausführlicheren
Darstellung. Denn dieser Rückgriff auf die Lehre des hl. Thomas ist
nämlich nur dann verständlich, wenn man die philosophische Entwicklung
zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit ihren divergierenden Ausrichtungen
betrachtet. Zudem müssen die methodischen Ansätze der modernen
Philosophie aufgezeigt und mit ihnen die heutigen theoretischen
Problemfelder, welcher der Thomismus als solcher so nicht einmal
thematisch erfassen kann, untersucht werden.
Unsere Erörterung ist eingeteilt in
a) einen philosophie-geschichtlichen und
b) einen systematischen Teil.
Anmerkungen:
1) a.a.O., S. 17.
2) a.a.O., S. 22.
3) a.a.O., S. 18 f.
4) a.a.O., S. 18.
5) a.a.O.
6) In den Vorbereitungskommission auf das II. Vatikanum hatten römische
Theologen für die Stdien und Seminare ein vorläufiges Schema "De
doctrina S. Thomae servanda" verfaßt, in dem dem Konzil eine Art
Kanonisierung der thomistischen Philosophie nahegelgt wird. Die Methode
und die Prinzipien des Thomas sollten "außer Diskussion" stehen
und wegen ihrer engen Verknüpfung mit den Dogmen der Kirche wie ein
"dogmatisches Faktum" behandelt werden. (Vgl. Caprile, Giovanni:
"Entstehungsgeschichte und Inhalt der vorbereiteten Schemata" in LThK,
Erg.-Bd. III, Freiburg i.Br. 1968, S. 665-726, besonders S. 706 f.)
Wäre dieses Schema zum Zuge gekommen, würde das bedeutet haben, wie es
Ludger Oeing-Hanhoff genannt hat, daß "eine schlimmere Pervertierung
seines Erbes kaum denkbar" sei, "[d]a gerade Thomas eine selbständige
Philosophie in der Kirche heimisch gemacht und das Recht freien
Philosophierens auch gegenüber Einsprüchen der Kirche und der Theologie
seiner Zeit zur Anerkennung gebracht hat". (Oeing-Hanhoff, Ludger:
"Thomas von Aquin und die gegenwärtige katholische Theologie" in
Eckert: "Thomas von Aquino. Interpretation und Rezeption" Mainz 1974,
S. 245)
7) Man könnte diesen Sachverhalt, wenn man ihn einmal polemisch
präsentieren wollte, auch so darstellen: Die Leute aus München, die die
EINSICHT herausgeben, haben lange theologische Abhandlungen
geschrieben, um zu demonstrieren, daß die sog. 'neue Messe' ungültig
und der Hl. Vater ein Häretiker ist. Die Argumente sind zwar sehr gut
vorgetragen - alle haben sie inzwischen übernommen -, aber da sie
ja angeblich Fichte-Freimaurerphilosophen sind, dürfen ihre Argumente
nicht gelten. Also ist die neue Messe dann doch gültig und der Hl.
Vater ein wirklicher Nachfolger des hl. Petrus? Was tun? Geh, lieber
Traditionalist, wieder in die neue Messe, gehorche einem Häretiker,
weil nach Deiner Ansicht nicht sein soll, was nicht sein darf!
8) Unter Traditionalisten ist es vielleicht weniger bekannt, daß Karl
Rahners Dissertation "Geist in Welt" (1939) - auf Anregung von Maréchal
und Heidegger entstanden -, in der er Positionen der thomistischen
Schulphilosophie überschreitet, zunächst von der Universität Freiburg
abgelehnt wurde, heute als Standardwerk der Thomas-Forschung gilt.
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