"Es bedarf einer gewissen Einsamkeit, um Ihn zu sehen.."
- Erinnerung an einen Mann, der mit Pius X.
Kaffee getrunken hat -
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
Wer kann sich schon rühmen, mit einem Heiligen Kaffee getrunken zu
haben? Noch dazu mit einem Heiligen, der ganz und gar nicht legendär,
sondern nach seinem Tode, welcher kaum neunzig Jahre zurückliegt, gemäß
den strengen Regeln des alten Kirchenrechts zur Ehre der Altäre erhoben
und mit einem alljährlich wiederkehrenden Gedächtnistag ausgezeichnet
worden ist? Ich spreche von Giuseppe Sarto, der nach seiner am vierten
August l903 erfolgten Wahl zum zweihundertachtundfünfzigsten Nachfolger
des Apostelfürsten Petrus sich Pius X. nannte.
Nicht ich selbst bin diesem Papst persönlich begegnet, der als
österreichischer Staatsbürger geboren worden ist - seine Heimat
gehörte, als er l835 das Licht der Welt erblickte, zu den italienischen
Besitzungen der Habsburger, zum sogenannten Lombardisch-Venezianischen
Königreich. Die ersten dreißig Jahre seines Lebens, die bekanntlich den
Menschen am entschiedensten prägen, ist Giuseppe Sarto Österreicher
gewesen; und sein Bruder Angelo diente während des Krieges l866 sogar
in der österreichischen Armee. Bedeutsamer noch ist die Tatsache, daß
Pius X. am zwanzigsten Mai l909 den einzigen Österreicher unter den
Heiligen des vorigen Jahrhunderts kanonisiert und ausdrücklich zum
Patron der Hauptstadt Wien erhoben hat: Clemens Maria Hofbauer,
den Freund Friedrich Schlegels, Joseph von Eichendorffs und anderer
Geister der Romantik. Und klingt nicht wie ein Echo des Hofbauer'schen
Strebens, was Pius X. in seinem Brief an den Wiener Gralbund, eine
betont katholische Schriftstellergruppe, am sechzehnten Februar 1911
ohne Wenn und Aber feststellt: daß das katholische Christentum, "die
Religion, welche die gesamte Kultur hervorgebracht hat, den gesamten
Menschen erfassen und das gesamte Leben beherrschen soll" - was man ihm
als "Integralismus" angekreidet hat?
Wie hätte ich mit diesem Papst zusammentreffen können, der genau in
jenem weltkriegsschwangeren Hochsommer 1914 gestorben ist, in den die
Geburt meiner Mutter fällt? Dennoch ist mir dieser Pontifex in hohem
Maße gegenwärtig, und dies beinahe schon seit Kindertagen. Als
ich noch die Schule besuchte, anno Domini 1954, wurde er
heiliggesprochen, und daran kann ich mich gut erinnern. Und nicht
minder gut habe ich im Gedächtnis behalten, daß in den fünfziger Jahren
ein verhältnismäßig alter, aber überaus rüstiger und geisteswacher Mann
lebte, der, als er selbst jung gewesen, mit Giuseppe Sarto, dem zum
Patriarchen von Venedig und Kardinal aufgestiegenen Häuslersohn
gemeinsam Kaffee getrunken hat. Die Begebenheit ereignete sich wenige
Monate vor Sartos Erhebung auf die cathedra Petri. Der Mann, von dem
ich dies erfahren habe, hätte mein Großvater sein können. Er war
geborener Venezianer und jahrzehntelang in diplomatischen Diensten
tätig gewesen. Auch einige witzige und urbane, heute fast vergessene
Bücher hatte der welterfahrene, weitgereiste Grandseigneur geschrieben,
als ich ihn kennenlernte.
Was ich von Daniele Vare - dies ist sein Name - vor vielen Jahren
vernommen habe, ist ganz gewiß nicht geeignet, Theologen,
Kirchenhistorikern und Hagiographen neue, wissenschaftlich bedeutsame
Fingerzeige zu vermitteln. Wenn ich es dennoch festhalte, dann einfach
deshalb, weil diese Episode meine Vorstellungskraft fesselt. Sogar
anekdotische Winzigkeiten können, wenn ein Augenzeuge sie überliefert,
uns etwas von jenen "Wonnen des Konkreten" genießen lassen, die schon
Leibniz als Labsal empfand, wenn er von seinen metaphysischen und
mathematischen Studien gelegentlich dazu überging, in pergamentenen
Kaiserchroniken zu blättern oder vergilbte Lehensurkunden zu
entziffern. Vielleicht hat sich mir die auf den erste Blick belanglos
scheinende Begebenheit deshalb so nachdrücklich eingeprägt, daß ich
bisweilen beinahe wähne, sie selbst erlebt zu haben, weil ich, wie alle
Wiener, ein passionierter Kaffeetrinker bin und von jeher dieses
anregende Getränk eigenhändig zuzubereiten pflege, so wie es auch Pius
X. zu tun gewohnt war.
Ein in Rom lebender Freund von mir - so erzählte Daniele Vare -
hatte mich gebeten, ihm eine bestimmte Auskunft über kirchliche Dinge
zu verschaffen. Worum es genau ging, habe ich vergessen. Eingedenk
dieses Auftrags, machte ich mich, wieder einmal in Venedig zu Besuch,
auf den Weg zum Palazzo des Patriarchen, der neben dem St.-Markus-Dom
steht. Ahnungslos, mit wem ich dort sprechen sollte, erstaunte ich
nicht wenig, als mir, nachdem ich die Glocke an der Pforte geläutet
hatte, der Kardinal Giuseppe Sarto höchstpersönlich die Tür öffnete. In
der linken Hand hielt er einen jener großen Federfächer mit hölzernem
Griff, die einst italienische Köche dazu gebrauchten, um die im
Küchenherd glosenden Kohlen anzufachen. Er sei gerade dabei, Kaffee zu
sieden, sagte der Kirchenfürst, um die freundliche Frage anzufügen, ob
auch ich eine Tasse trinken wolle.
Kardinal Sarto kannte mich kaum, während ich ihn, wie sich von selbst
versteht, schon zu wiederholten Malen gesehen hatte, als Zelebranten in
festlichen Messen an hohen Feiertagen, aber auch draußen auf der
Piazza, wenn er zu den Prokuratien oder zum Campanile eilte, der kurz
zuvor eingestürzt war und nun sorgfaltig nach alten Plänen
wiederaufgebaut wurde. Noch mehr jedoch kannte ich den zum
Kirchenfürsten aufgestiegenen Sohn kleiner Leute vom Hörensagen. Längst
hatte sich bei uns herumgesprochen, daß des Bischofs "Mensa", das heißt
die von ihm vierteljährlich bezogenen Einkünfte aus seiner Pfründe, nie
länger als drei Wochen vorhielt, weil er so gut wie alles Armen,
Bedürftigen oder wohltätigen Stiftungen überließ. Aus Sparsamkeit trug
er die Gewänder seines Vorgängers. So wie er seinen leiblichen
Schwestern anriet, nichts an ihrer einfachen bäuerlichen Tracht zu
verändern, so blieb auch er selbst trotz seiner hohen kirchlichen
Würden bis zuletzt ein schlichter, ein demütiger Mann, ein getreuer
Liebhaber der "Dame Armut", wie sie schon der heilige Franziskus aufs
innigste umfreit hatte.
Der Hierarch verkörperte wahrlich die benignitas et humanitas, die Güte
und Menschenfreundlichkeit unseres Heilands, von der die Lesung im
weihnachtlichen Hirtenamt frohlockt. Nicht nur das Geld blieb nie bei
ihm, auch sonst war kein Ding vor seiner Freigebigkeit sicher. Wir in
Venedig wußten aus zuverlässigster Quelle, daß er, sobald ihm etwas
zuteil geworden war, alles umgehend weiterverschenkte. Ihm verehrte
Kostbarkeiten wanderten des öfteren ins Pfandhaus, um dann wieder
ausgelöst und alsbald aufs neue versetzt zu werden. Als er einmal
überhaupt nichts zu geben hatte, entledigte er sich seiner goldenen
Uhrkette und trug die Taschenuhr an einer gewöhnlichen Schnur.
Vermutlich wäre auch die Uhr auf diese Weise 'verloren gegangen' hätte
nicht der vorsorgliche Schenker in sie den Namen Sartos einschneiden
lassen.
Eines Abends, als der Oberhirte der St.-Markus-Stadt eben daran war,
sich zur Ruhe zu legen, entsann er sich des alten Mannes, den er
tagsüber besucht und auf unbequem hartes Lager gebettet gefunden hatte.
Unverzüglich nimmt Giuseppe Sarto die eigene Matratze, lädt sie sich
auf die Schulter und macht sich auf den Weg. In der Nähe der Riva degli
Schiavoni wird der Patriarch, der wie einst Sankt Nikolaus seine Gaben
auch des Nachts austrägt, von einem wachsamen Polizisten angehalten.
Als der Ordnungshüter erkennt, wer der vermeintliche Dieb ist, nimmt er
ihm gleich die Bürde ab, um sie selbst zu dem kranken Notleidenden zu
bringen.
Dies alles und noch anderes wußte ich schon, als der Kardinal mich
fragte, ob ich mit ihm eine Tasse Kaffee trinken wolle. Sarto kannte
mich nicht, aber ohne Mißtrauen oder Ungehaltenheit empfing er den
jungen Unbekannten, um ihn zu gemeinsamem Kaffeegenuß einzuladen. So
war eben seine Art: jedem der zu ihm kam, sogar wenn er unangemeldet
sich einstellte, irgendetwas anzubieten. Er bat mich, Platz zu nehmen,
schwenkte die Kaffeekanne, seine Worte begleitend, hin und her und bot
schließlich, halb wie ein segnender Priester, halb wie eine aufmerksame
Hausfrau sich bewegend, mir Zuckerdose und Milchkännchen an. Er sprach
in venezianischer Mundart und gab mir bereitwillig die gewünschte
Auskunft. Erst als ich im Begriff war, mich zu verabschieden, fiel ihm
ein, mich zu fragen, wer ich denn sei. Als ich meinen Namen nannte,
blickte er mich ein wenig verwundert an und erwiderte: "Trotz ihres
einheimischen Namens leben Sie wohl nicht mehr in Venedig, denn sonst
würde ich sie kennnen, nicht wahr?"
Ich berichtete ihm von meinen Universitätsstudien im Rom, worauf er
etwas über die Größe der Ewigen Stadt und das Gelärme der dort wogenden
Mengen sagte, um sogleich hinzuzufügen: "Hier ist es angenehmer, in
unserem Teil des Landes" - dalle parti nostre. Dieses einen milden
Lokalpatriotismus bezeugenden Wortes entsann ich mich wieder, als der
mit Tränen in den Augen demütig widerstrebende, doch endlich dem
Mehrheitsentscheid des Konklaves sich unterwerfende Kardinal zum Papst
gewählt worden war. Er hatte sich, als er nach Rom reiste, im Vertrauen
darauf, daß er niemals die Tiara werde tragen müssen, bereits eine
Eisenbahnrückfahrkarte besorgt.
Ich versuche mir heute, nach mehr als einem halben Jahrhundert, das
Gespräch zu vergegenwärtigen, das wir beide im Palazzo neben San Marco
bei nachmittäglichem Kaffee geführt haben. Doch ich muß gestehen, daß
ich bis auf ein Wort, das allerdings eines Eingeweihten würdig ist,
nichts Mündliches behalten habe. Deutlich sehe ich hingegen die Gestalt
des zwar keineswegs dicken, wohl aber untersetzten und kräftig gebauten
Mannes vor mir. Ich sehe die breiten gefurchten Gesichtszüge eines
Bauern mit dinarischem Einschlag vor mir, sein Lächeln und die
freundlichen, aber auch durchdringenden braunen Augen des so
gastfreundlichen Kardinals, der als Pius X. ein starker, unbeugsamer,
in allen Angelegenheiten der Glaubenslehre wie der Kirchenzucht
kompromißlos kämpferischer Papst gewesen ist: kein Diplomat, vielmehr
ein Feuer. "Alles in Christus zu erneuern", war sein glühendes
Verlangen.
Von Christus handelt auch das einzige Wort, dessen ich mich entsinnen
kann, wenn ich an unser Kaffeegespräch zurückdenke. Ich hatte
angedeutet, daß ich mich im fernen Rom sehr verlassen fühle und nur
wenig Freundesumgang meine Einsamkeit erheitere. Da sprach Sarto mit
der ihm eigentümlichen weichen und sanften Stimme, aus der zugleich
rechtschaffene Festigkeit und ein durch keinen Schrecken
erschütterbares Vertrauen tönte: "Christus ist einer von uns geworden,
doch nicht einer aus der Menge. Er geht jeder Menge voran. In der Menge
ist es schwer, Christus wahrzunehmen. Es bedarf einer gewissen
Einsamkeit, um Ihn zu sehen." Hierauf reichte er dem etwas verlegenen
Gast die Hand mit dem kostbaren Hirtenring, den eine vermögende Dame
aus Padua ihm geschenkt hatte; doch der ihn zierende Edelstein war
schon längst aus caritativen Gründen veräußert worden und durch ein
funkelndes Glassplitterchen ersetzt worden. So wie er mir die Tür
geoffent hatte, begleitete er mich wieder zu der Pforte des
Patriarchenpalastes, vor dem Taubenschwärme auf und nieder gingen. -
Soweit der Bericht des vor bald vierzig Jahren verstorbenen Diplomaten
Daniele Varé, den ich aufgrund einiger alter Aufzeichnungen zu
rekonstruieren versucht habe. Als zu Beginn des Zweiten Weltkriegs
Geborener konnte ich dem zu Beginn des Ersten Weltkriegs verstorbenen
zehnten Pius unmög-lich begegnen; doch immerhin war es mir einmal
beschieden, auf jemanden zu stoßen, der sich des denkwürdigen Vorzugs
mit demütigem Stolz rühmen durfte, von dem einzigen heiliggesprochenen
Papst der neueren Zeiten zu einer selbstgebrauten Tasse Kaffee
eingeladen worden zu sein.
* * *
Über den hl. Pius X.
ALMOSEN
Eines Tages bat ihn ein Freund um ein Almosen für einen Armen. Der
Selige ließ sich die Bitte nicht zweimal vorlegen; er zog seine
Geldtasche hervor, öffnete sie und leerte sie in die Hände seines
Freundes mit den Worten: "Da nimm alles, was ich habe." - "Ich erinnere
mich", sagte ein Domherr von San Marco aus, "daß der Patriarch Sarto
sich verpflichtet hatte, einen Betrag für den Unterhalt zweier
mittelloser Waisenmädchen zu leisten. Eines Tages begab ich mich in den
Palast des Patriarchen, um seinen Beitrag abzuholen. Aber wie groß war
meine Überraschung, als er mir anvertraute, daß er keinen Centesimo
mehr habe. Er hatte bereits seine Schwestern um 200 Lire bitten müssen,
mit denen er eine mittellose Familie aus der größten Not retten wollte.
"Was kann ein Bischof tun", sagte er zu mir, "wenn ein armer Mann ihn
auf den Knien um Hilfe bittet?" (aus: Dal Gal, Hieronymus: "Pius X."
Freiburg/Schweiz 1952, S. 271.)
VON WUNDERHEILUNGEN
Im Jahre 1912 hatte eine Schwester der Kongregation von den heiligen
Wundmalen in Florenz, die sich im letzten Stadium der Schwindsucht
befand, die Erlaubnis erhalten, nach Rom zu reisen; sie hoffte, von
Pius X. geheilt zu werden. Ohne Schwierigkeiten wurde sie zu einer
Audienz zugelassen und bat den Papst, er möge sie heilen. "Was wollen
Sie denn", sagte der Selige liebenswürdig scherzend, "es geht Ihnen ja
besser als mir!" Und er segnte sie. Die Schwester war vollständig
geheilt." (aus: Dal Gal, Hieronymus: "Pius X.")
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