54. Jahrgang Nr. 7 / Dezember 2024
Datenschutzerklärung | Zum Archiv | Suche




1. WEIHNACHTEN 1996
2. PREDIGT AUF DAS WEIHNACHTSFEST
3. Allen aber, die Ihn aufnahmen...
4. BEWUSSTER BETRUG JOHANNES PAULS II.?
5. Avantgarde eines neuen Faschismus
6. DIE HEILIGEN DREI KÖNIGE BESUCHEN DAS JESUSKIND
7. WIR KÖNNEN HELFEN, WIR KÖNNEN HELFEN...
8. Gedanken über Formen heidnischer Antizipationen der Jungfrauengeburt
9. Ein prachtvoller Raufbold des Herrn
10. DAS BLAUE KREUZ
11. PSALM VON DER GÖTTLICHEN GLÜCKSELIGKElT
12. Buchbesprechungen
13. DER HEILIGE AMBROSIUS
14. NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN
15. Mitteilungen der Redaktion
16. BUCHEMPFEHLUNGEN
DAS BLAUE KREUZ
 
DAS BLAUE KREUZ

von
G.K. Chesterton


Vorbemerkung  der Redaktion:
Wie es Chesterton versteht, über das Medium einer Kriminalgeschichte Informationen über den katholische Glauben und über seine geistigen Fundamente, aber auch über den Erfahrungshorizont eines katholischen Priesters seinen meist anglikanischen Lesern zu vermitteln, zeigt besonders deutlich der nachfolgende Auszug aus dem »blauen Kreuz«.

Der unscheinbare Held, Pater Brown, soll ein wertvolles Kreuz zu einem Kongress bringen, wo es ausgestellt werden soll. Von dieser Transaktion hat der berüchtigte Verbrecher Flambeau erfahren. Unter der Maske eines Priesters macht er sich an Pater Brown heran, um diesem die wertvolle Beute abzujagen. Doch Flambeau wird zur gleichen Zeit gejagt von dem berühmtesten Polizei-Detektiv seiner Zeit, von Valentin. Nach einer langen Verfolgung durch die Innenstadt von London, die auf einem Feld in einem Vorort endet, meint Valentin plötzlich, den Verbrecher gestellt zu ha-ben. Er schleicht sich mit seinen beiden Gendarmen an eine Bank heran, auf der zwei Kleriker sitzen, um deren Unterhaltung zu belauschen.

Eberhard Heller

Der Auszug ist entnommen:
G.K. Chesterton: »Pater Brown und das blaue Kreuz« Zürich 1980 (Diogenes Verlag), S. 29-37.

***

Nachdem er [d.i. Valentin, der Polizei-Detektiv] eineinhalb Minuten lang gelauscht hatte, schnürte ihm ein höllischer Zweifel die Kehle zusammen. Hatte er vielleicht die zwei englischen Polizisten nur deshalb zu diesem Ödland einer nächtlichen Heide geschleppt, um zu erkennen, daß ihr Unternehmen irrsinnig war, so irrsinnig, als wollte man Feigen von Disteln pflücken? Denn die beiden Priester sprachen haargenau wie Priester, andächtig, gelehrt, gelassen, sprachen über die geheimnisvollen Spinngewebe der Theologie. Der kleine Geistliche aus Essex redete einfacher, und sein rundes Gesicht war auf die kraftspendenden Sterne gerichtet; der andere sprach mit gesenktem Haupt, als wäre er nicht würdig, zu ihnen aufzublicken. Doch in keinem weißen italienischen Kloster, in keiner schwarzen spanischen Kathedrale hätte man ein unschuldigeres geistliches Gespräch vernehmen können.

Die ersten Worte, die an Valentins Ohr drangen, waren die letzten eines Satzes von Pater Brown: »... was das Mittelalter in Wirklichkeit meinte, wenn es die Himmel >unbestechlich< nannte.« Der große Priester nickte mit gebeugtem Haupt und sagte: »Ja, ja, diese modernen Ungläubigen wen-den sich an ihre Vernunft; doch wer könnte auf die Millionen Welten über uns blicken, ohne zu fühlen, daß es dort sehr wohl manch wunderbares Universum geben kann, in welchem Vernunft etwas völlig Unvernünftiges ist?« »Nein«, erwiderte der andere Priester, »Vernunft ist immer ver-nünftig, selbst in der letzten Vorhölle, in dem verlorenen Grenzland der Dinge. Ich weiß wohl, daß viele Leute der Kirche vorwerfen, sie erniedrige die Vernunft, aber in Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Die Kirche, sie allein auf Erden, gibt der Vernunft ihre wirkliche Hoheit. Die Kirche, sie allein auf Erden, erklärt, daß selbst Gott an Vernunft gebunden ist.« Der andere Priester erhob sein strenges Gesicht zum funkelnden Himmel und erwiderte: »Und doch, wer weiß, ob in jenem unendlichen Universum -?«  »Nur physisch unendlich«, erklärte der kleine Priester und wandte sich mit einer heftigen Bewegung dem anderen zu, »nicht unendlich in dem Sinn, daß man den Gesetzen der Wahrheit entrinnen könnte.«

Valentin, hinter seinem Baum, riß sich in stummer Wut fast die Fingernägel aus. Es war ihm, als hörte er schon das Kichern der englischen Detektive, die er, auf einen phantastischen Einfall hin, den langen Weg hierhergeführt hatte, um jetzt dem metaphysischen Geschwätz zweier sanfter Pfarrer zu lauschen. In seiner Ungeduld überhörte er die nicht minder gelehrte Antwort des großen Priesters, und als er die Worte aufs neue aufnahm, sprach grade wie der Pater Brown: »Vernunft und Gerechtigkeit beherrschen noch das fernste und einsamste Gestirn. Blicken Sie nur auf diese Sterne. Sehen sie nicht aus, als wäre jeder einzelne ein Diamant oder Saphir? Gut. Sie können sich die irrsinnigste Botanik oder Geologie vorstellen, die Ihnen beliebt. Denken Sie meinetwegen an diamantene Wälder mit Blättern aus Brillanten. Denken Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger riesenhafter Saphir. Aber geben Sie sich nicht der Täuschung hin, daß all diese tolle Astronomie auch nur im geringsten die Vernunft und Rechtlichkeit unseres Handelns ändern könnte. Auf Plateaus von Opal, unter Klippen, aus Perlen geschnitten, würden Sie immer noch eine Tafel finden mit den Worten: Du sollst nicht stehlen.« Valentin wollte sich grade aus seiner steifen, kauernden Lage aufrichten und so leise wie möglich wegschleichen, zerschmettert von der einen großen Dummheit seines Lebens; aber irgend etwas in dem langen Schweigen des an deren Priesters bestimmte ihn, noch zu warten, bis dieser sprach. Freilich, als er es endlich tat, sagte er nur, mit gebeugtem Haupt und die Hände auf den Knien: »Nun, ich bin nach wie vor überzeugt, daß andere Welten sehr wohl die Grenzen unserer Vernunft übersteigen könnten. Das Geheimnis der Himmel ist unergründlich, und ich für mein Teil kann nur das Haupt neigen.« Dann sagte er, immer noch mit gesenkter Stirn und ohne auch im leisesten Haltung oder Stimme zu wechseln: »Und jetzt rücken Sie mit diesem Saphirkreuz heraus, verstanden? Wir sind hier ganz allein, und ich könnte Sie in Stücke reißen wie eine Strohpuppe.«

Grade die völlig unveränderte Stimme und Haltung des Sprechers verlieh der bestürzenden Wendung des Gesprächs merkwürdigerweise etwas besonders Gefährliches. Doch der Hüter der Reliquie schien den Kopf nur um eine winzige Nadelspur zu bewegen. Immer noch war sein etwas törichtes Gesicht offenbar auf die Sterne gerichtet. Vielleicht hatte er nicht verstanden. Oder vielleicht hatte er verstanden und war nun starr vor Entsetzen. »Ja«, sagte der große Priester mit der gleichen leisen Stimme und in der gleichen ruhigen Haltung, »ja, ich bin Flambeau.« Und dann, nach einer Pause, fügte er hinzu: »Also, werden Sie mir jetzt das Kreuz geben?« »Nein«, erwiderte der andere, und die Silbe hatte einen seltsamen Klang. Flambeau warf plötzlich alles priesterliche Getue über Bord. Der große Räuber lehnte sich auf seinem Sitz zurück und lachte - leise, aber lang. »Nein«, rief er, »Sie werden mir das Kreuz auch nicht geben, Sie stolzer Prälat! Sie werden es mir nicht geben, Sie weltfremder Tropf! Und soll ich Ihnen sagen, warum nicht? Weil ich es schon hier in meiner Brusttasche habe!« Das Männchen aus Essex wandte im Dämmerschein sein etwas verdutztes Gesicht und fragte mit dem ängstlichen Eifer einer naiven Schwankfigur: »Sind - sind Sie sicher?« Flambeau jauchzte vor Vergnügen. »Wahrhaftig«, rief er, »Sie sind so gut wie eine abendfüllende Posse! Jawohl, Sie Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich war nämlich so vorsichtig, ein Duplikat Ihres Paketes zu machen, und jetzt, lieber Freund, haben Sie das Duplikat und ich hab' die Juwelen. Ein alter Trick, Pater Brown - ein sehr alter Trick!« »Ja«, sagte Pater Brown und strich sich, wieder in seiner seltsam unbestimmten Art, übers Haar. »Ja, ich habe davon gehört.«

Der gigantische Verbrecher beugte sich mit plötzlichem Interesse zu dem kleinen Landpfarrer. »Sie haben davon gehört?« fragte er. »Wie haben denn Sie davon gehört?« »Nun, ich darf Ihnen seinen Namen natürlich nicht nennen«, erwiderte der kleine Mann einfach. »Er war ein Beichtkind, Sie verstehen. Er hat zwanzig Jahre lang auskömmlich nur von Duplikaten brauner Pakete gelebt. Und so, Sie verstehen, habe ich gleich, als Sie mir verdächtig vorkamen, an die Methode jenes armen Burschen gedacht.« »Ich Ihnen verdächtig vorkam?« wiederholte der Verbrecher mit gesteigerter Neugier. »Hatten Sie wirklich genug Grütze, Argwohn zu schöpfen, nur weil ich Sie zu diesem verlassenen Teil der Heide führte?« »Nein, nein«, sagte Brown mit leiser Entschuldigung. »Sehen Sie, ich schöpfte sofort Argwohn, als wir uns trafen. Sie verstehen - wegen dieser kleinen Ausbuchtung oben am Ärmel, wo Leute Ihres Berufs das Stachelarmband tragen.« »Ja wie, beim Tartarus«, schrie Flambeau, »haben denn Sie jemals vom Stachelarmband gehört?« »Oh, Sie verstehen - unsere kleine Herde!« sagte Pater Brown und zog die Augenbrauen hoch. »Als Kurat in Hartlepool hatte ich drei mit Stachelarmbändern. Und da Sie mir nun von Anfang an verdächtig waren - Sie verstehen doch -, habe ich dafür gesorgt, daß das Kreuz auf keinen Fall in Gefahr gerät. Ich habe Sie beobachtet - Sie verstehen -, und so sah ich dann, wie Sie die Pakete vertauschten. Und dann - Sie verstehen - habe ich sie zurückgetauscht. Und schließlich habe ich das richtige im Laden gelassen.« »Im Laden gelassen?« wiederholte Flambeau, und zum erstenmal klang aus seiner Stimme nicht nur Triumph.

»Nun, es war so«, erklärte der kleine Priester in der gleichen natürlichen Art. »Ich ging zurück in jenen Zuckerbäckerladen und fragte, ob ich nicht ein Paket dagelassen hätte, und dann gab ich der Frau eine bestimmte Adresse an, für den Fall, daß es noch auftauchen sollte. Ich wußte natürlich, ich hatte das Paket nicht dort gelassen, aber jetzt, beim zweiten Mal, ließ ich es dort. Und so hat die Frau, statt mit dem wertvollen Paket hinter mir herzurennen, es an einen meiner Freunde in Westminster geschickt... Das habe ich auch«, fügte er etwas betrübt hinzu »von einem armen Gesellen in Hartlepool gelernt. Er pflegte das so mit Handkoffern zu machen, die er auf Bahnhöfen stahl - aber er ist jetzt in einem Kloster. Oh, man erfährt das so, Sie verstehen«, sagte er und strich sich wieder mit dieser verzweifelt-entschuldigenden Geste übers Haar. »Es geht nicht anders, wir sind nun einmal Priester. Die Leute kommen und erzählen uns diese Sachen.«

Flambeau holte rasch ein braunes Paket aus seiner Innentasche und riß es in Stücke. Nichts befand sich darin als Papier und etliche Bleiklumpen. Mit einem Riesensprung war er auf den Beinen und schrie: »Ich glaube es nicht! Ich glaube nicht, daß ein Tölpel wie Sie all das fertigbringt! Ich bin sicher, Sie tragen das Ding noch bei sich, und wenn Sie mir's nicht geben - nun, wir sind ganz allein, und ich werde es mit Gewalt nehmen!« »Nein«, entgegnete Pater Brown und stand gleichfalls auf. »Sie werden es nicht mit Gewalt nehmen. Erstens, weil ich es wirklich nicht mehr habe. Und zweitens, weil wir nicht allein sind.« Flambeau hielt in seinem Panthersprung inne...         

»Hinter jenem Baum«, sagte Pater Brown mit einer Handbewegung, »stehen zwei kräftige Polizisten und der größte Detektiv unserer Zeit. Wie die hierhergekommen sind, fragen Sie? Nun, ich habe sie natürlich hergebracht. Wie ich das gemacht habe, möchten Sie wissen? Das will ich Ihnen gerne sagen – mein Gott, wir müssen zwanzig malsoviele Schliche kennen, wenn wir unter Verbrechern arbeiten wollen. Also, ich war nicht sicher, ob Sie ein Dieb seien, und ich durfte natürlich nicht riskieren, gegen jemanden aus unserem eigenen Klerus Skandal zu machen. Deshalb stellte ich Sie auf die Probe, um zu sehen, ob Sie sich vielleicht durch irgend etwas selbst verrieten. Nun, für gewöhnlich macht man etwas Krach, wenn man Salz in seinem Kaffee findet; tut man es nicht, dann hat man guten Grund, sich still zu verhalten. Ich vertauschte Salz und Zucker – Sie verhielten sich still. Für gewöhnlich erhebt man Einspruch, wenn die Rechnung dreimal zu hoch ist; zahlt man trotzdem, dann hat man sicher den Wunsch, unbemerkt zu bleiben. Ich änderte Ihre Rechnung - Sie zahlten.« Das Universum schien auf Flambeaus Tigersprung zu warten. Er stand wie verzaubert; eine unermeßliche Neugier betäubte ihn. »Nun«, fuhr Pater Brown mit schwerfälliger Klarheit fort, »nun, da Sie keine Spur für die Polizei zurücklassen wollten, mußte das natürlich wer andrer machen. Überall, wohin wir kamen, sorgte ich dafür, daß man für den Rest des Tages von uns sprach. Ich habe nicht viel Schaden angerichtet: ein Flecken an der Wand, verstreute Äpfel, eine zerbrochene Scheibe. Aber so habe ich das Kreuz behütet – wie eben das Kreuz immer behütet sein wird. Jetzt ist es schon in Westminster. Ich war etwas überrascht, daß Sie nicht versucht haben, mich durch die >Eselspfeife< zu Fall zu bringen.« »Durch die - was?« fragte Flambeau. »Ich bin so froh, daß Sie nie davon gehört haben!« sagte der Priester und sein Gesicht verklärte sich. »Es ist eine faule Sache. Nein, Sie sind sicher ein zu guter Mensch, um ein >Pfeifer< zu sein. Ich hätte freilich die >Eselspfeife< nicht einmal durch den >Hartsprung< verhindern können; meine Beine sind nicht stark genug.«  »Ja, wovon in aller Welt reden Sie denn?« fragte der andere. »Wahrhaftig, ich glaube, Sie wissen gar nichts vom >Hartsprung<«, sagte Pater Brown, angenehm überrascht. »Oh, das ist gut - dann sind Sie noch nicht sehr tief gesunken!« »Aber woher, beim Tartarus, wissen denn Sie von all diesen gräßlichen Dingen?« rief Flambeau. Der Schatten eines Lächelns umspielte das runde, simple Gesicht seines geistlichen Widersachers. »Oh«, sagte er, »vermutlich, weil ich ein weltfremder Tropf bin. Haben Sie nie daran gedacht, daß ein Mann, der sich immer wieder von Berufs wegen andrer Leute Sünden anhört, das Böse im Menschen wahrscheinlich einigermaßen kennt?«
 
»Übrigens, noch eine andere Seite meines Berufs gab mir die Gewißheit, daß Sie kein Priester waren.« »Was?« fragte der Dieb mit offenem Munde. »Sie griffen die Vernunft an«, sagte Pater Brown. »Das tut kein echter Theologe.«

Und als er sich nun abwandte, um seine Sachen zusammenzuklauben, kamen die drei Polizisten aus dem Zwielicht der Bäume hervor. Flambeau war Künstler und Sportsmann. Er trat einen Schritt zurück und machte eine tiefe Verbeugung vor Valentin. »Verneigen Sie sich nicht vor mir, mon ami«, sagte Valentin mit silberklarer Stimme. »Verneigen wir uns beide vor unserem Mei-ster!« So standen sie einen Augenblick entblößten Hauptes, während der kleine Priester aus Essex blinzelnd nach seinem Regenschirm suchte.
 
(c) 2004-2018 brainsquad.de