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DAS BLAUE KREUZ |
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DAS BLAUE KREUZ
von
G.K. Chesterton
Vorbemerkung der Redaktion:
Wie es Chesterton versteht, über das Medium einer Kriminalgeschichte
Informationen über den katholische Glauben und über seine geistigen
Fundamente, aber auch über den Erfahrungshorizont eines katholischen
Priesters seinen meist anglikanischen Lesern zu vermitteln, zeigt
besonders deutlich der nachfolgende Auszug aus dem »blauen Kreuz«.
Der unscheinbare Held, Pater Brown, soll ein wertvolles Kreuz zu einem
Kongress bringen, wo es ausgestellt werden soll. Von dieser Transaktion
hat der berüchtigte Verbrecher Flambeau erfahren. Unter der Maske eines
Priesters macht er sich an Pater Brown heran, um diesem die wertvolle
Beute abzujagen. Doch Flambeau wird zur gleichen Zeit gejagt von dem
berühmtesten Polizei-Detektiv seiner Zeit, von Valentin. Nach einer
langen Verfolgung durch die Innenstadt von London, die auf einem Feld
in einem Vorort endet, meint Valentin plötzlich, den Verbrecher
gestellt zu ha-ben. Er schleicht sich mit seinen beiden Gendarmen an
eine Bank heran, auf der zwei Kleriker sitzen, um deren Unterhaltung zu
belauschen.
Eberhard Heller
Der Auszug ist entnommen:
G.K. Chesterton: »Pater Brown und das blaue Kreuz« Zürich 1980 (Diogenes Verlag), S. 29-37.
***
Nachdem er [d.i. Valentin, der Polizei-Detektiv] eineinhalb Minuten
lang gelauscht hatte, schnürte ihm ein höllischer Zweifel die Kehle
zusammen. Hatte er vielleicht die zwei englischen Polizisten nur
deshalb zu diesem Ödland einer nächtlichen Heide geschleppt, um zu
erkennen, daß ihr Unternehmen irrsinnig war, so irrsinnig, als wollte
man Feigen von Disteln pflücken? Denn die beiden Priester sprachen
haargenau wie Priester, andächtig, gelehrt, gelassen, sprachen über die
geheimnisvollen Spinngewebe der Theologie. Der kleine Geistliche aus
Essex redete einfacher, und sein rundes Gesicht war auf die
kraftspendenden Sterne gerichtet; der andere sprach mit gesenktem
Haupt, als wäre er nicht würdig, zu ihnen aufzublicken. Doch in keinem
weißen italienischen Kloster, in keiner schwarzen spanischen Kathedrale
hätte man ein unschuldigeres geistliches Gespräch vernehmen können.
Die ersten Worte, die an Valentins Ohr drangen, waren die letzten eines
Satzes von Pater Brown: »... was das Mittelalter in Wirklichkeit
meinte, wenn es die Himmel >unbestechlich< nannte.« Der große
Priester nickte mit gebeugtem Haupt und sagte: »Ja, ja, diese modernen
Ungläubigen wen-den sich an ihre Vernunft; doch wer könnte auf die
Millionen Welten über uns blicken, ohne zu fühlen, daß es dort sehr
wohl manch wunderbares Universum geben kann, in welchem Vernunft etwas
völlig Unvernünftiges ist?« »Nein«, erwiderte der andere Priester,
»Vernunft ist immer ver-nünftig, selbst in der letzten Vorhölle, in dem
verlorenen Grenzland der Dinge. Ich weiß wohl, daß viele Leute der
Kirche vorwerfen, sie erniedrige die Vernunft, aber in Wahrheit ist es
gerade umgekehrt. Die Kirche, sie allein auf Erden, gibt der Vernunft
ihre wirkliche Hoheit. Die Kirche, sie allein auf Erden, erklärt, daß
selbst Gott an Vernunft gebunden ist.« Der andere Priester erhob sein
strenges Gesicht zum funkelnden Himmel und erwiderte: »Und doch, wer
weiß, ob in jenem unendlichen Universum -?« »Nur physisch
unendlich«, erklärte der kleine Priester und wandte sich mit einer
heftigen Bewegung dem anderen zu, »nicht unendlich in dem Sinn, daß man
den Gesetzen der Wahrheit entrinnen könnte.«
Valentin, hinter seinem Baum, riß sich in stummer Wut fast die
Fingernägel aus. Es war ihm, als hörte er schon das Kichern der
englischen Detektive, die er, auf einen phantastischen Einfall hin, den
langen Weg hierhergeführt hatte, um jetzt dem metaphysischen Geschwätz
zweier sanfter Pfarrer zu lauschen. In seiner Ungeduld überhörte er die
nicht minder gelehrte Antwort des großen Priesters, und als er die
Worte aufs neue aufnahm, sprach grade wie der Pater Brown: »Vernunft
und Gerechtigkeit beherrschen noch das fernste und einsamste Gestirn.
Blicken Sie nur auf diese Sterne. Sehen sie nicht aus, als wäre jeder
einzelne ein Diamant oder Saphir? Gut. Sie können sich die irrsinnigste
Botanik oder Geologie vorstellen, die Ihnen beliebt. Denken Sie
meinetwegen an diamantene Wälder mit Blättern aus Brillanten. Denken
Sie, der Mond sei ein blauer Mond, ein einziger riesenhafter Saphir.
Aber geben Sie sich nicht der Täuschung hin, daß all diese tolle
Astronomie auch nur im geringsten die Vernunft und Rechtlichkeit
unseres Handelns ändern könnte. Auf Plateaus von Opal, unter Klippen,
aus Perlen geschnitten, würden Sie immer noch eine Tafel finden mit den
Worten: Du sollst nicht stehlen.« Valentin wollte sich grade aus seiner
steifen, kauernden Lage aufrichten und so leise wie möglich
wegschleichen, zerschmettert von der einen großen Dummheit seines
Lebens; aber irgend etwas in dem langen Schweigen des an deren
Priesters bestimmte ihn, noch zu warten, bis dieser sprach. Freilich,
als er es endlich tat, sagte er nur, mit gebeugtem Haupt und die Hände
auf den Knien: »Nun, ich bin nach wie vor überzeugt, daß andere Welten
sehr wohl die Grenzen unserer Vernunft übersteigen könnten. Das
Geheimnis der Himmel ist unergründlich, und ich für mein Teil kann nur
das Haupt neigen.« Dann sagte er, immer noch mit gesenkter Stirn und
ohne auch im leisesten Haltung oder Stimme zu wechseln: »Und jetzt
rücken Sie mit diesem Saphirkreuz heraus, verstanden? Wir sind hier
ganz allein, und ich könnte Sie in Stücke reißen wie eine Strohpuppe.«
Grade die völlig unveränderte Stimme und Haltung des Sprechers verlieh
der bestürzenden Wendung des Gesprächs merkwürdigerweise etwas
besonders Gefährliches. Doch der Hüter der Reliquie schien den Kopf nur
um eine winzige Nadelspur zu bewegen. Immer noch war sein etwas
törichtes Gesicht offenbar auf die Sterne gerichtet. Vielleicht hatte
er nicht verstanden. Oder vielleicht hatte er verstanden und war nun
starr vor Entsetzen. »Ja«, sagte der große Priester mit der gleichen
leisen Stimme und in der gleichen ruhigen Haltung, »ja, ich bin
Flambeau.« Und dann, nach einer Pause, fügte er hinzu: »Also, werden
Sie mir jetzt das Kreuz geben?« »Nein«, erwiderte der andere, und die
Silbe hatte einen seltsamen Klang. Flambeau warf plötzlich alles
priesterliche Getue über Bord. Der große Räuber lehnte sich auf seinem
Sitz zurück und lachte - leise, aber lang. »Nein«, rief er, »Sie werden
mir das Kreuz auch nicht geben, Sie stolzer Prälat! Sie werden es mir
nicht geben, Sie weltfremder Tropf! Und soll ich Ihnen sagen, warum
nicht? Weil ich es schon hier in meiner Brusttasche habe!« Das Männchen
aus Essex wandte im Dämmerschein sein etwas verdutztes Gesicht und
fragte mit dem ängstlichen Eifer einer naiven Schwankfigur: »Sind -
sind Sie sicher?« Flambeau jauchzte vor Vergnügen. »Wahrhaftig«, rief
er, »Sie sind so gut wie eine abendfüllende Posse! Jawohl, Sie
Kohlkopf, ich bin ganz sicher. Ich war nämlich so vorsichtig, ein
Duplikat Ihres Paketes zu machen, und jetzt, lieber Freund, haben Sie
das Duplikat und ich hab' die Juwelen. Ein alter Trick, Pater Brown -
ein sehr alter Trick!« »Ja«, sagte Pater Brown und strich sich, wieder
in seiner seltsam unbestimmten Art, übers Haar. »Ja, ich habe davon
gehört.«
Der gigantische Verbrecher beugte sich mit plötzlichem Interesse zu dem
kleinen Landpfarrer. »Sie haben davon gehört?« fragte er. »Wie haben
denn Sie davon gehört?« »Nun, ich darf Ihnen seinen Namen natürlich
nicht nennen«, erwiderte der kleine Mann einfach. »Er war ein
Beichtkind, Sie verstehen. Er hat zwanzig Jahre lang auskömmlich nur
von Duplikaten brauner Pakete gelebt. Und so, Sie verstehen, habe ich
gleich, als Sie mir verdächtig vorkamen, an die Methode jenes armen
Burschen gedacht.« »Ich Ihnen verdächtig vorkam?« wiederholte der
Verbrecher mit gesteigerter Neugier. »Hatten Sie wirklich genug Grütze,
Argwohn zu schöpfen, nur weil ich Sie zu diesem verlassenen Teil der
Heide führte?« »Nein, nein«, sagte Brown mit leiser Entschuldigung.
»Sehen Sie, ich schöpfte sofort Argwohn, als wir uns trafen. Sie
verstehen - wegen dieser kleinen Ausbuchtung oben am Ärmel, wo Leute
Ihres Berufs das Stachelarmband tragen.« »Ja wie, beim Tartarus«,
schrie Flambeau, »haben denn Sie jemals vom Stachelarmband gehört?«
»Oh, Sie verstehen - unsere kleine Herde!« sagte Pater Brown und zog
die Augenbrauen hoch. »Als Kurat in Hartlepool hatte ich drei mit
Stachelarmbändern. Und da Sie mir nun von Anfang an verdächtig waren -
Sie verstehen doch -, habe ich dafür gesorgt, daß das Kreuz auf keinen
Fall in Gefahr gerät. Ich habe Sie beobachtet - Sie verstehen -, und so
sah ich dann, wie Sie die Pakete vertauschten. Und dann - Sie verstehen
- habe ich sie zurückgetauscht. Und schließlich habe ich das richtige
im Laden gelassen.« »Im Laden gelassen?« wiederholte Flambeau, und zum
erstenmal klang aus seiner Stimme nicht nur Triumph.
»Nun, es war so«, erklärte der kleine Priester in der gleichen
natürlichen Art. »Ich ging zurück in jenen Zuckerbäckerladen und
fragte, ob ich nicht ein Paket dagelassen hätte, und dann gab ich der
Frau eine bestimmte Adresse an, für den Fall, daß es noch auftauchen
sollte. Ich wußte natürlich, ich hatte das Paket nicht dort gelassen,
aber jetzt, beim zweiten Mal, ließ ich es dort. Und so hat die Frau,
statt mit dem wertvollen Paket hinter mir herzurennen, es an einen
meiner Freunde in Westminster geschickt... Das habe ich auch«, fügte er
etwas betrübt hinzu »von einem armen Gesellen in Hartlepool gelernt. Er
pflegte das so mit Handkoffern zu machen, die er auf Bahnhöfen stahl -
aber er ist jetzt in einem Kloster. Oh, man erfährt das so, Sie
verstehen«, sagte er und strich sich wieder mit dieser
verzweifelt-entschuldigenden Geste übers Haar. »Es geht nicht anders,
wir sind nun einmal Priester. Die Leute kommen und erzählen uns diese
Sachen.«
Flambeau holte rasch ein braunes Paket aus seiner Innentasche und riß
es in Stücke. Nichts befand sich darin als Papier und etliche
Bleiklumpen. Mit einem Riesensprung war er auf den Beinen und schrie:
»Ich glaube es nicht! Ich glaube nicht, daß ein Tölpel wie Sie all das
fertigbringt! Ich bin sicher, Sie tragen das Ding noch bei sich, und
wenn Sie mir's nicht geben - nun, wir sind ganz allein, und ich werde
es mit Gewalt nehmen!« »Nein«, entgegnete Pater Brown und stand
gleichfalls auf. »Sie werden es nicht mit Gewalt nehmen. Erstens, weil
ich es wirklich nicht mehr habe. Und zweitens, weil wir nicht allein
sind.« Flambeau hielt in seinem Panthersprung
inne...
»Hinter jenem Baum«, sagte Pater Brown mit einer Handbewegung, »stehen
zwei kräftige Polizisten und der größte Detektiv unserer Zeit. Wie die
hierhergekommen sind, fragen Sie? Nun, ich habe sie natürlich
hergebracht. Wie ich das gemacht habe, möchten Sie wissen? Das will ich
Ihnen gerne sagen – mein Gott, wir müssen zwanzig malsoviele Schliche
kennen, wenn wir unter Verbrechern arbeiten wollen. Also, ich war nicht
sicher, ob Sie ein Dieb seien, und ich durfte natürlich nicht
riskieren, gegen jemanden aus unserem eigenen Klerus Skandal zu machen.
Deshalb stellte ich Sie auf die Probe, um zu sehen, ob Sie sich
vielleicht durch irgend etwas selbst verrieten. Nun, für gewöhnlich
macht man etwas Krach, wenn man Salz in seinem Kaffee findet; tut man
es nicht, dann hat man guten Grund, sich still zu verhalten. Ich
vertauschte Salz und Zucker – Sie verhielten sich still. Für gewöhnlich
erhebt man Einspruch, wenn die Rechnung dreimal zu hoch ist; zahlt man
trotzdem, dann hat man sicher den Wunsch, unbemerkt zu bleiben. Ich
änderte Ihre Rechnung - Sie zahlten.« Das Universum schien auf
Flambeaus Tigersprung zu warten. Er stand wie verzaubert; eine
unermeßliche Neugier betäubte ihn. »Nun«, fuhr Pater Brown mit
schwerfälliger Klarheit fort, »nun, da Sie keine Spur für die Polizei
zurücklassen wollten, mußte das natürlich wer andrer machen. Überall,
wohin wir kamen, sorgte ich dafür, daß man für den Rest des Tages von
uns sprach. Ich habe nicht viel Schaden angerichtet: ein Flecken an der
Wand, verstreute Äpfel, eine zerbrochene Scheibe. Aber so habe ich das
Kreuz behütet – wie eben das Kreuz immer behütet sein wird. Jetzt ist
es schon in Westminster. Ich war etwas überrascht, daß Sie nicht
versucht haben, mich durch die >Eselspfeife< zu Fall zu bringen.«
»Durch die - was?« fragte Flambeau. »Ich bin so froh, daß Sie nie davon
gehört haben!« sagte der Priester und sein Gesicht verklärte sich. »Es
ist eine faule Sache. Nein, Sie sind sicher ein zu guter Mensch, um ein
>Pfeifer< zu sein. Ich hätte freilich die >Eselspfeife<
nicht einmal durch den >Hartsprung< verhindern können; meine
Beine sind nicht stark genug.« »Ja, wovon in aller Welt reden Sie
denn?« fragte der andere. »Wahrhaftig, ich glaube, Sie wissen gar
nichts vom >Hartsprung<«, sagte Pater Brown, angenehm überrascht.
»Oh, das ist gut - dann sind Sie noch nicht sehr tief gesunken!« »Aber
woher, beim Tartarus, wissen denn Sie von all diesen gräßlichen
Dingen?« rief Flambeau. Der Schatten eines Lächelns umspielte das
runde, simple Gesicht seines geistlichen Widersachers. »Oh«, sagte er,
»vermutlich, weil ich ein weltfremder Tropf bin. Haben Sie nie daran
gedacht, daß ein Mann, der sich immer wieder von Berufs wegen andrer
Leute Sünden anhört, das Böse im Menschen wahrscheinlich einigermaßen
kennt?«
»Übrigens, noch eine andere Seite meines Berufs gab mir die Gewißheit,
daß Sie kein Priester waren.« »Was?« fragte der Dieb mit offenem Munde.
»Sie griffen die Vernunft an«, sagte Pater Brown. »Das tut kein echter
Theologe.«
Und als er sich nun abwandte, um seine Sachen zusammenzuklauben, kamen
die drei Polizisten aus dem Zwielicht der Bäume hervor. Flambeau war
Künstler und Sportsmann. Er trat einen Schritt zurück und machte eine
tiefe Verbeugung vor Valentin. »Verneigen Sie sich nicht vor mir, mon
ami«, sagte Valentin mit silberklarer Stimme. »Verneigen wir uns beide
vor unserem Mei-ster!« So standen sie einen Augenblick entblößten
Hauptes, während der kleine Priester aus Essex blinzelnd nach seinem
Regenschirm suchte. |
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