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Ein prachtvoller Raufbold des Herrn |
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"Ein prachtvoller Raufbold des Herrn"
Zum 60. Todestag des katholischen Schriftstellers G.K. Chesterton
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
"Die Tür tat sich nach innen auf, und ins Zimmer herein schlurfte eine
unförmige kleine Gestalt, die mit ihrem eigenen Hut und Regenschirm
ebensowenig fertig zu werden schien wie mit einem Haufen von Gepäck.
Der Schirm war ein schwarzes, unansehnliches Bündel und schon längst
nicht mehr reparierbar; und der Hut war der breitkrempige Hut eines
Geistlichen, jedoch in England unüblich, und der ganze Mann war die
Ingestalt alles Unscheinbaren und Hilflosen."
Diese einer Karikatur gleichende Gestalt ist der neben Sherlock Holmes
wohl weltweit berühmteste Detektiv: Father Brown, der katholische
Weltpriester, klein, rundlich, kurzsichtig und unscheinbar, den
Eindruck des harmlosen und Naiven erweckend, eine Aura von Wohlwollen
und Wärme um sich verbreitend, zugleich aber ein die Polizei und andere
professionelle Verbrecherermittler überflügelnder Kriminologe. Seine
Erfolge verdankt er in ebenso hohem Maße seiner unter dem Anschein des
linkischen Tölpels verborgenen Pfiffigkeit wie seiner seelsorglich
erprobten Kenntnis der Abgründe des menschlichen Herzens. Father Browns
Augenmerk richtet sich nicht so sehr auf den genauen Tathergang,
vielmehr auf die Gemütsverfassung und vermutlichen Antriebe des
unbekannten Täters (in keiner der kaum zu zählenden Father
Brown-Geschichten kommt eine Mörderin vor). Für den einfachen Priester
ist die detektivische Arbeit weder ein Steckenpferd noch zuvörderst ein
Beitrag zur staatlichen Strafgewalt. Nicht Neugier oder die Sucht,
andere durch seinen Verstand zu verblüffen, bewegen ihn, ungeklärte und
mysteriöse Kriminalfälle aufzuklären. In seinen Augen ist das
Verbrechen vor allem eine Sünde, eine Beleidigung Gottes; erst an
zweiter oder dritter Stelle rangiert seine gesellschaftliche und
juristische Bewertung als Delikt, als Bruch staatlicher Normen und
Widersetzlichkeit gegen manchmal ohnehin sehr fragwürdige soziale
Verhaltensregeln. Daher ist nicht die Aburteilung des Verbrechers das
Ziel, sondern die Rettung seiner Seele. Er trachtet, den Täter
ausfindig zu machen, um ihm die Möglichkeit der Reue und Umkehr zu
geben.
Der Schöpfer dieses durch gesunden Menschenverstand, christliche Demut
und psychologisches Einfühlungsvermögen sich auszeichnenden Detektivs
in der Soutane heißt Gilbert Keith Chesterton. Sogar diejenigen,
die nie etwas von ihm gelesen oder gehört haben, kennen seinen Father
Brown durch in Kino und Fernsehen vielgespielte Verfilmungen, in denen
Heinz Rühmann und der vor kurzem verstorbene Josef Meinrad die
Titelrolle verkörpern. Die erste der Geschichten, in denen der kleine
unauffällige Priester die Hauptgestalt darstellt, hat Chesterton im
Jahre 1911 veröffentlicht, die letzte einige Monate vor seinem Tode am
14. Juni 1936. Sämtliche sind zuerst in Zeitschriften, dann gesammelt
in fünf Büchern erschienen. Jede einzelne bietet uns zunächst ein
Rätsel, das auf den ersten Blick unentwirrbar ist. Dann wird eine
Lösung nahegelegt, die ebenso phantastisch wie monströs ist; und am
Schluß gelangt man zur Wahrheit, die sich als vernünftig erweist. Jede
einzelne der Geschichten ist ein Gleichnis und auch ein kleines Drama.
Die Personen sind wie Schauspieler, die auf eine im magischen Licht
schimmernde Bühne kommen. Der bis heute unverwelkte Reiz der
Erzählungen besteht nicht so sehr in dem Einfall, einen Priester zum
Helden einer profanen Geschichte zu machen, sondern in der Gabe des
Autors, mit Hilfe dieses Genres seinen überwiegend protestantischen
Landsleuten die katholische Religion und sogar die elementarsten
Grundsätze orthodoxer Theologie auf originelle Weise nahezubringen.
Sherlock Holmes kann mit vornehmen Frauen elegant parlieren. Doch was
ist dies schon gegen die geradezu mit Engelszungen sprechende
Hilfsbereitschaft des Seelsorger-Detektivs Father Brown, der einer
traurig dareinschauenden jungen Lady sich mit diesen einleitenden
Worten andient: "Nicht um Ihnen Kummer zu bereiten, nur um mich mit
genügend Kenntnissen auszurüsten, um Ihnen helfen zu können für den
Fall, daß sie aus freien Stücken um meine Hilfe bitten ..."?
Es versteht sich von selbst, daß für den von Papst Pius XI.
hochgeschätzten Konvertiten Chesterton das Wort "Orthodoxie" weder
intellektuelle Engstirnigkeit bedeutet noch, wie leider meist üblich,
als Synonym für die schismatische Ostkirche gilt. Eines Sinnes mit den
heiligen Kirchenvätern Hieronymus und Johannes von Damaskus, bezeichnet
Chesterton mit dem Ausdruck "Orthodoxie" nichts anderes als
Rechtgläubigkeit oder Glaubenstreue im Sinne unverkürzter Katholizität:
"Ich bin der Mann, der so kühn war, zu entdecken, was schon früher
entdeckt war. Nie hat es etwas Kühneres und Hinreißenderes gegeben als
Orthodoxie".
Häresie ist Einseitigkeit, Willkür und Amputation der Vernunft wie des
Glaubens. Orthodoxie bedeutet hingegen Ganzheit, Integrität, Fülle,
Adelung der Vernunft und gnadenreiche Offenheit für das Unergründliche.
Katholisch denkt man, indem man wirklich denkt: umfassend, sachgerecht
und im Einklang mit der Weisheit der Überlieferung. Katholisch zu
denken, heißt aber auch, sich nicht zu fürchten, in grundlegenden
Dingen der gleichen Ansicht zu sein wie eine analphabetische Hirtin des
fünfzehnten Jahrhunderts oder die einen sentimentalen Schlager
trällernde Büglerin um die Ecke. Katholische Orthodoxie oder orthodoxe
Katholizität ist einfach religiöse Normalität, welche die Kirche im
Dorf stehen läßt. Katholisch ist das Vertrauen in den gesunden
Menschenverstand, der, wenn wahrhaft gesund, ganz von selbst zu den
Vorhöfen des Mysteriums gelangt. Häresie ist vielleicht eine bunte
Hundehütte, Orthodoxie in katholischem Sinn jedoch ein Dom, der den
ganzen Kosmos umfaßt, eingeschlossen das Universum des menschlichen
Herzens und die selige Freiheit des Lebensspiels der Kinder Gottes.
Dies ist, kurz zusammengefaßt, die Botschaft des 1922 endgültig zur
katholischen Kirche übergetretenen Engländers. Er verkündet sie nicht
nur in seinem Buch "Orthodoxy" und in den Father Brown-Kurzgeschichten,
sondern allseits und allenthalben: in phantastischen Romanen, in
Essays, in Biographien, in Gedichten, Trinkliedern und Balladen, in
Zeitungsartikeln und gesellschaftskritischen Schriften. Er bekannte
einmal: "Ich habe mein Leben lang nichts getan als gepredigt, daß die
selbstverständlichen Wahrheiten auch wirklich wahr sind." Diesem
Streben lag zugrunde "die fast mystische Überzeugung von dem Wunder in
allem, was existiert, und von dem aller Erfahrung wesenhaft
innewohnenden Entzücken." In jenem Geiste schrieb er seine auch auf
deutsch erschienenen Bücher über Thomas von Aquino und Franziskus von
Assisi, seine antimodernistischen Kampfaufrufe "Was unrecht ist an der
Welt" und "Verteidigung des Unsinns, der Demut, des Schundromans und
anderer mißachteter Dinge", sein den Sieg des edlen christlichen Königs
Alfreds des Großen über die heidnischen Dänen teils balladesk, teils
visionär feierndes lyrisches Epos "Das weiße Roß", seine sowohl
kritischen als auch amüsanten Studien über Thomas Carlyle, Robert
Browning, Charles Dickens, William Blake und George Bernard Shaw, seine
Romane "Der Mann, der Donnerstag war", "Der Held von Nottinghill", "Das
fliegende Wirtshaus", "Manalive" ("Menschenskind") und "Die Wiederkehr
des Don Quijote". Was Goethe einmal von Lichtenbergs Schriften sagte,
trifft auch auf die Chestertons zu: "Wir können uns ihrer als der
wunderbarsten Wünschelruten bedienen: wo er einen Spaß macht, liegt ein
Problem verborgen."
Geboren 1874 als Sohn eines wohlhabenden protestantisch-liberalen
Hausmaklers, seit 1901 verheiratet mit Frances Blogg, einer der
schönsten und gescheitesten Frauen ganz Englands, fällt mehr als ein
Drittel von Chestertons Lebenszeit in die Epoche der Königin Victoria,
in eine Ära höchster imperialer Machtentfaltung und wirtschaftlichen
Wachstums, aber auch kultureller Verflachung, religiöser
Säkularisierung, grotesker Prüderie und heuchlerischer Doppelmoral. Es
war eine Welt, deren scheinbar vorurteilsfreie Elite einem mit dem
Perversen spielenden Immoralisten wie Oscar Wilde frenetisch Beifall
spendete, dann aber über ihn entrüstet den Stab brach, als zutage kam,
daß dieses Spiel für ihn nicht bloß Theater, Witz und Literatur
bedeutete. Es war eine Welt, die auf das Mittelalter als auf einen
düsteren, vernunftfeindlichen und freudlosen Abschnitt der
Menschheitsgeschichte herabblickte, dessen fossiles Überbleibsel die
katholische Kirche sei. Chesterton erkühnte sich, seinen Lesern ein
völlig anderes Mittelalter vorzuführen und ihnen einen Katholizismus zu
schildern, der sich als durchaus menschenfreundlich, vernünftig,
fröhlich, farbenfroh, großherzig und völlig unverklemmt erweist. In
seiner Apologetik zeigte er ihn als eine lebensnahe Religion, die
sowohl Genies als auch Einfältige anspricht; die das Ideal der
Jungfräulichkeit verkündet und zugleich das Geschlechtsleben
sakramental heiligt; die der Vernunft mehr zutraut als moderne
Rationalisten und Kritizisten; die zwar die Zauberei verwirft, jedoch
den Sinn für das Wunderbare, welches keine Hypothese wegzuerklären
vermag, unendlich bejahrt und kräftigt:
"Das Gras sprießt und die Bäume wachsen. Die Lüfte rauschen von
geflügelten Wundern und in türkisenen Meerestiefen regen sich stumme
Ungeheuer. Seltsame Geschöpfe bewegen sich auf der Erde mit vier Füßen,
und das allerseltsamste hält sich aufrecht auf zweien: das sind
Tatsachen; neben ihnen sind Atome, Evolution und sogar das Sonnensystem
bloß Hypothesen. - Solange wir das Geheimnisvolle gelten lassen, sind
wir gesund; sobald wir dem Geheimnisvollen ein Ende machen, geben wir
dem Krankhaften Raum."
Nur St. Franziskus selbst kann Chesterton diese dichterischen Sätze
eingegeben haben, die sich in dem Buch "Häretiker" (deutsch 1912)
finden: "Die Demut ist es, die unaufhörlich Himmel und Erde verjüngt.
Die Demut - und nicht das Pflichtgefühl - bewahrt die Sterne vor dem
Untergang, bewahrt sie davor, aus ihren Bahnen zu geraten. Die Demut
schafft uns die alten Sterne ewig neu und herrlich. Seit Anbeginn der
Zeiten haftet an uns der Fluch, der sichtbaren Wunder müde zu werden.
Die Demut aber versetzt uns immerzu in wunderbares Dunkel. Aus ihm
sehen wir die Herrlichkeit des Lichtes sich erheben. Ohne dieses Dunkel
können wir keine wahrhaft kindliche Freude über die Wunder der Natur
empfinden. Dem Demütigen allein ist die Sonne wirklich die Sonne, das
Meer wirklich das Meer. Wenn er auf der Straße die Gesichter der
Vorübergehenden erblickt, so bemerkt er nicht nur, daß diese Menschen
alle leben, sondern ihn erfüllt, eine fast dramatische Freude, daß sie
nicht tot sind."
T.S. Eliot hat einmal Chesterton maliziös nachgesagt: "Sein Gehirn
brodelt nur so von Gedanken; leider gibt es keine Anzeichen dafür, daß
er auch denkt." Dieses Urteil wirkt befremdlich, wenn wir nicht nur die
mit untadeliger katholischer Dogmatik durchsetzten Father
Brown-Erzählungen, son-dern vor allem auch die geistreichen Ideenromane
dieses Briten ins Auge fassen. Schlagen wir zum Beispiel "Der Held von
Nottinghill" auf, so finden wir hier seine bereits 1904 formulierte
Anklage gegen den modernen Trend zu Expertokratie, Sachzwang-Alibi,
Kult des Kolossalen und Weltuniformierung. Den gestürzten Präsidenten
eines "unterentwickelten" lateinamerikanischen Kleinstaats läßt er zu
einem zivilisationsstolzen europäischen Bürokraten sagen: "Wenn Sie
behaupten, Sie wünschen alle Völker zu vereinigen, dann meinen Sie in
Wahrheit, daß Sie alle Völker vereinigen wollen, um diese die Tricks
Ihres Volkes zu lehren. Wenn der arabische Beduine nicht lesen kann, so
muß zu ihm irgendein englischer Missionar oder Schulmeister geschickt
werden, um ihn lesen zu lehren. Aber niemand würde sagen: Dieser
Schulmeister kann nicht auf dem Kamel reiten, wir wollen einen Beduinen
bezahlen, der es ihm beibringen soll ..." Kein Wunder, daß gerade
dieses Buch vor etwa zwanzig Jahren zur Lieblingslektüre der britischen
"Grünen" geworden ist, die sich von denen Deutschlands in manchen
Hinsichten vorteilhaft unterscheiden.
Oder man greife zu Chestertons "Fliegendem Wirtshaus", in welchem Roman
ein Ire und dessen fröhlicher Gefährte, mit nichts als einem Rumfaß,
einem Käserad und einem Wirtshausschild bewaffnet, der alles
reglementierenden und planifizierenden Staatsmacht Widerstand leisten.
In der Prohibition erblickte Chesterton geradezu eine protestantische
Häresie mit totalitären Konsequenzen. Wer heute den Ausschank von Bier
und Wein mit gesundheitspolitischen Begründungen verbietet, wird morgen
oder übermorgen auch orthodoxe Bücher beschlagnahmen oder dem Bürger
Speisezettel, Körpergewicht und Schlafenszeit vorschreiben wollen.
Wohlfeile ideologische Rechtfertigungen, die sogar plausibel klängen,
ließen sich immer dafür finden. Jeder Sektierer, jeder desertierte
Mönch könnte sie spielend liefern. Der eßfreudige, trinkfeste und
wohlbeleibte Katholik Chesterton erklärte einmal herausfordernd, das
poetischste Wort sei "gemeinsame Wirtsstube". Im Trinker (der nicht mit
dem Alkoholiker zu verwechseln ist) verteidigt er den durstigen,
aufrührerischen, kämpfenden, unterliegenden, den sinnlichen, den
sehnsüchtigen, den glaubenden, den wirklichen Menschen gegen dessen
anmaßende Entmündiger, Betreuer und Schikanierer.
Daß Chesterton nur von Gedanken brodle, jedoch selbst nicht denke, ist
auch aus anderen Gründen ein unhaltbarer Anwurf. Wohl kein zweiter
Autor der ersten Jahrhunderthälfte hat so viele Bewunderer unter
Philosophen oder philosophisch belangvollen Literaten gefunden wie
Chesterton. Daß ihn entschieden katholische Denken wie Etienne Gilson,
Karl Pfleger, Aurel Kolnai, Josef Pieper, der Jesuit Joseph de
Tonquédec (1868-1962) und Amadeo Graf von Silva-Tarouca (1898-1971)
geschätzt haben, könnte man vielleicht noch als Ausdruck
konfessioneller Übereinstimmung bewerten. Aber wie erklärt es sich, daß
die 1932 erloschenen "Sozialistischen Monatshefte" über Chestertons
"Fliegendes Wirtshaus" sagen konnten: "Neben den hohen literarischen
Qualitäten, die den Leser fesseln, ist vor allem die Gesinnung
bemerkenswert, die, fern von jeder Enge, das Umfassende im
Katholizismus ahnen läßt?" Oder ist es vorstellbar, daß selber so
namhafte deutsche Autoren wie Annette Kolb und Heinrich Lautensack (und
in Frankreich ein Dichter vom Range Paul Claudels) sich jemals der Mühe
unterzogen hätten, einen Schriftsteller, der nicht denken konnte, durch
Übersetzungen bekanntzumachen? Der vielbewanderte österreichische
Essayist und Übersetzer Franz Blei bescheinigte Chesterton, er sei "der
witzigste europäische Schriftsteller seit Swift" und "eine große
ethische Energie". Der in religiösen Dingen agnostisch gesinnte Robert
Musil, dessen unvollendeter, wohl auch unvollendbarer Roman "Der Mann
ohne Eigenschaften" einige erstaunliche Abschnitte über mystische
Erfahrungen enthält, zögerte nicht zu gestehen, er habe Chesterton so
gelesen wie einst Stendhal den Code Napoléon, also als literarisches
Stimulans und stilistischen Kompaß. Der 1986 verstorbene argentinische
Lyriker, Erzähler und Essayist Jorge Luis Borges meinte, Chesterton
"hätte Kafka sein können", ein Schöpfer dämonischer Albträume. In dem
überaus umfangreichen Werk des Briten - rund hundert Bücher! - gäbe es
"keine einzige Seite, die nicht gelungen wäre." Er sei "ein
intellektueller Dichter." Am erstaunlichsten aber ist eine Bemerkung
des seltsamen Marxisten Ernst Bloch. Er nannte Chesterton einen "der
gescheitesten Männer, die je gelebt haben", dessen Paradoxa eine gute
Vorschule für Hegel-Leser seien.
In der Tat: Chesterton ist ein Meister brillanter Formulierungen, ein
Virtuose verblüffender Apercus, der mit seinen pradoxen Aussagen die in
der Wirklichkeit selbst enthaltenen "Paradoxien" bündig zu Wort kommen
läßt. Orthodoxie läßt sich nur in Paradoxien aussprechen, zumindest
gilt dies für die zentralen Mysterien des Christentums: Ein Gott - in
drei Personen; Christus - wahrer Gott und wahrer Mensch; Maria -
jungfräuliche Mutter; Brot und Wein - Leib und Blut des Erlösers.
Häresie ist von jeher Feigheit vor dem Paradox. Unfähig, das Mysterium
in seiner Ganzheit und Unergründ-lichkeit zu ertragen, nimmt Häresie
einen Bruchteil für das Ganze. Sie banalisiert das Geheimnis, in-dem
sie es "entspannt". Aus einer sowohl lockenden als auch bestürzenden
hyperdialektischen Zumutung an unsere Glaubenskraft wird seichte
Flachheit. Dies gilt für alle Häresien, handle es sich nun um den
Pelagianismus, den Arianismus, den Origenismus oder das, was heute in
Tübingen geboten wird.
Aufs Geratewohl führe ich einige der vielen funkelnden Paradoxa aus
Chestertons Bücher an: "Die Leute, welche Leitartikel schreiben, sind
immer hinter ihrer Zeit zurück, weil sie beständig in Eile sind. Sie
sind gezwungen, auf ihre altmodischen Ansichten über die Dinge
zurückzugreifen; alles, was in Eile geschieht, ist bestimmt überholt."
Oder dieses: "Die Freude, die die kleine Öffentlichkeit der Heiden war,
ist das große Geheimnis der Christen geworden." Oder auch dieses:
"Diejenigen, welche die Christen bezichtigten, Rom mit Feuerbränden in
Trümmer gelegt zu haben, waren zwar Verleumder; aber sie erfaßten die
Natur des Christentums viel richtiger als jene unter den Modernisten,
die uns weismachen wollen, die Christen wären ein moralischer Verein
gewesen und langsam zu Tode gemartert worden, weil sie den Menschen
erklärten, sie müßten ihre Pflichten gegenüber den Nächsten erfüllen,
oder weil ihre Milde sie ein wenig verächtlich gemacht hätte." Oder
auch diese Replik, die eine gerade bei Intellektuellen gängige
Auslegung des Marxismus kühn umdreht: "Wenn die Leute zu behaupten
beginnen, daß äußere materielle Umstände allein die moralischen
Bedingungen geschaffen haben, dann sind bereits alle Möglichkeiten
ernsthafter Veränderung vereitelt. Denn wenn mich meine Verhältnisse
völlig blöd gemacht haben - wie kann ich da gewiß sein, überhaupt ein
Recht zu haben solche Verhältnisse zu ändern? Eine soziale Revolution
kann es erst in dem Augenblick geben, in dem die Sache aufgehört hat,
rein ökonomisch zu sein." Oder diese Einsicht: "Wir sind nicht nur alle
im selben Boot, wir sind auch alle seekrank... Die Kirche Christi
gründet auf der Schwäche, deshalb ist sie unvergänglich." Von
Chesterton, der glücklich verheiratet war, stammen übrigens auch einige
bemerkenswerte Sätze über die Monogamie: "Ist nicht die unauf-lösliche
sakramentale Ehe letzten Endes eine Institution, die auch dem
Durchschnittsmenschen die Ehre erweist, beim Wort genommen zu werden?"
Als der Feminismus noch kaum seine ersten Geh-versuche unternommen
hatte, notierte er das Ergebnis: "Millionen Frauen erhoben sich und
riefen: Niemand wird uns mehr etwas diktieren! - Und sie wurden
Stenotypistinnen."
Chesterton, der einmal bekannte, schon Jahrzehnte vor seiner Konversion
zutiefst katholisch gewesen zu sein, verkörpert den äußersten Gegenpol
zum Typus des heute tonangebenden "Ökumenisten". Er hing der
Kirche nicht wie einer obskuren Sekte an, die es nötig hätte, bei
außer- und anti-christlichen Tagesströmungen unterwürfig um Gehör zu
betteln oder von ihnen durch "Dialog" zu lernen. Er fühlte sich nicht
irgendeiner Bindestrich-Christlichkeit verbunden, sondern der
Katholizität schlichthin, der Una sancta, außer der es kein Heil geben
kann. Glaubenstreue Christen dürfen ihn, der vor sechzig Jahren - am
14. Juni 1936 - in Beaconsfield vom Diesseits Abschied genommen hat,
getrost als einen der Ihren, als kampfgerüsteten Bundesgenossen
betrachten. In seiner ersten Detektivgeschichte - sie hat den
Titel "Das blaue Kreuz" - entlarvt der für einen Tölpel gehaltene
Father Brown einen als Priester verkleideten Gauner mit dem fast zu
einem geflügelten Wort gewordenen Ausruf: "Sie haben die Vernunft
beleidigt, das ist schlechte Theologie."
Womit sich der als "Raufbold Gottes" angesprochene Chesterton als
treuer Schüler des heiligen Thomas von Aquin zu erkennen gibt, als
Teilhaber der von der Kirche stets in Ehren gehaltenen Philosophia
perennis. Auf sie trifft zu, was dieser "Pamphletist des Ewigen im
Tagesjournalismus" von vortrefflichen Büchern gesagt hat: "Gute
Literatur ist vor allem dadurch nützlich, daß sie den Menschen hindert,
bloß modern zu sein."
***
Bücher von Chesterton (neuerere deutsche Ausgaben):
"Aphorismen und Paradoxa" Manz Verlag, München 1961
"Die besten Pater-Brown-Geschichten" ausgewählt u. übers. von Stefanie Kuhn-Werner. Reclam Verlag, Stuttgart 1993
"Das fliegende Wirtshaus" Droemer'sche Verlagsanstalt, München 1948
"Der Heilige Franziskus von Assisi" Herderbücherei, Freiburg i.Br. 1959
"Thomas von Aquin. Der Heilige mit dem gesunden Menschenverstand" Herder, Freiburg i.Br. 1980
"Die Rückkehr des Don Quijote" Matthes & Seitz Verlag, München 1992
"Der Held von Notting Hill" Roman. F.H. Kerle Verlag, Heidelberg 1981
"Father Brown" in drei Bänden. Haffmans Verlag, Zürich 1991
"Heitere Weisheit, ernste Späße. Ausgewählte Aphorismen" Übersetzt von Gisbert Kranz, Bredow Verlag, Moers 1988
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