Einleitung in das Leben Melanies
von
Léon Bloy
übersetzt und mit Anmerkungen versehen
von Christian Jerrentrup 1)
Widmung
Meiner allerliebsten Tochter Madeleine
Hier ist das Buch, das ich seit langer Zeit für Dich zurückgehalten
habe. Es ist eigentlich nicht von mir, denn ich habe darin ja nur die
Einleitung geschrieben. Aber weit jenseits dieser vergänglichen und
unbedeutenden Seiten, in die ich dennoch mein ganzes Herz hineingehängt
habe, wirst Du eine Seele erblicken, die erhaben und einfältig ist wie
der Himmel, die Seele jener Hirtin des Paradieses, als deren
demütigster Berichterstatter ich mich bezeichnen darf.
Da Du von Deiner Mutter vor Deiner Geburt der Unbefleckten Empfängnis
geweiht wurdest, wird Melanie Dich lehren, was die hl. Jungfrau in
Wahrheit war, mehr als ich es je vermag. Als Berge und Täler noch nicht
geschaffen waren, war sie die einzig Auserwählte, die eines Tages das
einzige Hilfsmittel Gott sein würde, der einzige makellose
Flecken im Dreck, wo der Erlöser seinen Fuß auf die Erde setzen konnte".
Nur dieser Gedanke, der täglich in Dir wächst, wird Dich heilig machen,
wenn Du es willst, und ich wage zu sagen selbst
wenn Du es nicht willst.
Die Unbefleckte Empfängnis ist Dein besonderer Abgrund. Jeder hat eben
seinen. Es ist der Abgrund von Licht, der für Dich bestimmt ist und dem
Du niemals entrinnen kannst, o Du glückseliges Kind meiner Qualen.
Am Fest des hl. Erzengels Michael, 1911.
Léon Bloy.
I
Ascende superius.2)
Von den Christen, die das Wunder von La Salette nicht ablehnen, könnte
keiner behaupten, daß die beiden Seherkinder etwas anderes sein konnten
als schwache Werkzeuge, ohne sich der absoluten Lächerlichkeit
preiszugeben.
Man hält es allgemein für ausgemacht, daß die beiden im Jahre 1846 zwei
plumpe, ungeschliffene Bauernkinder waren, die, wenn schon nicht
schwachsinnig, so doch ebendeshalb auserwählt wurden, damit sie umso
besser die Glaubwürdigkeit einer übernatürlichen Offenbarung vor Augen
zu führen.
Darüber hinaus gestand man Maximin im äußersten Notfall einen blassen
Schimmer von Intelligenz zu, ihm, der sein Geheimnis nie
veröffentlichte und deshalb in der Folgezeit weitaus weniger störend
war als seine Gefährtin. Die Geschichtsschreiberin der Anfangsjahre der
Wallfahrt, Mlle des Brulais, stellt ihn als kleinen Burschen mit
außerordentlicher Lebhaftigkeit dar, der manchmal, außerhalb seiner
eigentlichen Aufgabe als Berichterstatter reichlich lustige Einfälle
hat. 3) Aber nichts, rein gar nichts billigt man Melanie zu.
Sie sei eine arme Unschuldige, ein Trotzkopf, eigensinnig",
unfähig, auch nur irgend etwas von den oft sehr außergewöhnlichen
Antworten zu begreifen, die ihr von oben eingegeben werden. So hat sich
jene Mlle des Brulais über sie ausgelassen, gewiß ein fähiger Kopf,
aber eben eine Lehrerin wie aus dem Bilderbuch, zwanzigfach unfähig,
das Geheimnis dieser unerhörten Berufung zu erahnen.
65 Jahre später ist die ruhmreiche Melanie, nach ihrem Tod im Jahre
1904, verachteter denn je zuvor. Als der Vorwurf des Schwachsinns nicht
mehr zu halten war, hieß es: Anmaßung, Herumtreiberei, verbrecherische
Auflehnung, ... unsittlicher Lebenswandel. Priester, ja selbst
Bischöfe, die ihre erkalteten Herzen dieser wundersamen Jungfrau hätten
empfehlen sollen, haben sich im Gegenteil gegen sie zusammengerottet
4), einige bis zur tödlichen Raserei, um so die einzigartige
Wichtigkeit und unvergleichliche Vorherbestimmung ihres Opfers
kundzutun. Man findet sogar Geistliche, angeblich ehrenwert, die allein
der Name Melanies aus dem Gleichgewicht bringt und zum Zorne reizt.
Beinahe ist man versucht zu fragen, ob sich die Zahl dieser Irren nicht
vermehrt hat.
Wer die Geschichte der Hirtin eines Tages bekannt wird, wird man über
die unglaubliche Zahl ihre Verleumder erstaunt sein, die bis hin zur
Apostasie verstockt sind; und über Verzweifelte bis zum Tode in
Konvulsionen, verzweifelt allein deshalb, weil es da ein
außerordentlich demütiges Mädchen gibt, das man weder verurteilen noch
anschwärzen kann, ohne in der Seele erschüttert zu sein.
Diese Geschichte, die seit mehr als einem halben Jahrhundert mit
erstaunlicher Perfidie geheimgehalten wird 5) und beinahe völlig
unbekannt ist, gehört zu den Allertragischsten, zu denen, die einen am
meisten aus der Fassung bringen. Ich müßte eigentlich ihr Verfasser
sein und werde es vielleicht eines Tages auch. 6) Da mir die
unverzichtbaren Unterlagen verweigert wurden, 7) bin ich
nichtsdestoweniger durch besondere Gnade glücklicherweise imstande, die
von ihr selbst aufgezeichnete Geschichte der ersten Jahre ihres Lebens
zu veröffentlichen, um der Bitte einer ihrer Beichtväter nachzukommen.
II
Melanie war damals 69 Jahre alt, und man verlangte von ihr, auf
französisch zu schreiben, ein schwieriges Unterfangen. Da sie länger
als 25 Jahre in verschiedenen Gegenden Italiens gewohnt hatte und
natürlich italienisch sprach und dachte, konnte ihr Bericht nur eine
sehr einfache, mit unfreiwilligen Italienismen gespickte öbersetzung
sein. Da sie von der Schreibkunst genausoweit entfernt war wie von dem
Bestreben, irgend jemandem gefallen zu wollen, ist ihre sehr einfach
gehaltene Erzählung dergestalt außerordentlich, daß es in der
Geschichte aller Heiligen sicherlich keine vergleichbare Autobiographie
gibt. Die Autobiographie eines Kindes!
Denn Melanie ist dafür wieder ein kleines Kind geworden. So reif und
erwachsen sie in ihrem Briefwechsel als Frau ist, wenn sie die Welt
betrachtet, so hört sie auf zu wissen, daß es die Welt wirklich gibt.
Sie weiß davon wirklich nichts, sie weiß nicht einmal, was sie damit
anfangen soll. Sie ist drei, vier, zwölf Jahre alt, und ohne es zu
wollen, drückt sie sich in ihren Antworten wie ein Kind dieses Alters
aus. Sie weiß nichts von bürgerlichen Gesetzen, nichts von anderen
Menschen oder Dingen um sie herum. Sie ignoriert vollständig alles mit
Ausnahme des Jesuskindes, das für sie allein sichtbar ist und dem sie
sich durch Leiden angleichen muß. Sie ist eingetaucht in eine
lichtvolle Unwissenheit.
Als der Pfarrvikar von Corps ihr den Katechismus beibringen wollte, so
erzählt sie, habe sie nichts davon verstanden, da die Worte für sie
keinen Sinn machten. Der Buchstabe tötete sie.
Man stelle sich eine Bewohnerin des Paradieses vor, die gezwungen ist,
auf der Erde zu leben: ein kleines Lebewesen, beschlagnahmt und
beiseite geschafft in den Abgründen des Lichts. Durch Eingebung ist sie
mit der erhabensten Theologie ausgestattet und gleichzeitig erhält sie
den unbegrenzten ausdrücklichen Befehl, ein Nichts zu sein; von Jesus
in personam unterwiesen, den sie fast täglich in der Gestalt eines
Kindes sah und den sie vertraulich ihren kleinen Bruder" nannte;
von ihm wieviele Male! in die unvorstellbaren
Gefilde des Himmels entrückt; stigmatisiert seit dem dritten
Lebensjahr, und ohne es zu wissen, die Wunder der größte Heiligen zu
wirken, wie andere atmen; man stelle sich vor, diese kleine Hirtin aus
der Dauphiné, die von den Höhen der himmlischen Liturgie kam, über
Anfangsgründe befragt von einer Seele von Priester, der ihr in
Wirklichkeit genauso entfernt war, daß er für sie der Feuerofen dieses
gewaltigen Sternes sein konnte; eines Sternes, der noch kaum sichtbar
war, auf dem sich seit Jahrtausenden unser Sonnensystem, so versichert
man, herabstürzt!...
Man schickte mich zum Holz sammeln", sagte sie. Damals sah
sie die Schöpfung der Engel ohne Zahl, die Auflehnung eines
großen Teils davon, die Erschaffung von Adam und Eva und ihr Fall ..."
Was soll man mit einem solchen Kinde anstellen! Sie war gerade geboren
und wurde schon von der Mutter gehaßt. Dieser sonderbare, übersteigerte
und gespensterhafte Haß, den die Erzählerin aus Gehorsam
gezwungenermaßen wiedergibt und ihn gleichzeitig entschuldigt; diese
plötzliche und völlige Ablehnung eines Wunschkindes vor seiner Geburt
war selbst eine Art Wunder, daß nur durch eine unfaßbare Vorausahnung,
die diese Mutter von der übernatürlichen Bestimmung ihrer Tochter
gehabt hatte, erklärt werden kann. 8)
Unwissend und ungebildet wie eine Barbarin, die sie war, mußte eine
solche Vorausahnung, wenn es sie gegeben hätte, sie närrisch und
niedergeschlagen machen vor Schrecken, vor Entsetzen niederdrücken.
Dunkel ahndend mußte sie annehmen, daß diese Tochter aus ihrem Fleische
zu ihrer Verzweiflung von einem Teufel gezeugt und gebildet sei... Das
ganze Leben Melanies war eine Fortsetzung dieses Entsetzens und
Schreckens, und jetzt, da sie nicht mehr da ist, dauert das noch an, da
die christliche Gesellschaft sie als Rabenmutter hingestellt hat wie
ihre Mutter.
Man kann nichts Erschütternderes lesen als den Schrei dieser
Verlassenen von drei Jahren, der ihr kleiner himmlischer Bruder, der
plötzlich aufgetaucht war, eine Mama versprach. Eine
Mama!", rief sie weinend, ich habe doch eine Mama!" Ihre Mutter
hatte sie zuvor, wie so oft in der Folge, vor die Türe gesetzt, mitten
in der Nacht, in strömendem Regen!...
Ich wiederhole, sie war drei Jahre alt und konnte kaum laufen. Sie übte
laufen lernen in einem Wald und verbrachte dort Tage und Nächte, ganze
Wochen, genährt nur von dem, was ihr ihr wunderbarer Bruder brachte,
ohne daß jemand sie sehen oder wahrnehmen konnte, da sie unsichtbar und
unberührbar war, und in Wohnstätten gebracht, von denen der hl. Paulus
nicht zu sprechen wagte.
Als sie wieder ins Elternhaus zurückkam, bezog sie von ihrer Mutter
fürchterliche Prügel, die nicht wollte, daß sie die Schwester ihrer
Brüder sei, von denen die Mutter verlangte, daß sie sie nur als die
Stumme, als Wolfskind und Wilde beschimpften, und die sie so oft gleich
aus dem Haus warf, sobald die Abwesenheit des Vaters das erlaubte. Es
bedurfte eines Wunders, damit dieses Mädchen nicht starb.
Sie war ungefähr sechs Jahre alt, als man aus ihr eine Hirtin im
Dienste von Fremden machte, um sie loszuwerden. Damals begannen neue
Wunderzeichen, wie man sie in Wahrheit erwartet bei einer so noch nie
dagewesenen dauerhaften Heiligen, so außerordentlich Begünstigten. Es
würde vielleicht genügen, den unerhörten Ort zu benennen, wo sie die
Besuche erzählt, den ihr die Tiere des Berges abstatteten:
... Manchmal, besonders wenn der Schnee die Gipfel der Berge
bedeckte, suchten die Wölfe, Füchse und Hasen zu fressen. Also
verteilte ich mein Brot unter ihnen, und diese wilden Tiere waren
zufrieden; dann erzählte ich ihnen vom Guten Gott; verehrter, lieber
Pater, ich kann mich schwer erinnern, was ich ihnen sagte; ich weiß,
daß sie mich mehrfach beschämten durch ihren Gehorsam, mich, einen
Wurm, von dem sie nichts erwarteten. Ich erzählte diesen Tieren ihre
Schöpfung durch das allmächtige Wort des ewigen Gottes, wie mich mein
lieber Bruder unterrichtet hatte, und ich ermunterte sie, überall ihre
Nahrung zu suchen, ohne den Menschen Nachteile zu verursachen, die ja
ihre Herren und Könige sind, weil sie nach dem Bilde Gottes erschaffen
sind durch die Kräfte ihrer Seele, und weil sie die Abbilder Jesu
Christi sind durch ihre Körper usw. usw.
An erster Stelle kam alle Tage ein Wolf, und ich unterrichtete ihn, so
gut ich konnte. Das gefiel mir unterdessen nicht sonderlich, weil der
Wolf nicht wie ein Mensch sein Interesse oder Desinteresse zeigen kann.
Er diente mir in einer Art und Weise, daß ich manchmal am liebsten laut
herausgerufen und alle Menschen der Erden eingeladen hätte, den
göttlichen Heiland Jesus zu loben, zu lieben und zu verherrlichen, der
uns unendlich geliebt hat und sein Leben gegeben hat, um uns zu retten.
Bald vermehrte sich die Anzahl der Wölfe, der Füchse und Hasen; kleine
Gemsen und ein Schwarm Vögel kamen jeden Tag, und mangels Menschen, zu
denen man vom Guten Gott sprechen konnte, predigte das Wolfskind ihnen;
abschließend sang man das Lied Goutez, Émes ferventes..." Alle
gaben Anzeichen großer Andacht und neigten bei den heiligsten Namen
Jesu und Mariae das Haupt.
Die Wölfe kamen zu bestimmter Stunde; die Füchse ebenso wie die Hasen,
Gemsen und Vögel. (Eine Schlange kam auch, wurde aber wieder
vertrieben). Nach der Ankunft nahm jedes der Tiere die ihm zugewiesene
Stelle ein und lauschte. Nachdem sie den Schluß gehört hatten, der
ungefähr lautete Ist nomen Domini benedictum!", spielten sie
verrückt. Vor allem die Füchse spielten ihren Brüdern Wölfen Streiche;
sie bissen sie in die Ohren, in den Schwanz; sie gaben den Hasen Tapser
mit ihren Pfoten und ließen sie rumkugeln. Sie zogen die kleinen Gemsen
an ihren kleinen Schwänzen nach hinten, usw. Als ich ihnen befahl, sich
zurückzuziehen, verschwanden alle..."
Man glaubt, die Fioretti zu lesen, aber wieviel anderes darüber hinaus!
Ich widerstehe der Versuchung nicht, ein völlig anderes Wunder
anzuführen, dessen biblischer Charakter mich stark beeindruckt hat: "Als ich eines Tages ein Stück gegangen war, um meine Kühe zu
weiden, entlud sich gegen Nachmittag ein starkes Gewitter. Donner
grollten unaufhörlich mal von der einen, mal von der anderen Seite; der
Regen goß in Strömen. Ich nahm mit meinen Kühen den Weg zum Dorf hin.
Ich hätte gewollt, soviel abertausend Akte des Lobes und der Liebe zu
meinem lieben Jesus zu erwecken, wie Tropfen fielen. Als ich an eine
bestimmte Stelle kam, hatten meine Kühe haltgemacht und wollten zurück;
der Bach war gewaltig angestiegen; er lag zwischen zwei Bergen, die ihn
mit Wasser versorgten. Zu Zeiten gewöhnlichen Regens konnte man ihn
überqueren, indem man große Steine in den Fluß rollte und von Stein zu
Stein ging; und auch die Tiere konnten ihn ohne große Schwierigkeiten
überqueren. An jenem Tage war das nach menschlichem Ermessen unmöglich.
Das Wasser war sehr tief, stürzte mit Getöse zu Tal, riß Steine, Felsen
und Bäume mit sich und war schlammig; ich war in ziemlicher Not. Ich
sah, daß meine Tiere litten und verschreckt waren. Ich wandte mich an
meine Mutter und schilderte ihr meine Furcht. Denn meine Tiere gehörten
mir nicht, und wenn ihnen etwas zustieße, müßte ich vor Gott
Rechenschaft über sie ablegen. In einem Augenblick sah ich meinen guten
Bruder nahe bei mir, der mir sagte: Meine Schwester, habe keine
Angst, komm". Alsbald ließ ich meine Kühe von dem reißenden Bach
zurückkehren, dann kam ich nahe ans Wasser, und mein kleiner Bruder
erhob seinen Arm über den Sturzbach. Er machte etwas wie ein großes
Kreuzzeichen, und augenblicklich blieb der Bach wie abgeschnitten auf
der Seite stehen, wo es talwärts ging. Mein Bruder sagte mir:
Komm, meine Schwester." Ich sagte ihm, Warte, mein Bruder, damit
ich meine Kühe schnell passieren lassen kann; und auch Du, mein Bruder,
geh schnell hinüber; gehen wir gemeinsam!", und wir gaben uns die Hand.
Wir hatten völlig den Fluß überquert und waren an der anderen Seite
angekommen, als ich meinen lieben Bruder nicht mehr sah. Als der
Sturzbach sich teilte, endete der Lärm und das Getöse plötzlich, um
erneut wiedereinzusetzen, als wir ihn überquert hatten."
Ich hatte es oben erwähnt, und es ist wichtig, das nicht zu vergessen:
Melanie schrieb diesen Bericht aus Gehorsam und völlig gegen ihren
Willen nieder. Man darf deshalb nur das Allernotwendigste annehmen, d.
h. sie hat freiwillig oder unfreiwillig eine Menge von entsprechenden
Tatsachen ausgelassen, die sie als nebensächlich oder einfach als
vernachlässigbare Wiederholungen betrachtete.
Bemerkenswert ist außerdem ihre unglaubliche Einfachheit, die soweit
ging, den Unterschied der Geschlechter nicht zu kennen, selbst als sie
eine alte Frau geworden war eine Unwissenheit, die selbst
eine Art Wunder war , diese Einfachheit, die man engelsgleich
nennen kann, erlaubte ihr nicht immer, in den zufälligen
Angelegenheiten Natürliches von öbernatürlichem zu trennen. Anders
gesprochen, sie konnte und mußte als gewöhnliche Wirkung ansehen, was
für andere Anlaß zu unsäglichem Staunen und Bewunderung gewesen wäre.
Sie sah und fühlte in Gott; sie war gezwungen, durch Gott
hindurchzugehen, wenn man so sagen kann, eine dreifache Trennwand aus
Licht zu durchdringen und zu dem sensiblen Punkt zu kommen, die für sie
ebensowenig unterscheidbar waren wie die armseligen Möbel des
Arbeiters, als er verblendet von der großen Sonne der Ernte kam. Das
ist besonders bemerkenswert, als ihr Beichtvater sie nach Einzelheiten
von bestimmten Wunderheilungen befragte, und vor allem, als sie über
ihre Stigmata sprechen mußte, die sie damals für als für jedem Christen
gewöhnlich ansah ohne Ausnahme Wenn der gute Gott alles macht,
was er will, bin ich davon nicht die Ursache", sagte sie. Das genügte
ihr, für immer.
Wie sind hier bei mehreren Milliarden von Orten des kleinen
Bauernmädchens, das nach der Legende dumm und unwissend ist. Das Ziel
der vorliegenden Veröffentlichung ist es, aufzuzeigen, was sie in
Wahrheit war: ein Wunder an Heiligkeit unter nichtswürdigen éußeren,
unwissend in allem, was Menschen sie lehren können, voll unerhörter
Weisheit in dem, was Gott allein zu lehren vermag.
Die berühmte Erscheinung, für sie alles andere als eine Neuigkeit, war
das notwendige, von Gott gewollte Ergebnis des ganzen inneren und
zutiefst verborgenen Leben eines kleinen Kindes, das die höchsten
Stufen der Mystik überschritten hatte und das man für den Dreck am Wege
hielt.
III
Jesus ist aus Maria hervorgegangen wie Adam aus dem irdischen Paradies,
um zu gehorchen und um zu leiden. Maria ist also dargestellt durch den
Garten aller Lust, von Gott gepflanzt im Anbeginn...". Das zweite
Kapitel der Genesis ist völlig unbegreiflich, wenn man nicht an Maria
denkt. Wahrlich, alles ist unbegreiflich ohne Sie. Aber wieviele Male
hier mehr!
Dieser Garten, der seit dem Ungehorsam zur Trübsal oder Verzweiflung
unzähliger Milliarden von Menschen verschlossen ist, hortus conclusus,
9) war der Abschluß der Zeugungen des Himmels und der Erde",
gemäß der überaus geheimnisvollen Ausdrucksweise der Heiligen Schrift.
Es war ein wunderbarer Garten, in dem es niemals regnete. Eine Quelle
stieg aus der Erde hervor, um alles zu bewässern, und noch vor
jeglicher Erdbeschreibung entsprang ein Fluß dem Paradies, um alsbald
zu vier großen Flüssen zu werden, deren Namen Klugheit, Mäßigkeit,
Schnelligkeit des Geistes und Fruchtbarkeit bedeuten oder zu bedeuten
scheinen, um mit den hervorragendesten Exegeten 10) zu sprechen. Man
muß glauben, daß in diese vier Namen auf eine Art und Weise, die kein
Mensch begreifen kann, die Berufung Mariens eingeschlossen ist:
Königin, Jungfrau, Braut des Heiligen Geistes, Mutter Gottes.
Anbetungswürdige Gemeinplätze! Es ist nichts zu finden, was darüber
hinausginge. Darüber, darunter, rechts und links, in die Unendlichkeit,
es ist nichts zu erkennen. Wir können gut wissen, daß Gott unser Ziel
ist; wie könnten wir außer Maria einen solchen Gedanken auch nur bilden?
Unser Geist kann Gott nur durch Maria erfassen, genau so wie der Sohn
Gottes nicht geboren werden kann außer durch das Wirken des Heiligen
Geistes in ihr. Die menschliche Sprache ist hier von einer solchen
Ohnmacht, daß alle Worte Furcht einjagen können. Die Unbefleckte
Empfängnis Mariens, die uns unsagbar von ihr trennt, ist trotzdem der
einzige Berührungspunkt. Durch die Unbefleckte Empfängnis konnte Gott
seinen Fuß auf die Erde setzen. Sie ist die einzige Pforte, durch die
er aus dem Garten aller Lust entweichen konnte, der seine Mutter ist,
und den tausend Jahrhunderte der Seligkeit uns nicht begreifen lassen
könnten.
Man müßte wissen, was Adam und Eva waren, was die Pflanzen und Tiere
dieses Gartens waren, was der Ungehorsam war und was er gekostet hat.
Man müßte einmal alles auslöschen, was die Menschen seit 70 oder
beinahe 80 Jahrhunderten gedacht haben können, damit eine Tatsache, ich
will nicht sagen offen vor Augen liege oder auch nur von weitem
wahrgenommen, eher vielleicht geahnt werde, am ehesten aber etwas wie
Herzklopfen hervorrufe, die Tatsache nämlich, daß zwar alles für immer
verloren war wie bei den gefallenen Engeln, trotzdem aber, da ein
Tropfen des göttlichen Saftes aufbewahrt wurde, gerade so viel, wie es
bedurfte, um Milliarden Welten zu retten, gerade so viel, daß sich am
Ende diese Blume entfalten konnte, die schöner ist als die Unschuld und
die die Christen, ohne irgend etwas zu begreifen, die Unbefleckte
Empfängnis nennen, Maria selbst, der wiedererlangte erhabene Garten.
Dennoch, kaum wage ich es zu sagen, war noch nichts getan. Dieser
Garten, der seit so langem wegen des Ungehorsams des ersten Menschen
verschlossen war, mußte sich öffnen, um den letzten der Menschen
auszutreiben, einem Wurm ähnlich, der allen anderen loskaufen sollte.
Dafür genügte der Gehorsam Mariens nicht, ich habe Angst,
das zu schreiben. Es bedurfte der Ungeduld und des Schmerzes aller
Jahrhunderte, der Ungeduld und der Schmerzes, die Sie in sich
hineingenommen hatte.
Die Unbefleckte Empfängnis war nicht genug, um der Welt zum Heil zu
verhelfen. Erforderlich waren die Ungeduld und der Schmerz der
Unbefleckten Empfängnis.
Begreifen können wir selbstverständlich nichts. Unterdessen ist es
möglich, sich eine Erde vorzustellen, die völlig allen Mächten der
Finsternis überlassen ist, ein trostloses Menschengeschlecht, das sich
Tag für Tag vermehrt und mit jeder Generation immer mehr verkommt.
Trotzdem und durch all dies hindurch dringt ein ganz schmaler
leuchtender Strahl, ein Schimmer Licht, den nichts zerstören konnte.
Die Unbefleckte Empfängnis, die Zeitalter und Völker durchdringt bis
zur wunderbaren Stunde, selbst den obersten Engeln unbekannt, in der
sie sich offenbaren sollte in Maria, voll der Gnaden, ohne Erbmakel
empfangen, unter der Goldenen Pforte. Wie soll man sich ein solches
Geschöpf überhaupt vorstellen, ohne das unendliche Gefolge von Klage
und Trauer des ganzen Menschengeschlechts, dessen einziges lebendes
Reis sie ist?
Man weiß aus der öberlieferung, daß unsere Mutter Eva durch die
Jahrhunderte unbegrenzte Buße für alle kommenden Völker tat. Maria ohne
Sünde übernahm das ganze Erbe dieser Buße und machte daraus, was Sie
konnte, das heißt einen Schmerz, wie es keinen Schmerz auf der Welt
gibt, den Schmerz aller Geschlechter, aller Menschen, aller Herzen,
aller Geister, selbst die Schmerzen der Dämonen und Verdammten, wie
einige Seher sagen. Eine solche Unendlichkeit von Klagen und Qualen in
einer unendlichen Seele mußte mit einer streng entsprechenden Ungeduld
auf die Ungeduld der Erlösung zurückwirken, die die mystische Theologie
der Zweiten Göttlichen Person zuschreibt.
Als am Tage der Verkündigung der Erzengel Gabriel an die Pforte des
verlorenen Paradieses klopfte, hätte es gut sein können, daß diese
Pforte sich nicht öffnete. Es ging ja darum, den Sohn Gottes in das
Fleisch des Menschen zu schicken und in den Tod. Aber die Ungeduld war
stärker als alles, und die Tür öffnete sich auf jene Antwort der
Schmerzensreichen: Fiat mihi secundum Verbum tuum. 11) Unglückselige
Welt, keinen Tag mehr wirst du leiden!
IV
Ein Freund Gottes schrieb mit eines Tages diesen herrlichen Satz: "Du schreibst in Die, die weint vom "offensichtlichen"
Scheitern der Erlösung. Und in der Tat, wenn man die Geschichte des
christlichen Volkes betrachtet... Nun gut! Nein, die Antwort ist
einfach; die Erlösung ist vollständig gelungen dergestalt, daß es Gott
und den Menschen ewig genügt. Die Menschheit und die Schöpfung sind
gemäß der ganzen Vollkommenheit des göttlichen Willens mit Gott
vereinigt worden. Und dieses vollständige und offenkundige Gelingen der
Erlösung, das ist die hl. Jungfrau.
Deshalb brauchte Gott Sie. Sein Blut sollte nicht unnütz vergossen
werden. Danach konnte alles kommen: Verbrechen, Schismen, Lügen,
Unzucht, Abscheulichkeiten und selbst Unvollkommenheiten
und Treulosigkeiten bei den Heiligen. Die Erlösung ist auf den ersten
Schlag gelungen, ein für alle Mal. Die hl. Jungfrau antwortet auf
alles, gleicht alles aus, hat mehr Gewicht als alles."
Das ist integrales Christentum, absolut, in seiner Pracht. Ohne Zweifel
ist die hl. Jungfrau, so gedacht, nie vorstellbar. Währenddessen weint
Sie in La Salette, Sie, die alle Geschöpfe selig preisen sollen. Sie
weinte, wie nur Sie weinen kann. Sie weint unendliche Tränen über all
unsere Verfehlungen und Sie hat sie uns ja
aufgezählt und weint über jede einzelne. Sie wird also
davon getroffen, noch im Schoße ihrer Seligkeit. Der Verstand faßt das
nicht. Eine Seligkeit, die leidet" und die weint! Ist es möglich,
das zu begreifen?
Wenn irgend etwas fehlt, o Maria, sag es uns. Sag es deinen
Armen. Sie allein sind reich genug, es Dir zu geben. Du brauchst daher
mehr als Alles, weil man versichert, daß alles Die gegeben wurde. Du
bist die Mutter von dem, den alle Aussätzigen versinnbildet haben, von
dem die Propheten gesagt haben daß er ein Wurm sei und kein Mensch,
eine Schande, ein Auswurf, und von dem die Apostel Kehricht genannt
wurden. Deshalb ist Dein Platz wunderbarerweise höher als der der
Engel. Was brauchst es mehr?
Ah! Hier bin ich jetzt. Die Schande des Wortes genügt Dir nicht. Du
brauchst die Schande der Liebe. In einer Art und Weise, die kein Mensch
erraten kann, brauchst Du die Passion des Hl. Geistes, der jede Kreatur
wie in einem Feuerofen umwandeln muß. Bis dahin herrscht Du nicht, Du
verwirklichst nicht das Reich des Vaters, das nichts anderes sein kann
als Du selbst, und daß Du sehr wohl gezwungen bist zu warten, weil wir
ja schließlich die Pflicht haben, täglich darum zu bitten. Man erbittet
nichts, worauf man ein Anrecht hat.
Dein hl. Johannes, zu dem Gott mehr als zu anderen Menschen gesprochen
zu haben schien, hat er nicht gesagt, daß es Drei sind, die da Zeugnis
geben auf Erden, der Geist, das Wasser und das Blut, und daß diese Drei
der Trinität entsprechen? 12) Das ist genau sein Text. Ist es nicht so,
daß das die drei Sintfluten für die Erlösung unentbehrlich macht. Die
alte Sintflut war aus Wasser, die Sintflut aus Blut, die noch nach
neunzehn Jahrhunderten nicht endet, und die Sintflut aus Feuer, die von
so vielen Vorboten angekündigt, kommen wird.
Das Reich des Vaters, den er reut, die Menschen geschaffen zu haben,
das Reich des Sohnes, der mit dieser göttlichen Buße beladen ist, und
das allgemeine Reich der Liebe, durch die alles neu werden muß. Ecce
nova facio omnia. 13)Aber auf welche Weise und um welchen Preis? Du
weißt es ohne Zweifel, bist Du doch der "Sitz der Weisheit" 14), ja die
Weisheit selbst, und deshalb weinst Du.
Du weißt als einzige unter allen Geschöpfen, daß es da auf dem tiefsten
Grund des Himmels einen schrecklichen Brunnen gibt genau
jene Quelle, die aus der Erde in der Mitte des Paradieses
entsprang , ein Reservoir, das durch Deine Tränen unendlich
verborgen ist, und von wo aus wahrscheinlich bald die keines Traumes
und keiner Schutzhülle fähigen Schmach des Parakleten ausgehen muß,
durch die Du letztendlich triumphieren wirst.
Es geschah vor beinahe zweitausend Jahren, daß Du die Mutter des
Schmerzes wurdest, ja Du wurdest genötigt, die Braut der Schmerzen zu
werden. Man sieht Dich, weinend vor diesem Verlangen, auf den Bergen,
zwischen den Felsen, inmitten von Landstrichen, die von armen Leuten
bewohnt werden. Dein unvorstellbar erhabenes und heiliges Antlitz
strömt von all den Tränen, die die Hochmütigen nicht zerstreuen wollen,
die Reichen, die Berauber der Armen, die Mörder der Unschuldigen, die
Sakrilegien und Schamlosigkeiten...
Im Jahre 1846, als Du jenes erregte Ich kann den Arm Meines
Sohnes nicht länger zurückhalten" sprachst, kamst Du, um Deine Not dem
einzigen Geschöpf anzuvertrauen, das fähig ist, Dir zuzuhören und Dich
zu verstehen, diese demütige Melanie, die von Dir auserwählt wurde,
weil sie das niedrigste aller Geschöpfe zu sein schien, und Du
vertrautest ihr ein Geheimnis an, das Du nicht mehr länger alleine
tragen konntest, Du, die Du ohne irgend welche Hilfe den Sohn Gottes
getragen hast.
Zwölf Jahre später hast Du Dich wieder einer Hirtin geoffenbart, aber
ohne ihr Deine großen Tränen zu zeigen, von denen die Christen nichts
wissen wollten, und ohne ihr jenes fürchterliche Geheimnis
anzuvertrauen, mit dem Du die erste Hirtin beauftragt hattest, es unter
die Leute zu bringen und zu verbreiten. Wieviele Male vergeblich!
Lourdes, vorausgesehen und von Dir in La Salette angekündigt, war eine
noch heroischere Anstrengung, eine Verkleidung Deines Schmerzes, so wie
eine Mutter, die den Tod vor Augen hat, sich in Festgewänder hüllt, um
ihre Kinder zu beruhigen.
Wieder verstrichen etwas mehr als zwölf Jahre, und es kam jenes
furchtbare Jahr, das man das Schreckensjahr nannte. Frankreich, vom
Pöbel mit Füßen getreten, rang die Arme. Ein letztes Mal erschienst Du
armen Kindern in einer ganz rätselhaften Weise. 15) Du entrolltest
seltsame Bilder von Dir selbst, die begleitet waren von einer Schrift
aus knappen und nur angedeuteten Worten, die ebensogut ein öbermaß an
Drohung wie ein öbermaß an Verzeihung bedeuten können.
Und das war es dann. Man hat seitdem von Dir nichts mehr vernommen. Die
christliche Welt, die dieses Schweigen hätte erschrecken sollen, fiel
immer tiefer. La Salette ist verachtet, Lourdes zu einer Stätte der
Geschäftemacherei geworden und zu einem literarischen Thema, Pontmain
zu einem frommen Gesangbuchbildchen. Es ist ganz offensichtlich, daß Du
bei Deinem Volk keinen Glauben mehr findest und ihm nicht mehr helfen
kannst. Der Augenblick des Untergangs wäre also gekommen.16)
Weil das Heil der großen Masse unmöglich ist, wirst Du Dich wohl mit
einigen schmerzerfüllten Seelen begnügen müssen, die sich noch an Dich
erinnern und die nichts anderes fordern als gerettet zu werden. Ach!
Sie gehören nicht zu den Zahlreichen und Großen dieser Welt. Man kann
sogar sagen, daß sie zu den Demütigsten und am verborgenst Lebenden
gehören. Es ziemt sich für Dich, Ihnen so zu tun, wie Du es an Melanie
getan hast, in ihrer Kindheit bis zum Ende ihres Lebens, Wunder an
Leiden und gewaltige Größe. Sie werden wie ein Teil von Dir sein und
mit Dir die Erlösung umsetzen, die nur vollendet werden kann durch
Deinen Gemahl, da die Christen tief genug gefallen sein werden, um ihm
die Unbekannte Schmach zuzuerkennen.
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