EIN DOPPELJUBILÄUM:
150 JAHRE LA SALETTE -
150. GEBURTSTAG VON LEON BLOY
von
Eberhard Heller
I.
Am 19. September dieses Jahres wiederholt sich zum 150. Mal jener Tag,
an dem die Gottesmutter zwei Hirtenkindern in den französischen Alpen,
oberhalb des Dorfes La Salette, erschien und mit einem Paukenschlag
ohnegleichen Klarheit über den damaligen Zustand der Kirche, besonders
die geistige Verfaßtheit des Klerus in unmißverständlicher Weise und in
einer bis dahin unerhörten Sprache schaffte: "Die Priester, Diener
meines Sohnes, die Priester sind durch ihr schlechtes Leben, durch ihre
Ehrfurchtslosigkeit und den Mangel an Frömmigkeit bei der Feier der
heiligen Geheimnisse, durch die Liebe zum Geld, zu Ehren und
Vergnügungen, die Priester sind Kloaken der Unreinigkeit geworden. Ja,
die Priester fordern die Bestrafung heraus, und die hängt über ihren
Häuptern. Unheil den Priestern und gottgeweihten Personen, die durch
ihre Untreue und ihr schlechtes Leben meinen Sohn auf's neue kreuzigen!
Die Sünden der gottgeweihten Personen schreien zum Himmel und rufen
nach Rache, und die Rache ist schon vor ihren Türen, denn es findet
sich niemand, der um Erbarmen und Verzeihung für das Volk fleht: es
gibt keine hochherzigen Seelen mehr, es gibt niemand, der würdig wäre,
dem Ewigen das unbefleckte Opfer zugunsten der Welt anzubieten." 1) Von
"Kloaken der Unreinigkeit" hatte sie gesprochen, d.h. dem Durchlauf von
Dreck und Kot. Und dann diese Ankündigung: "Gott wird zuschlagen auf
eine Weise, ohne Beispiel." 2)
Wohl kaum ein Ereignis hat so massiv in die Entwicklung und die
Geschicke der Kirchengeschichte eingegriffen und seine Spuren
eingegraben wie die Erscheinung der Gottesmutter in La Salette, die
tränenüberströmt zwei Hirtenkindern - Melanie und Maximin - eine für
das Schicksal der Kirche so entscheidende Botschaft mitgeteilt hat.
Maria hatte zu ihnen ausdrücklich gesagt: "Laßt sie zu meinem ganzen
Volk gelangen." 3)
Die Mutter Gottes war am Samstag, dem 19. September 1846, dem Vortag
vom Fest Unserer lieben Frau von den sieben Schmerzen, weinend
erschienen, gerade zu jener Stunde, zu der die Kiche im Vespergebet den
Klagegesang auf ihre Tränen anstimmte: "O quot undis lacrimarum, quo
dolore volvitur." ("O, in welches Meer der Tränen, welchen Schmerz,
wird sie getaucht.")
150 Jahre nach der Übermittlung dieser Botschaft muß man mit Schrecken
festhalten, daß die-jenigen, an die sich diese Warnung richtete, d.s.
die Kleriker und Gläubigen der Kirche, die ihre Verantwortung für sich
selbst und die Welt endlich nach dem Willen Gottes hätten wahrnehmen
sollen, die Tränen der glorreich in den Himmel Aufgefahrenen nicht
trocknen wollten, sondern sie zu einem unerschöpflichen Quell der
Trauer und der Qualen überlaufen und das himmlische Ultimatum
verstreichen ließen. Es ist wahr geworden, was die Mutter Gottes
prophezeite: "Rom wird den Glauben verlieren und der Sitz des
Antichrists werden." 4) ... und das trotz der vielen Strafen, die sich
bereits vorher erfüllten, weil die Christenheit nicht auf sie gehört
hatte.
II.
Zum anderen möchte ich auch auf ein weiteres Ereignis hinweisen,
welches nicht weniger denkwürdig und mit dem ersten in schicksalhafter
Weise verknüpft ist und bleibt: Im Jahr der Erscheinung wurde jener
große religiöse Schriftsteller geboren, der später - gewürdigt, vom
Durst nach dem Absoluten gequält, den Becher der Leiden auszutrinken -
zum großen Herold der Botschaft von La Salette wurde und das
intellektuelle Frankreich zur Wallfahrt zum Ort der Erscheinung aufrief
- Léon Bloy, der am 12. Juli dieses Jahres 150 Jahre alt geworden wäre.
Sein Geburtsort ist Périgueux in der Gemeinde Unserer Lieben Frau von
Sanilhac. Sein Vater, ein kleiner südfranzösischer Staatsbeamter mit
einer erstarrten Ehrauffassung, hatte wenig Verständnis für die
geistigen und künstlerischen Interessen seines Sohnes, dessen früher
Hang zur Traurigkeit zu handfesten Auseinandersetzungen mit seinen
Schulkameraden führte. Seine Mutter, spanischer Herkunft, war von
anderer Einstellung. "Sie gehörte zu denen, die das Geschick ihrer
Kinder nicht vorher bestimmen wollen, es vielmehr dem Willen Gottes
anheimstellen. Sie hat unaufhörlich für ihren Sohn Léon gebetet, den
Zweitgeborenen unter ihren sieben Söhnen, der von klein auf ein Kind
der Tränen war. Eine außergewöhnliche Veranlagung zur Traurigkeit
stellte den jungen Léon Bloy sehr bald in Gegensatz zu seinen Kameraden
in der Schule, es gab oft heftige Auseinandersetzungen unter den
Jungen, an denen Bloy einen nicht immer geringen Anteil gehabt haben
soll." 5) Mit 14 Jahren nehmen die Eltern ihn von der Schule. Der junge
Bloy setzt seine Studien als Autodidakt fort. Mit 18 äußert er den
Wunsch, Malerei zu studieren: sein Vater läßt ihn nach Paris gehen.
Bloy arbeitet zuerst bei einem Architekten, dann bei einem Maler,
schließlich wird er Sekretär bei einem Anwalt. Aber immer anziehender
wird für ihn die Literatur: sein Nachbar in Paris ist der große Barbey
d'Aurevilly. Die Bekanntschaft mit ihm hat auf Léon Bloy entscheidenden
Einfluß. Er wird Sekretär des Dichters und durch ihn wird er wieder ein
gläubiger Christ. Bloy ist 23 Jahre alt. Fortan gehört - abgesehen von
einer kurzen Unterbrechung - die tägliche Kommunion bis zu seinem Tod
zur Hauptnahrung... und das ist nicht nur im übernatürlichen Sinne
gemeint: Bloy bleibt zeitlebens ein "Bettler", dem irdische Güter
versagt bleiben.
1870 macht Bloy den deutsch-französischen Krieg als Freiwilliger mit,
danach kehrt er kurzzeitig in sein Elternhaus zurück. Doch seines Vater
Unverständnis für seine Ideenwelt läßt ihn bald wieder nach Paris
zurückkehren. Zeitweise ist er Angestellter bei einer
Eisenbahngesellschaft.
Von Barbey d'Aurevilly wird er in die Welt der modernen,
zeitgenössischen Literatur eingeführt, Bloy liest u.a. Joseph de
Maistre und Donoso Cortès. In Barbey's Haus lernt er einen Kreis
moderner Schriftsteller kennen, von denen Ernest Hello auf ihn
bleibenden Eindruck macht. Bloy entschließt sich, Journalist zu werden,
aber von jener unverwechselbaren, schreckenerregenden Art, die das
Talent benutzt, um Worte einzugravieren, die der Wahrheit, dem
christlichen Glauben dienen sollen... und bald muß er feststellen, daß
sich ein Journalist so nicht nur unmöglich, sondern nur Feinde macht.
Er muß 'betteln', weil seine schriftstellerische Tätigkeit, die den
gesammelten Wider-stand der Arrivierten, der "Bürger" auf sich zieht,
ihn und später seine Familie nicht oder nur unzu-reichend ernähren
kann. "Es ist unerläßlich", sagt er, "daß die göttliche Wahrheit in der
Herrlichkeit steht. Der Glanz des Stils ist kein Luxus, er ist eine
Notwendigkeit." - "Wenn sich Kunst in meinem Gepäck findet, kann ich
nichts dafür! Es bleibt mir kein anderer Ausweg, als in den Dienst der
göttlichen Wahrheit zu stellen, was mir durch die Lüge gegeben worden
ist. Unsichere und gefährliche Hilfsquelle, denn es ist der Kunst
eigen, Götter zu bilden!" - "Ich bin bloß ein armer Mann, der seinen
Gott sucht, indem er mit Schluchzen Ihn auf allen Wegen ruft...".- "Die
Wahrheit, die aus allen meinen Büchern hervorbricht, ist einfach, daß
ich nur für Gott schreibe." 6)
1890 heiratet Bloy Jeanne Molbech, die Tochter des dänischen Dichters
Molbech, die er vor der Hochzeit noch zur Konversion in die kath.
Kirche vorbereitet. 7) Bloy wird Vater von zwei Jungen, die bald nach
der Geburt sterben, und zwei Mädchen, Veronique und Madeleine, der er
später (1911) die von ihm eingeleitete Biographie "Vie de Mélanie,
Bergère de la Salette" widmet. 8) Seine Finanznöte bringen Bloy laufend
in Konflikt mit seinen Vermietern. Abgesehen von einem Aufenthalt mit
seiner Familie in Dänemark, zwei Aufenthalten im Zisterzienserkloster
von Soligny, einem Besuch der Großen Kartause und einigen Ferien auf
dem Land lebt Bloy ständig in Paris, im Schatten der Pariser Kirchen
entstehen seine Werke.
Trotz äußerer Unstetigkeit und unsäglicher Armut wird Bloy für viele
Gottsuchende zum geistigen Mittel- und Ruhepunkt und zugleich zur
Quelle der ewigen Wasser, die allein fähig sind, unseren Durst zu
löschen: viele hat er zum Glauben oder zu diesem zurückgeführt, so den
Maler Henry de Groux, den Philosophen Jacques Maritain und seine Frau
Raïssa, die vor den Abgründen geistiger Leere und dem Selbstmord
standen, den Geologen Termier, dem Bloy "Celle qui pleure" ("Die, die
weint") widmete und viele andere, die über ihn den Weg des Heiles
fanden. Am 3.11.1917 stirbt Bloy in Bourg-la-Reine, einem Vorort von
Paris. Auf dem dortigen Friedhof liegt er begraben. 9)
Eine schöne Schilderung der Persönlichkeit Bloys hat uns Jacques
Maritain hinterlassen, der - obwohl durch Léon Bloy zum katholischen
Glauben geführt - später die Wege des Modernismus mit einebnete. Als er
und seine spätere Frau Raïssa als junge Leute die geistige Leere in
sich verspürten, die scheinbar nur den einen Ausweg läßt, den
Selbstmord, machten sie sich auf die Suche nach dem, der sie nicht nur
zum Glauben führte, sondern auch ihr Taufpate wurde. Er schreibt: "Am
25. Juni 1905 stiegen zwei junge Menschen von zwanzig Jahren die
endlose Treppe hinauf, die zum Sacre Cœur emporklettert. Sie trugen in
sich jene Bedrängnis, die das einzige ernsthafte Produkt der modernen
Kultur ist, und eine Art aktiver Verzweiflung, nur erhellt, sie wußten
nicht warum, von der inneren Sicherheit, daß ihnen eines Tages die
Wahrheit gezeigt würde, nach der sie hungerten und ohne die es ihnen
fast unmöglich war, das Leben anzuerkennen. Eine gewisse ästhetische
Moral hielt sie gerade noch aufrecht, ihre Idee des Selbstmordes (...)
schien den einzigen Ausweg zu bieten. (...) Sie gingen zu einem
seltsamen Bettler, der, alle Philosophie verachtend, die göttliche
Wahrheit von den Dächern schrie, und der, als ein bis zum letzten
gehorsamer Katholik, seine Zeit und die Leute, die hier unten ihre
Tröstung finden, mit mehr Freiheit verdammte, als es alle Revolutionäre
der Welt tun. Sie hatten schreckliche Furcht vor dem, was ihnen
begegnen sollte - sie hatten noch keine Übung im Besuch von
literarischen Genies, und es war auch etwas sehr andres, was sie suchen
gingen. Kein Schatten von Neugier war in ihnen, sondern das Gefühl, das
wie kein andres die Seele mit tiefer Ernsthaftigkeit erfüllt: das
Mitleiden mit der Größe ohne Zuflucht. Sie durchquerten einen kleinen
altmodischen Garten, dann traten sie in ein bescheidenes Haus mit
Büchern und schönen Bildern an den Wänden und stießen zuerst auf eine
große, helle Güte, deren friedevoller Adel beeindruckte, und die Madame
Léon Bloy war; ihre beiden kleinen Töchter Veronique und Madeleine
betrachteten sie mit großen erstaunten Augen. Léon Bloy schien fast
schüchtern, er sprach wenig und sehr leise und versuchte, seinen jungen
Besuchern etwas Gewichtiges zu sagen, etwas, das sie nicht enttäuschte.
Was er ihnen enthüllte, läßt sich nicht erzählen; die Innigkeit der
christlichen Brüderlichkeit und die leise Bebung von Mitleid und
Furcht, die eine von der Gottesliebe gezeichnete Seele angesichts einer
andren Seele erschüttert. Bloy erschien uns ganz das Gegenteil der
anderen Menschen, die ihr schweres Versagen vor den Ansprüchen des
Geistes und so viele unsichtbare Sünden sorgfältig unter der Stukkatur
gepflegter Gesellschaftstugenden verbergen. Hier war kein übertünchtes
Grabmal gleich den Pharisäern aller Zeiten, hier war eine an der Luft
schwarz gewordene Kathedrale. Das Weiße war innen in der Höhlung des
Tabernakels. Wenn man die Schwelle seines Hauses überschritten hatte,
waren alle Werte an einen anderen Platz gerückt, wie durch eine
unsichtbare Mechanik. Man wußte oder man ahnte es: Es gibt nur eine
Traurigkeit, kein Heiliger zu sein. Und alles übrige trat ins Dunkel
zurück." 10)
Aber der Bloy, der der beständige Zeuge Gottes ist, lebt weiter: seine
Freunde und all jene, die seine Unbedingtheit in Dingen des Glaubens
aufgegriffen haben, lassen ihn "sprechen". In vielen Ländern entstehen
Bloy-Freundeskreise, seine Bücher werden in die verschiedensten
Sprachen übersetzt, und überall, wo Menschen sich die Reinheit der
Gedanken bewahrt haben, wo sie arm vor Gott geblieben sind, wird Bloy
verstanden, ob in Mexiko, Kanada, Frankreich oder Deutschland, ein
Land, zu dem Bloy ein problematisches Verständnis hatte, in dem aber
für ihn unübersehbar der große mystische Stern der Katharina Emmerich
leuchtete.
Auch die Redaktion der EINSICHT hat von Anfang an diesem Propheten, der
gegen eine Welt der Mittel- und Halbherzigkeit anrannte, seine
Bewunderung gezollt und seine Ideen, seine religiösen Blitze für unsere
Anliegen eingesetzt, zumal er - Zeuge der sich anbahnenden Katastrophe
11) - schon damals die vielfältigen Ursachen des Glaubensabfalles
bloßgelegt hat, als Mahner seine Stimme auf seine Zeitgenossen
niederprasseln ließ, deren Widerhall noch heute unser Ohr erreicht.
III.
Bloy, der es immer als providentielle Auszeichnung empfand, im Jahr der
Erscheinung von La Salette geboren zu sein, ist derjenige unter den
Schriftstellern - weil selbst "Pilger zum Absoluten" - der die
Eindringlichkeit der Botschaft von La Salette verstand und deshalb auch
um die Unausweichlichkeit des Ultimatums jener Weinenden in
Herrlichkeit wußte. Er selbst ist dem Ruf der Gottesmutter gefolgt. Er
hat vier Wallfahrten nach La Salette unternommen. Aber schon damals
registrierte er den Ungehorsam gegen die Botschaft: "Der Gehorsam
gegenüber der Mutter Gottes, die heute vor 60 Jahren eigens kam, um
ihren Willen zu bekunden, war das einzige Mittel, dessen man sich nicht
bediente." 12)
Für ihn war das ungehörte Verhallen des Niederprasselns der Tränen im
Nichts leerer, unfruchtbarer Herzen, die sich unerweichlich zeigten,
von äußerster Bitterkeit: "Unsere liebe Frau vom Mitleid schluchzte
immerzu auf dem Berg". 13)
Bloy hatte um 1880 einmal den Plan für eine Abhandlung über La Salette
gefaßt, ihn aber wieder verworfen, bis er durch seinen Freund Termier
erneut ermuntert wurde, doch diesen Hymnus auf die Weinende vom Berg zu
schreiben. Seine Abhandlung "Celle qui pleure" ist zugleich echte
Mariologie und historische Analyse. Sie ist diktiert von
unbestechlicher Objektivität, frei von jeder Entschuldigung oder
Beschönigung, und großer Gerechtigkeit gegenüber den beiden
Hirtenkindern, Maximin und besonders gegenüber Melanie, die mit
hartnäckigen Verleumdungen bis in unsere Zeit verfolgt wurde: "La
Salette ist noch nach sechzig Jahren die Quelle des Widerspruchs, wovon
in der hl. Schrift geschrieben ist - und die es lieben, sind dazu
berufen zu leiden." 14)
Nicht, als ob man nach La Salette einfach "zur Tagesordnung"
übergegangen wäre - um La Salette wurde gerungen (die Botschaften waren
zu konkret, zu detailliert, und die angekündigten Strafen bei
Nichtbeachtung der Warnungen waren auf dem Fuß gefolgt), bereits 1851
wurden sie von der Kirche als echt anerkannt, d.h. ihr Inhalt wurde zur
allgemeinen Maxime erhoben, Pius IX. und Leo XIII. förderten die in den
Botschaften aufgelisteten Anliegen, zumal sie durch das weitere
Erscheinen der Mutter Gottes in Lourdes und Fatima bekräftigt wurden,
und man kann auch sagen, daß kaum eine Periode der Kirchengeschichte in
vergleichbarer Weise so unmittelbar durch himmlische Botschaften
beeinflußt wurde 15). Wie endlose Weihrauchfahnen stieg schon zeitweise
das Gebet rund um La Salette in den Himmel auf. Viele kamen, um an
diesem Wunder teilzuhaben, kamen aus Dankbarkeit, kamen, um Buße zu
tun... erst die einfachen, die armen Leute. Léon Bloy war es selbst
vorbehalten, viele Herzen des intellektuellen katholischen Frankreichs
auf diesen so wunderbaren Gebirgsort aufmerksam zu machen. Durch die
Übersetzung von "Celle qui pleure" ins Tschechische (durch seinen
Freund Florian) angeregt, kamen auch viele tschechische Priester zu
Wallfahrten nach La Salette. - Nein, das war es nicht! Was Bloy
erregte, was seine Traurigkeit so ins Grauenerregende steigerte,
bestand in dem Umstand, daß die Botschaft mit ihrer absoluten
Eindeutigkeit nicht allgemein und nicht als unbedingter Befehl der
Gottes Mutter, als wirkliches Ultimatum aufgenommen und bedingungslos
umgesetzt wurde, so wie sie es verlangt hatte. 16) Er resümiert selbst:
"Sechzig Jahre sind verflossen. Man ist irdischer, gottloser,
ungehorsamer geworden und 'hündischer': Aber scheint es nicht, daß
dieser unfaßbare Mißerfolg, dieses ungeheure und zugleich
anbetungswürdige Scheitern der Herrin des Paradieses nach nichts
aussieht, wenn man an den unverzeihlichen Hohn denkt, der an die Stelle
des Gehorsams trat?" 17)
Und den Auftrag der Jungfrau, daß sich wahrhafte Apostel zur Erfüllung
ihrer Mission in ihren Dienst stellen sollten 18), sah Bloy durch die
Installation und die Arbeit der Kleriker, die nach La Salette kamen,
gänzlich verhöhnt: "Die sogenannten Missionare von La Salette,
unschuldig vielleicht infolge ihrer Blödigkeit und Niedrigkeit des
Herzens - aber welch schreckliche Unschuld! - wurden, ich wiederhole
es, eine lächerliche Einrichtung seitens der diözesanen Autorität, dem
ausdrücklichen Befehl entgegengestellt, dem es auszuweichen galt. Die
hl. Jungfrau hatte Apostel verlangt. Man gab ihr Herbergswärter. Sie
hatte wahrhafte Jünger Christi verlangt, die die Welt und sich selbst
gering achteten. Man setzte priesterliche Geschäftsleute ein, fromme
Buchhalter, beauftragt, Werte zu schaffen. Aus der Forderung,
hinzugehen und die Welt zu erhellen, machte man die Anweisung für
Reklame und die Treibjagd auf Pilger." 19)
Bezeichnend für das steigende Desinteresse an den Botschaften dürfte
auch der Umstand sein - und so setzen sich (wie heute wieder! ) sehr
konkrete Mosaiksteinchen zu einem Gesamtbild mit unausweichlichen
Strukturen zusammen -, daß "Celle qui pleure" bei seinem Erscheinen in
Frankreich 1907 ohne nachhaltigen Widerhall blieb. Seinem Freund Raoux
schreibt Bloy am 13.8.1908: "Der Mißerfolg von 'Celle qui pleure' ist
meine große Betrübnis. Für den französischen Klerus ist La Salette ein
Ungeheuer. Die es nicht hassen, verachten es. Wie erschreckend ist
diese allgemeine Untreue, sei sie freiwillig oder nicht. Unnötig
hinzuzufügen, daß ich in den Augen der Mehrzahl der sogenannten
apostolischen Kleriker ein elender Betrüger bin." 20)
Man kann sich die Klagen, die ein Bloy heute angesichts der allgemeinen
Misere über... nein, nicht einmal so sehr über den großen Abfall der
Gesamtkirche - das ist ein Mysterium des Bösen -, sondern über die
Kläglichkeit der sog. Traditionalisten, die mit stolzer Besitzermine
den Glaubensschatz nur als Althergebrachtes, nur als beschützenswertes
Inventar ihres musealen Fundus ansehen, aber nicht als lebendiges
Feuer, für das sie sich verzehren sollten. Er würde wehklagen
angesichts der Blindheit, der völligen Harmlosigkeit und Ideenarmut des
sogenannten kirchlichen Widerstandes, er würde weinen über die
Einfaltspinsel, die vorgeben, das Allerheiligste zu schützen, es aber
aus reinem Heilsegoismus in Wirklichkeit nur schamlos ausplündern und
besudeln. 21) Und dann noch die totale Gleichgültigkeit der sog.
Christenheit gegen jeden echten absoluten Anspruch, der nichts zu tun
hat mit Fanatismus, heftigen Gefühlen oder Sehnsüchten, die im rein
subjektiven Empfinden stecken bleiben. Und dann irgendwo würden wir uns
mit Bloy treffen: in der Verbannung aus dieser gottlosen Gesellschaft,
eingesperrt und allein gelassen mit unserer Ohnmacht.
Für Léon Bloy bedeutete das Erscheinen der weinenden Mutter Gottes vor
den beiden Hirtenkindern "das größte Ereignis seit dem Pfingstmorgen."
"In seinem letzten Tagebuch "Dans les Ténebrès" ("In der Finsternis")
macht uns Bloy durch eine innere Stimme, die er auf dem Grund seiner
Seele hörte, mit seiner tiefen Hingabe an die Botschaft von La Salette
bekannt: 'Du und ich, mein Kind, wir sind das Volk Gottes. Wir sind im
verheißenen Land, und ich selbst bin das Reich des Segens... Denk
einmal nach...! Mein Sohn hat gesagt, daß die, welche weinen, glücklich
gepriesen werden, und weil ich alle Tränen der Geschlechter durchweint
und ihre Qualen durchlitten habe, preisen mich alle Geschlechter. Die
Wunder Ägyptens sind nichts und die Wunder der Wüste noch weniger im
Vergleich zu den Wundern des Lichtes, die ich dir für die Ewigkeit
schenke.'" 22)
Er gab der Weinenden den Namen "Notre Dame de Compassion" d.h. "Unsere
Frau vom Mitleid", die sich aufgemacht hatte aus ihrer himmlischen
Herrlichkeit, um eine letzte Anstrengung zur Rettung der Menschheit zu
unternehmen. Ihre Botschaften waren hypothetisch: "Wenn nicht, dann!"
23) Nachdem Bloy aber als sensibilisierter Zeuge, der sein Auge mit
aller Schärfe auf die geistigen Entwicklungen richtete, die damaligen
religiösen Entwicklungen, konkret: das Ausmaß metaphysischen
Unverständnisses, des Unwillens der modernen Christen, sich dem Willen
Mariens hinzugeben, sah, schrieb er: "Heute ist der Berg von La
Salette, der die Welt zu verschlingen drohte und der 68 Jahre hin und
her schwankte, mit einem Riesenkrach gefallen, und er wird erst in der
Tiefe des Abgrunds anhalten, wenn er alles zerstört hat. Man kann nur
noch um die Gnade der Reue bitten, wenn man nicht ganz verflucht ist,
aber bald wird man nicht einmal mehr sein Leiden anbieten können, weil
keiner es mehr besitzt. Es wird die Zeit der Finsternis kommen, hat die
heilige Jungfrau gesagt, die Entweihung heiliger Orte, die Fäulnis in
den Blüten der Kirche, der Böse wird der König der Herzen... Man wird
nur noch Menschenmorden sehen, man wird nur noch Waffenlärm und Fluchen
hören... Die Erde wird wie eine Wüste... Man kann diese Schrecken schon
im voraus fühlen: Um nur von Hungersnot und Pest zu sprechen, die viel
mörderischer sein können als Kanonen. Man kann sich den teuflischen
Egoismus einer großen Zahl der Kinder der bösen Geister vorstellen, die
von jeher auf die Schandtaten oder auf die Ungerechtigkeit, die ihnen
zum Vorteil ist, und auf die Verzweiflung der wütenden Menge warten.
Ist der Augenblick nicht angezeigt für eine Übung, auf die bis zum
heutigen Tag kein Heiliger verfallen ist: die Nachahmung der heiligen
Angst Jesu Christi im Garten der Todesqual? Was wird aus der kleinen
Zahl der Kinder Gottes, die vor dem ersten Blutvergießen verschont
geblieben sind? Ich weiß nicht, ob alle Angst haben werden, aber ich
weiß wohl, daß ich schon im voraus um mich und um viele andere zittere,
die unfähig sind, zu sehen, was mir seit vierzig Jahren in die Augen
springt." 24)
Über Bloys Beziehung zu der Erscheinung der Mutter Gottes in La Salette
resümiert Helene Kuhlmann: "Der Bericht über die Erscheinung der Mutter
Christi, den die beiden Hirtenkinder aus den Bergen von La Salette
verkündeten, war für Bloy ein Mysterium, das er wie eine hell lodernde
Fackel in seinen Arbeiten aufleuchten ließ. Die Tränen der Mutter des
Herrn sind für Bloy zwar immer unverständlich, aber sie bedeuten ihm
doch eine Erhöhung ihrer Würde.(...) Bloy wäre nicht Bloy, wenn er die
Weinende nicht der Strahlenden vorzöge. Er macht sich in einer Welt
ohne Ritterlichkeit zu ihrem Ritter." 25)
IV.
Bloy erweist diese Ritterlichkeit nicht nur der Mutter Unseres Herrn,
"der Frau vom Mitleid", sondern auch gegenüber den Personen, die von
ihr gewürdigt wurden, solche Drohbotschaften "dem ganzen Volke"
mitteilen zu müssen. Er ließ Gerechtigkeit besonders derjenigen
widerfahren, die hauptsächlich mit der Last der großen Botschaft von La
Salette beladen worden war: Melanie Calvat, dem angeblich so
verblödeten und halsstarrigen Hirtenmädchen, deren Verleumdung sich bis
in die neueste Zeit durchgehalten hat. Denn das Kalkül ist einfach:
Fallen die Empfänger jener grauslichen Drohungen, fallen auch diese
selbst... oder man könnte sie zumindest durch Verfälschungen der
Botschaft relativieren. "Celle qui pleure" ist mitlaufend immer auch
eine Aufdeckung der vielen Gehässigkeiten, Ungerechtigkeiten, und
Verleumdungen, denen Maximin und Melanie besonders von klerikaler
Arroganz ausgesetzt waren. Bloy recherchiert mit der Akribie eines
Detektivs. Und was er enthüllt, sind teilweise Ungeheuerlichkeiten.
Neben der Beschreibung dieser beiden Schicksale läßt Bloy in "Celle qui
pleure" aber auch Melanie, die später als Ordensfrau den Namen "Marie
de la Croix" annimmt, selbst zu Worte kommen 26), ebenso den Domherrn
Annibal-Marie de Franc, der in seiner Trauerrede für Melanie - gehalten
im Dom zu Altamura - auch auf die weitgehend unbekannte Stigmatisierung
Melanies hweist. 27)
Bloy hat darüber hinaus auch die Autobiographie von Melanie Calvat aus
dem Jahre 1900 herausgegeben und mit einer Einleitung versehen, die
weit mehr ist als dies: neben einer Entschlüsselung aller mystischen
Begebenheiten, die Melanies Leben von Anfang an prägten und
gewissermaßen einen himmlischen Ausgleich bildeten für all das Elend,
welches sie auf Erden zu durchleiden hatte, breitet Bloy außerdem die
Herrlichkeit seines mariologischen Wissens vor uns aus.
Anläßlich der beiden Jubiläen - 150 Jahre La Salette, 150. Geburtstag
von Bloy - haben wir uns entschlossen, diese Einleitung in das Leben
Melanies, von der bisher nur Ausschnitte ins Deutsche übersetzt wurden
28), zum ersten Mal dem Publikum in deutscher Sprache vorzulegen. Herr
Christian Jerrentrup hat die Mühe der Übersetzung und der Kommentierung
dankenswerterweise auf sich genommen, damit der ungeheure Ernst der
Botschaft von La Salette, vermittelt durch ein solch sanftes Sprachrohr
in die Herzen jener dringt, die - ergriffen von Mitleid - die Weinende
auf dem Berg zu trösten versuchen.
Eberhard Heller
***
Anmerkungen:
1) Vgl.: "Celle qui pleure" - "Die, die weint" übersetzt von Berta
Diehl, in EINSICHT, 13. Jahrgang, München Nov. 1983, S. 70. - Die
Mutter Gottes hatte ihre Botschaft Melanie zunächst als Geheimnis
mitgeteilt: "Melanie, was ich dir jetzt sagen werde, wird nicht immer
ein Geheimnis sein, du wirst es 1858 veröffentlichen können." Die
heilige Jungfrau wollte, daß Melanie ihr Geheimnis erst nach ihrer
Erscheinung in Lourdes am 11.2.1858 bekannt machen sollte.
2) ebd., S. 70.
3) Die Mutter Gottes wiederholte ihre Mahnung: "Meine Kinder, ihr
werdet dies meinem ganzen Volk mitteilen!" (vgl. auch: Gouin, Paul:
"Melanie, die Hirtin von La Salette", Stein am Rhein 1982, S. 80)
4) "Celle qui pleure" - "Die, die weint", S. 73.
5) Kuhlmann, Helene: "Die Stimme, die in der Wüste ruft" Recklinghausen 1951, S. 10.
6) "Léon Bloy - Der beständige Zeuge Gottes" hrsg. von Raïssa Maritain, eingeleitet von Jacques Maritain, Salzburg 1953, S. 7.
7) Die "Briefe an seine Braut", nach seinem Tod hrsg. von seiner Frau,
dt. von Karl Pfleger, Heidelberg 61958, die die Beziehung vor der Ehe
und die Konversion schildern, nennt der Übersetzer ein "Dokument der
Liebe".
8) Es dürfte erwähnenswert sein, daß der Komponist Professor Othon
Tichy, ein Schwiegersohn Bloys, mit + H.H. Dr. Otto Katzer, einem der
engsten (ehemaligen) Mitarbeiter dieser Zeitschrift, befreundet war.
9) Vgl. zur Biographie auch Kuhlmann, Helene: "Die Stimme, die in der Wüste ruft" Recklinghausen 1951, S. 9 ff.
10) "Léon Bloy - Der beständige Zeuge Gottes" hrsgeg. von Raissa
Maritain, eingeleitet von Jacques Maritain, Salzburg o.J., S. 22 f.
11) Die Mutter Gottes hatte prophezeit: "Die Dämonen werden den Glauben
Stück für Stück untergraben, und das sogar bei gottgeweihten Personen,
die sie auf eine Weise blind machen, daß sie den Geist dieser bösen
Engel annehmen. Falls sie nicht einer besonderen Gnade teilhaftig
werden, werden viele Ordensleute ihren Glauben ganz verlieren und viele
Seelen ins Verderben stürzen". (Gouin, Paul: "Melanie, die Hirtin von
La Salette", Stein am Rhein 1982, S.75).
12) Vgl.: "Celle qui pleure" - "Die, die weint" , S. 9. - Die Widmung
wurde von Bloy am Fest Maria Geburt, d.i. am 8.9.1907 verfaßt.
13) ebd., S. 9.
14) ebd., S. 9.
15) Die angekündigten Konsequenzen für den Fall des Ungehorsams waren
klar: "Wenn mein Volk sich nicht unterwerfen will, muß ich den Arm
meines Sohnes fallen lassen" (ebd., S. 19), d.h. zum Strafgericht.
16) Nicht umsonst hat Bloy dem 1. Kapitel in "Celle qui pleure" die
Überschrift gegeben "Tacet mulier...!" ("Es schweige die Frau...!");
ebd., S. 10 ff.
17) ebd., S. 11.
18) Die Gottes Mutter hatte gebeten: "Ich richte an die Erde einen
dringenden Appell; ich rufe die wahren Jünger des lebendigen Gottes
auf, der da herrscht in den Himmeln. Ich rufe die wahren Nachfolger des
menschgewordenen Christus auf, des einzigen und wahrhaften Erlösers der
Menschheit, ich rufe meine Kinder, meine wahrhaft frommen, die sich mir
ergeben haben, damit ich sie zu meinem göttlichen Sohne führe, ich rufe
jene, die ich gleichsam auf meinen Armen trage, jene, die in meinem
Geist leben; schließlich rufe ich die Apostel der Endzeit, die treuen
Jünger Jesu Christi, die in Geringschätzung der Welt und ihrer selbst
leben, in Armut und Demut, in der Verachtung und im Stillschweigen, in
Gebet und in der Kasteiung, in der Keuschheit und in der Vereinigung
mit Gott, im Leiden und unerkannt von der Welt. Es ist die Zeit, daß
sie sich zu erkennen geben und Licht auf der Erde verbreiten. Kommt her
und erweist euch als meine geliebten Kinder. Ich bin mit euch und in
euch, sofern der Glaube euer Licht ist, das euch erleuchtet in diesen
Schreckenstagen" (Gouin, Paul: "Melanie, die Hirtin von La Salette",
Stein am Rhein 1982, S. 79).
19) Vgl.: "Celle qui pleure" - "Die, die weint", S. 11.
20) Kuhlmann, Helene: "Die Stimme, die in der Wüste ruft" Recklinghausen 1951, S. 39 f.
21) Ich denke da an jene sog. frommen Raffer, die jedem, aber in der
Tat: jedem Schwarzrock nachrennen - er darf ruhig Laie, Vagant,
Sektierer, Schismatiker sein... es macht nichts -, wenn er ihnen nur
absolut dubiose - d.h. in Wirklichkeit: blaspemische!!! - rituelle
Handlungen vorgaukelt.
22) Kuhlmann, Helene: "Die Stimme, die in der Wüste ruft" Recklinghausen 1951, S. 39.
23) Vgl.: "Celle qui pleure" - "Die, die weint", S. 47: "Die Drohungen
von La Salette sind bedingungsweise gegeben. Es gibt Gründe zu glauben,
daß sie dies nicht mehr sind. Die Apostel Mariens, die eingesetzt
hätten werden sollen vor der Flut von Blut und Feuer, werden nachher
kommen, das ist alles."
24) Kuhlmann, Helene: "Die Stimme, die in der Wüste ruft" Recklinghausen 1951, S. 138 f.
25) ebd., S. 38 f.
26) Vgl.: "Celle qui pleure" - "Die, die weint", S. 53 ff.
27) ebd., S. 81 ff.
28) Vgl. "Léon Bloy - Der beständige Zeuge Gottes" hrsgeg. von Raïssa
Maritain, eingeleitet von Jacques Maritain, Salzburg 1953, S. 260 ff.;
S. 298 f.
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