Der hl. Paulus an die Thessolonicher
über die Offenbarung des Antichrists
vom
hl. Augustinus
Viele Aussprüche der Evangelien und der Apostel über das Jüngste
Gericht Gottes muß ich übergehen, sonst würde das Buch einen viel zu
großen Umfang an nehmen; doch den Apostel Paulus muß ich jedenfalls
noch zu Worte kommen lassen mit jener Stelle aus dem Brief an die
Thessalonicher, wo er sagt: "Wir beschwören euch, Brüder, bei der
Ankunft unseres Herrn Jesu Christi und unseres Kreises um ihn, daß ihr
euch nicht so leicht aus der Fassung bringen und erschrecken lasset,
weder durch Geisteseingebung noch durch Berufung auf ein Wort oder
einen Brief von uns, als ob der Tag des Herrn schon vor der Türe
stünde, damit euch nicht jemand irgendwie betöre; denn zuvor kommt erst
noch der Abtrünnige und wird sich der Mensch der Sünde offenbaren, der
Sohn des Verderbens, der Widersacher, der sich erhebt über alles, was
Gott heißt oder verehrt wird, so daß er im Tempel Gottes sitzt, sich
brüstend, als wäre er Gott. Entsinnt ihr euch nicht, daß euch dies
gesagt wurde, als ich noch bei euch war? Und seht auf die Gegenwart:
ihr wisset, was aufhält, bis er zu seiner Zeit sich offenbart. Denn
schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk. Es halte nur fest, wer
jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist; und dann wird der
Bösewicht offenbar werden, den der Herr Jesus töten wird mit dem Hauche
seines Mundes; der wird durch die Klarheit seiner Gegenwart den
vernichten, dessen Gegenwart kraft der Wirkung Satans sich äußern wird
in lauter trügerischen Machttaten, Zeichen und Wundern und in lauter
Verführung zur Bosheit für die, welche verloren gehen, darum, weil sie
die Liebe zur Wahrheit nicht in sich aufgenommen haben, durch die sie
hätten gerettet werden können. Deshalb wird Gott über sie eine Kraft
schicken, die sie betört, so daß sie dem Truge glauben und gerichtet
werden alle, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern der Bosheit
zugestimmt haben." (2 Thess. 2, 1-12)
Kein Zweifel, vom Antichrist macht Paulus diese Aussagen; der Tag des
Gerichtes (diesen meint er mit dem "Tag des Herrn") wird erst kommen,
sagt er, nach dem zuvor der Antichrist gekommen ist, den er den
Abtrünnigen nennt, abtrünnig natürlich von Gott dem Herrn. Kann man
diesen Ausdruck mit Recht von jedem Gottlosen gebrauchen, wieviel mehr
dann von ihm! Dagegen ist ungewiß, was für ein Tempel Gottes gemeint
ist, worin der Antichrist sitzen wird, ob die Ruinen des Salomonischen
Tempels oder aber die Kirche; denn ein Tempel irgendeines Götzen oder
Dämons kommt nicht in Betracht; einen solchen würde der Apostel nicht
Tempel genannt haben. Wegen dieser Schwierigkeit wollen manche als
Antichrist an dieser Stelle nicht den Fürsten selbst verstanden wissen,
sondern sozusagen seinen gesamten Leib, d.i. die ihm zugehörige
Menschenmenge im Verein mit ihm als ihrem Fürsten; es würde dann im
lateinischen Text statt "so daß er im Tempel Gottes sitzt" richtiger
heißen müssen "so daß er für den Tempel Gottes sitzt", wie es im
griechischen Texte heißt, also an Stelle des Tempels Gottes, gleich als
wäre er der Tempel Gottes, d. i. die Kirche; wie wir sagen: "Er sitzt
da für einen Freund", d.i. als ein Freund, und was dergleichen übliche
Redewendungen mehr sind. Wenn es dann weiter heißt: "Und seht auf die
Gegenwart: ihr wisset, was aufhält", d.i. ihr wisset, was verzögert,
was die Ursache seines Zögerns ist, "bis er zu seiner Zeit sich
offenbart", so wollte Paulus das nicht ausdrücklich angeben, weil ja
die Thessalonicher es ohnehin wußten. Aber wir wissen es nicht und
möchten so gern in die Gedanken des Apostels eindringen, ohne doch
trotz aller Mühe dazu imstande zu sein, zumal da die folgenden Worte
den Sinn noch mehr verdunkeln. Sie lauten: "Denn schon ist das
Geheimnis der Bosheit am Werk. Es halte nur fest, wer jetzt fest hält,
bis er aus dem Wege geschafft ist." Was ist damit gemeint? Ich gestehe,
daß ich mir völlig unklar bin, was der Apostel damit sagen wollte. Doch
seien wenigstens die Vermutungen angeführt, die ich darüber zu hören
oder zu lesen in der Lage war.
Manche (u.a. Chrysostomus, Hieronymus) vertreten die Ansicht, der
Ausspruch beziehe sich auf das römische Reich, und der Apostel Paulus
habe es nur deshalb nicht ausdrücklich nennen wollen, um sich nicht der
falschen Beschuldigung auszusetzen, als habe er dem römischen Reich,
das doch als ewig galt, Schlimmes gewünscht; er hätte also mit den
Worten: "Denn schon ist das Geheimnis der Bosheit am Werk" auf Nero
angespielt, dessen Taten bereits die des Antichrists zu sein schienen.
Im Zusammenhang mit dieser Anschauung vermutet man auch wohl, Nero
werde sich wieder erheben und werde der Antichrist sein; oder er habe
überhaupt nicht Selbstmord verübt, sondern sei nur in einer Weise
beiseite gebracht worden, daß man ihn tot glaubte; in Wirklichkeit sei
er lebendig ver-borgen gehalten und verharre in der Blüte der Jahre,
worin er zur Zeit seines vermeintlichen Selbstmordes stand, bis er zu
seiner Zeit erscheine und in die Herrschaft wieder eingesetzt werde.
Aber diese Ansicht dünkt mich allzu absonderlich und abenteuerlich.
Dagegen mag man die Worte: "Es halte nur fest, wer jetzt festhält, bis
er aus dem Wege geschafft ist" recht wohl auf das römische Reich
beziehen, wie wenn es also hieße: "Es herrsche nur, wer jetzt herrscht,
bis er aus dem Wege geschafft wird", d.i. beseitigt wird. "Und dann
wird der Bösewicht offenbar werden", womit der Antichrist gemeint ist,
wie niemand bezweifelt.
Andere jedoch legen sich die Sache so zurecht: sie beziehen beide
Aussprüche: "lhr wisset, was aufhält" und "das Geheimnis der Bosheit",
das am Werk ist, ausschließlich auf jene Bösen und Heuchler, die es
innerhalb der Kirche gibt bis zu dem Zeitpunkt, da ihre Zahl eine Höhe
erreicht, die dem Antichrist ein großes Volk verschafft; und das sei
das Geheimnis der Bosheit, weil es verborgen ist; zum treuen Ausharren
im Glauben aber mahne der Apostel die Gläubigen, wenn er sage: "Es
halte nur fest, wer jetzt festhält, bis er aus dem Wege geschafft ist",
nämlich bis das Geheimnis der Bosheit, das jetzt verborgen ist, aus der
Kirche verschwindet. Diese Auslegung bezieht nämlich eben auf das hier
er wähnte Geheimnis die Worte des Johannes in seinem Brief: "Kinder, es
ist die letzte Stunde, und wie ihr gehört habt, daß der Antichrist
kommen wird, so sind hinwieder gerade jetzt viele Antichriste
aufgetreten; und daran erkennen wir, daß die letzte Stunde ist. Aus
unserer Mitte sind sie ausgegangen, aber sie gehörten nicht zu uns.
Hätten sie zu uns gehört, so wären sie ja bei uns geblieben." (1 Joh.
2,18 f.) Wie also, so erklärt man, vor dem Ende, in der Stunde, die
Johannes die letzte nennt, viele Häretiker, die er als Antichriste
bezeichnet, aus der Mitte der Kirche ausgegangen sind, so werden
seinerzeit alle aus ihr hinausgehen, die nicht zur Gefolgschaft
Christi, sondern zu der des Antichrists gehören, und damit wird der
Antichrist offenbar werden.
So vermutet also der eine dies, der andere das hinter den dunklen
Worten des Apostels; über allem Zweifel fest steht jedoch, daß er
gesagt hat: Christus wird zum Gericht über die Lebendigen und die Toten
erst kommen, nachdem vorher sein Widersacher, der Antichrist, gekommen
ist, die der Seele nach Toten zu betören; doch bildet es allerdings
bereits einen Teil des Gerichtes, daß diese von ihm betört werden. Denn
"dessen Gegenwart wird sich", wie es heißt, "kraft der Wirkung des
Satans äußern in lauter trügerischen Machttaten, Zeichen und Wundern,
und in lauter Verführung zur Bosheit für die, welche verloren gehen".
Jetzt wird nämlich der Satan losgelassen werden und durch jenen
Antichrist mit all seiner Kraft eine zwar wunderbare, aber trügerische
Wirksamkeit entfalten. Man ist indes darin nicht einig, warum diese
Werke trügerische Zeichen und Wunder heißen. Der Trug kann nämlich auf
seiten der blöden Sinne liegen; dann würden es Blendwerke sein, die den
Trug herbeiführen und die darin bestehen, daß der Teufel dem Anscheine
nach Dinge vollbringt, die er in Wirklichkeit gar nicht vollbringt; es
kann sich aber auch um wirkliche Wunder handeln, und dann wäre der Trug
darin gelegen, daß man solche Werke nur göttlicher Macht zuschreiben zu
dürfen glaubt und sich über die Kraft des Satans täuscht, was sehr
leicht möglich ist in einer Zeit, da er eine Gewalt erlangt, wie er sie
bis dahin nie besessen hat. So war es ja auch z.B. kein Blendwerk, als
Feuer vom Himmel fiel und das ganze zahlreiche Gesinde des frommen Job
mitsamt den großen Viehherden mit einem Schlag hinwegraffte und ein
Sturmwind das Haus verschüttete und seine Kinder darin begrub (vgl. Job
1,16; 19); und doch war dies alles das Werk Satans, dem Gott die Gewalt
dazu einräumte.
Welche von den beiden Deutungen nun auf die trügerischen Wunder und
Zeichen des Antichrists zutrifft, das wird sich wohl erst seinerzeit
herausstellen. Ob aber so oder so, jedenfalls werden durch solche
Zeichen und Wunder die betört werden, die es nicht anders verdienen,
"darum, weil sie die Liebe zur Wahrheit nicht in sich aufgenommen
haben, durch die sie hätten gerettet werden können". Ja, der Apostel
nimmt keinen Anstand beizufügen: "Deshalb wird Gott über sie eine Kraft
schicken, die sie betört, so daß sie dem Truge glauben". Gott nämlich
wird schicken, da es seine Schickung ist, die dem Teufel solches zu tun
verstattet, Gott seinerseits nach gerechtem Urteil, während Satan es
freilich in schlechter und boshafter Absicht ausführt. "So daß alle",
schließt der Apostel, "gerichtet werden, die der Wahrheit nicht
geglaubt, sondern der Bosheit zugestimmt haben." So werden sie also auf
Grund eines Gerichtes betört und auf Grund der Betörung gerichtet
werden. Jedoch auf Grund eines Gerichtes werden sie betört werden nach
jenen verborgen gerechten, gerecht verborgenen Gerichten Gottes, nach
denen er seit der ersten Sünde der vernünftigen Schöpfung ohne Unterlaß
richtet; auf Grund der Betörung aber werden sie gerichtet werden bei
dem letzten und offenen Gerichte durch Christus Jesus, der ebenso
gerecht richten wird, als er ungerecht gerichtet worden ist.
("Gottesstaat" XX, 19: in "Bibliothek der Kirchenväter" Bd. 28, Kempten und München 1916) |