NACHRICHTEN, NACHRICHTEN, NACHRICHTEN...
NERVÖS, AGGRESSIV UND UNKONZENTRIERT (ÜBER DAS VERHALTEN JUGENDLICHER IN DEN SCHULEN). -
von Rolf Liffers, in: DEUTSCHE TAGESPOST vom 14.10.93 - Kamen (dpa).
Noch in keinem Jahrgang hat sich der Kulturbruch so massiv gezeigt, wie
bei den Schülern, die 1??1 und ?2 in die Sekundarstufe I, also in die
fünfte und sechste Schulklasse gekommen sind. Dies hat der 46 Jahre
alte Gesamtschullehrer Horst Hensel aus Kamen im Kreis Unna in einer
vor kurzem erschienenen Studie konstatiert. Er entschloß sich, seine
Beobachtungen auf der Grundlage von 22 Jahren Erfahrung
niederzuschreiben. Die fünfzig Seiten umfassende Studie über "die neuen
Kinder" an seiner Schule (...) gipfelt in der Feststellung, daß es kaum
mehr möglich sei, eine der neuen Klassen oder die Mehrzahl der Kinder
zu stetigem Lernen zu bringen. (...) Es herrsche die Einstellung vor,
Lernerfolge müßten sich allein im Unterricht von selbst ergeben,
schreibt Hensel. Die Anzahl der guten Schüler sei so gering wie nie
zuvor, die schlechten dominierten. (...) festzustellen sei aber auch
ein Pluralismus der Werte und Erziehungskonzepte, "der", wie Hensel
schreibt, "an Beliebigkeit grenzt und in Bezug auf die Schularbeit auch
handlungsunfähig macht". Der für Gesamt-, Real- und Hauptschulen
zuständige Gruppenleiter im Düsseldorfer Kultusministerium, Ulrich
Schmidt, erklärte auf Befragen: "Hensel hat mit der Analyse vielen
Lehrern aus der Seele gesprochen." (...) Die Mehrzahl der elf- und
zwölfjährigen Kinder verhält sich nach den Beobachtungen des Kamener
Pädagogen und vieler seiner Kollegen so, als sei "ihr
Zentralnervensystem an das Vorabendprogramm des Fernsehens
angeschlossen": Ihr schulisches Verhalten sei ein "Reflex auf schnelle
Schnitte, Kliff-Hänger und Zapping". Sie seien nervös, könnten sich
nicht konzentrieren, bedürften immer neuer Sensationen, Reize und
Stimulationen, könnten nicht mit sich allein sein, behielten nichts und
strengten sich auch nicht an. Kurzum: "Das Konstante ihrer
Persönlichkeit ist die Flüchtigkeit; ihr Verhalten ist flüchtig wie die
59 Frames je Minute Fernsehfilm." Besonders auffällig sei die
"Instrumentalisierung aller menschlichen Beziehungen, die Asozialität
der Lebensstile, der Werte und die Bevorzugung gewaltsamer Lösungen von
Konflikten". Hierbei sei "die Tendenz wirksam, die gegnerischen
Ansichten oder den gegnerischen Menschen nicht bloß abzuwehren oder zu
beherrschen, sondern zu vernichten." Auffallend nennt Hensel auch die
geringe körperliche Belastbarkeit. Das typische "neue Kind", das in
Kamen von der Grundschule zur Sekundarstufe I wechsle, wird von Hensel
so charakterisiert: "Es ist häufiger ein Junge als ein Mädchen. Die
Eltern des Kindes sind geschieden. Es hat keine Geschwister und lebt
bei der Mutter. Familienerziehung hat es nie erfahren. Es erinnert sich
daran, daß Familie Streit, Gewalt und Alkoholmißbrauch bedeutet." (...)
Täglich sehe es viele Stunden fern. (...) "Horror- und Actionfilme sind
seine tägliche Zerstreuung", schreibt der Kamener Pädagoge in seiner
Studie. (...) Zugleich hat Horst Hensel (...) bemerkt, daß sich das
neue Kind nach Anerkennung sehnt und gar nicht vorhat, faul zu sein
oder sich asozial zu verhalten. Aber "es kann nicht anders." Was das
Kind tut, "muß Spaß machen und leicht sein". Es prügle sich, wenn es in
seiner Individualität behindert werde. (...) Die Mehrheit der Schüler
sei also weder sozial erzogen noch reif, um den Anforderungen der
Sekundarstufe I gerecht zu werden. (...)
Anmerkung der Redaktion: Obiger Bericht ist als Illustration zu dem Beitrag "Die Saat ist aufgegangen" (EINSICHT 4/93, Dezember 1993) gedacht.
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