DAS SIBIRISCHE WUNDER
aus ECCLESIA, Paris
Im Jahre 1951 verhaftete man zehn ukrainische Nonnen, brachte sie ins
Gefängnis, ließ sie Hunger und Durst leiden und bereitete ihnen
körperliche und seelische Qualen. Die Peiniger erreichten ihr Ziel
jedoch nicht. Die Ordensfrauen blieben ihrem katholischen Glauben und
ihren Gelübden treu, und keine verriet den Namen der Oberin. Das Urteil
lautete auf 10 Jahre Zwangsarbeit östlich des Urals.
Die Gefangenen wurden in Viehwagen verladen. Im Wagen der Schwestern
befand sich auch Theodor B., ein deutscher Kriegsgefangener, der ein
Jahr später mit einer Gruppe von Landsleuten begnadigt wurde und nach
Deutschland zurückkehrte. Ihm verdanken wir den folgenden Bericht:
Im Wagen wandte Theodor B. sich an seine Unglücksgefährtinnen und
fragte: "Woher kommen Sie?" Da sie die abgetragene Uniform eines
deutschen Kriegsgefangenen kannten, antwortete ihm eine der Schwestern
in tadellosem Deutsch: "Wir sind ukrainische katholische
Klosterfrauen." "Warum hat man Sie deportiert?" "Weil wir unserem
katholischen Glauben und unseren Gelübden treu bleiben wollen." "Gibt
es viele ukrainische Katholiken?" "Sechs Millionen. Vierzig Millionen
Ukrainer sind orthodox." Theodor B. bewunderte diese Ukrainerinnen.
Stets waren sie sauber gekleidet und sorgfältig gekämmt. Schon um 6 Uhr
morgens begannen sie den Tag mit Gebet und Betrachtung. Die
Wageninsassen hörten ihren erbaulichen Gesprächen bewundernd zu. Am
Abend sangen sie mit weicher melodischer Stimme das Stundengebet in
slawischer Sprache.
Die Fahrt ging zunächst durch die fruchtbare ukrainische Landschaft,
die der Mai mit seiner Blütenpracht überschüttet hatte. Tag und Nacht
rollte der Zug ostwärts. Nach drei Wochen trafen die Gefangenen an
ihrem Verbannungsort in Mittelsibirien ein. Es gab fünf
Konzentrationslager in der Gegend mit Baracken, Stacheldraht und einer
zahlreichen Wachmannschaft mit groben Gesichtern, rohen Zügen und
harten Augen.
Der Lagerkommandant Napluew, ein kämpferischer Atheist, war ein
stumpfsinniger Mann. Bei jeder Gelegenheit ließen er und seine Soldaten
ihrem Haß gegen die Schwestern freien Lauf. Er nannte sie nur "die
tollwütigen Hündinnen des Vatikans". Eines Tages trat er plötzlich in
das Zimmer der Schwestern, riß das Christus- und das Muttergottesbild
von der Wand, warf sie auf den Boden, zertrampelte sie mit den Stiefeln
und brüllte: "Schluß mit dem Aberglauben, ihr Hündinnen!"
Den ganzen Sommer und Herbst waren die armen Klosterfrauen dem Haß und
der Wut des Kommandanten ohnmächtig ausgeliefert. Doch auf alle
Schikanen, Mißhandlungen und Verfolgungen hatten sie nur eine Antwort:
eine engelgleiche Geduld, eine unerschütterliche Ruhe und eine innere
Freude, für Christus und seine Kirche leiden zu dürfen. Dabei wuchs ihr
Ansehen im eigenen und in den benachbarten Lagern ständig. Selbst die
orthodoxen und mohammedanischen Gefangenen nannten sie "Engel vom
Himmel" und "heilige ukrainische Jungfrauen". Die Schwestern betreuten
heimlich die Frauen und Mädchen im Lager und tauften Hunderte von
Erwachsenen. Sie mußten alle erdenklichen Schliche anwenden, um die
Aufmerksamkeit ihrer Wächter abzulenken. Einmal im Monat kam nachts ein
ebenfalls deportierter ukrainischer Geistlicher und feierte die hl.
Messe. Am Morgen verteilten die Schwestern dann die hl. Kommunion.
Dann kam der furchtbare sibirische Winter, der sieben Monate dauert,
von Oktober bis April. Die Temperatur sank auf 50 und 60 Grad unter
Null, der Atem gefror zu Eis und nachts erscholl das Geheul der Wölfe.
Am Dreikönigstag ließ Napluew die Schwestern in sein Büro rufen und
begann ohne Umschweife zu sprechen: "Der sowjetische Staat hat alle
normalen Mittel erschöpft, um euch umzuschulen und zu guten Bürgerinnen
der Sowjetunion zu erziehen. Alles vergeblich. Inzwischen habe ich nun
persönliche Anweisungen von der Zentrale in Moskau erhalten. Ihr seid
fanatische Agentinnen des Vatikans und des ukrainischen Nationalismus,
und ich habe Befehl, strengere Maßnahmen zu ergreifen, um euren
sinnlosen Widerstand zu brechen. Man wird euch eine Woche lang getrennt
in Einzelzellen sperren; als Nahrung werdet ihr einmal am Tag ein Stück
Brot und eine Tasse warmes Wasser erhalten. Sollten auch diese
Maßnahmen ohne Wirkung bleiben, werdet ihr im Anblick des ganzen Lagers
drei Stunden lang, nur mit dem Hemd bekleidet, der Kälte ausgesetzt.
Dann wollen wir sehen, wer recht hat, euer Gott oder die sibirische
Kälte und die Macht des Proletariats. Hier ist eine Erklärung. Ihr
braucht sie nur zu unterschreiben, und ihr bleibt verschont." Mit
diesen Worten reichte Napluew seinem Sekretär ein
maschinengeschriebenes Blatt, der laut vorlas: "Wir, die
unterzeichneten Nonnen der Kongregation .., erkennen unsere
ideologischen Irrtümer an und verzichten daher freiwillig und ohne
jeden Zwang freudig und begeistert auf unser Gelübde und versprechen,
daß wir von jetzt an keinerlei religiöse Tätigkeit und Propaganda unter
den Gefangenen mehr ausüben werden." Nach der Verlesung fragte der
Kommandant die Schwestern: "Ich frage euch zum letzten Mal: Wollt ihr
unterzeichnen oder nicht?" Die Schwestern antworteten ruhig, aber
entschlossen: "Niemals, Kommandant! Unser Gewissen verbietet uns, zu
unterschreiben." "Carascho, gut, meine Kleinen. Dann wird man euch eben
entsprechend behandeln. Karaul, Wärter! Führt diese papistischen
Idioten sofort in die Einzelzellen!"
Es folgen nun sechs Tage unbeschreiblicher Martern. Die Schwestern
wurden in ungeheizte Zellen gesperrt. Am folgenden Sonntag ging Napluew
um 8 Uhr morgens von Zelle zu Zelle und fragte, ob sie nun bereit wären
zu unterschreiben. "Nein, niemals!" war die gleichlautende Antwort
jeder einzelnen. "Charascho!" zischte der Kommandant mit drohender
Miene und befahl, daß sich alle Gefangenen um l0 Uhr zu versammeln
hätten. Zur vorgeschriebenen Zeit standen 2000 Gefangene auf dem großen
Platz des Lagers und bildeten ein riesiges Viereck. Die
Maschinengewehre auf den vier Wachtürmen waren drohend auf sie
gerichtet. Nicht weniger als zehn Kommandos der MWD-Kräfte waren
außerhalb des Vierecks aufgestellt. Napluew und sein Stab traten vor
das Verwaltungsgebäude. Alle waren in dicke Pelze gehüllt und trugen
riesige Astrachanmützen. Jeder führte einen großen, auf Menschen
abgerichteten Polizeihund an der Leine.
Mit barscher Stimme befahl der Kommandant: "Bringt die Gefangenen her!"
Nach wenigen Augenblicken sah die Masse der Gefangenen zehn abgemagerte
Frauen in langem Hemd barfuß aus der Gefängniszelle herauskommen und
sich in die Mitte des Vierecks begeben. Hunderte von Stimmen brüllten
in ohnmächtiger Wut: "Ihr Henker!" Wie könnt ihr die armen Frauen so
behandeln? Fluch über euch, ihr Mörder!" Sofort wurden die
automatischen Waffen auf die Menge der Gefangenen gerichtet, und
Napluew brüllte, außer sich vor Wut: "Ruhe! Ruhe, ihr Hunde! Oder wir
schießen!" Und die Schreie der Menge erstarrten unter der Drohung. Nun
wandte der Kommandant sich an die Nonnen, die sich inzwischen in der
Mitte des Platzes aufgestellt hatten: "Bürgerinnen, das ist meine
letzte Warnung. Entweder ihr unterzeichnet dieses Dokument oder ihr
werdet in einer Viertelstunde in Eisblöcke verwandelt sein." Die Menge
der Gefangenen wartete auf die Antwort der Schwestern. "Wir weigern
uns, zu unterzeichnen. Unser Gewissen als Christinnen erlaubt es uns
nicht."
"Charascho. Wir werden sehen. Wir haben Zeit." Napluew und seine
Gefährten zündeten sich eine Zigarette an. Die Schwestern waren
inzwischen auf dem gefrorenen Schnee niedergekniet und begannen mit
lauter Stimme den Rosenkranz zu beten. Eine Viertelstunde, eine halbe
Stunde vergingen träge. Noch immer knieten die Schwestern an der
gleichen Stelle und fuhren fort zu beten. Der Kommandant verlor
zusehends die Nerven. Schließlich konnte er nicht mehr länger an sich
halten und schrie: "Wenn ihr euch in fünf Minuten nicht bereit erklärt,
zu unterschreiben, lassen wir die Hunde auf euch los."
Kaum hatte er geendet, stimmten die Schwestern das Credo an. Da konnte
sich Napluew nicht mehr beherrschen. Er und seine Leute ließen die
Hunde los und hetzten sie auf die Frauen. Starr vor Schrecken und
Entsetzen stand die Menge der Gefangenen da. Wenn die Hunde nicht
sofort zurückgerufen würden, würden sie den Schwestern an die Kehle
springen und sie zerreißen! Mit heiserem Gebell stürzten die Tiere in
Richtung der Opfer los. Die Schwestern fuhren fort zu singen. Zwei
Meter vor ihnen, schon bereit zum letzten Sprung, hielten die Hunde
jedoch plötzlich inne und legten sich in den Schnee nieder.
Da erhob sich ein ungeheurer Schrei der Erlösung aus den Kehlen der
Gefangenen: "Gott sei gepriesen! Ein Wunder! Ein Wunder! Die
heldenhaften Schwestern sollen leben! Tod den Henkern!" Und die
Tausende der ukrainischen Deportierten stimmten das Te Deum an.
Das Gesicht Napluews lief zuerst rot an und wurde dann leichenblaß. In
ohnmächtiger Wut befahl er den Deportierten und den Schwestern, in ihre
Baracken zurückzukehren.
Das war im Januar 1952. Von da an ließ Napluew die Schwestern in Ruhe.
Ihr Ansehen bei den Deportierten aber war ins Ungeheure gestiegen. Im
folgenden Jahr brachen die berühmt gewordenen Streiks in fast allen
Lagern aus, die von ukrainischen Patrioten organisiert und ausgelöst
worden waren. Und dann kam wie ein Blitz die Nachricht vom Tode
Stalins. Bald danach sprach man vom "Tauwetter". Das Gerücht von einer
teilweisen Auflösung der Lager verbreitete sich unter den Gefangenen
und ließ Hoffnung in ihnen aufkommen. Und wenn auch nicht alle frei
wurden, so konnten doch viele von ihnen in den Jahren 1953/54 in ihre
Heimat zurückkehren.
(zitiert nach "Mitteilungsblatt...")
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