FRIEDRICH SCHLEGELS WEG VON DER ROMANTIK ZUR APOKALYPSE
- Zum neuesten Band der kritischen Werkausgabe -
von
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
"Wir haben an Friedrich Schlegel viel gutzumachen", sagte
zutreffenderweise der deutsche Romanist und Literaturwissenschaftler
Ernst Robert Curtius vor bald siebzig Jahren. Schlegel gehört zu den am
meisten verkannten, zu den meistverleumdeten Geistern der Goethezeit.
Dies gilt insbesondere für den 1808 zur katholischen Kirche
übergetretenen und alsbald nach Wien übergesiedelten Nachkommen
protestantischer Pfarrer und Literaten norddeutscher Herkunft.
In seinen frühen Jahren vor allem durch den erotisch-philosophischen
Miniatur-Roman "Lucinde" und programmatische Romantik-Definitionen
berühmt geworden, schuf Friedrich Schlegel (1772-1829) bis zuletzt
rastlos lesend, sammelnd, forschend und gestaltend sich ein geistiges
Weltreich, mit dem verglichen das Imperium Alexander des Großen
geradezu als Zwergstaat erscheint. Zwar war Schlegel trotz
gelegentlicher Ansätze und Versuche kein echter Dichter, wohl aber ein
Freund namhafter Poeten wie Novalis und Tieck, ein universal gebildeter
Kenner, Kritiker und Deuter der Weltliteratur. Er steht vor uns als der
Stichwortgeber, Theoretiker und Interpret der deutschen Romantik sowie
als geistiger Vorläufer des modernen Romans. Er kann den Ruhm
beanspruchen, mit seiner Abhandlung über Goethes "Wilhelm Meister" die
genialste Rezension vorgelegt zu haben. Auf ihn geht letzten Endes die
durch Nietzsche sprichwörtlich gewordene Entdeckung des "Dionysischen"
zurück. Er gehört zu den Pionieren der Orientalistik wie eines
religiös-kulturell fundierten Europa-Begriffs.
Welche Vielseitigkeit deuten schon die bloßen Titel der Werke seiner
Wiener Jahre an: "Über die neuere Geschichte" (1811), "Geschichte der
alten und neuen Literatur" (1814), "Philosophie des Lebens" (1828),
"Philosophie der Geschichte" (1828), Philosophie der Sprache und des
Wortes" (1830)! Noch überwältigender als die abgeschlossenen Arbeiten
sind die Fragmente jener Zeit, die zwölf Bände der bei Schöningh in
Paderborn erscheinenden kritischen Werkausgabe füllen.
Niemand hat im Laufe der letzten Jahrzehnte in so hohem Maße zu der
überfälligen Wiedergutma-chung beigetragen wie der seit langem in
Washington lehrende Literaturwissenschaftler, Ideenhistoriker und
Romantikforscher Ernst Behler. Seit 1958 betreut er die im Paderborner
Schöningh-Verlag erscheinende kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, die
auf 35 Bände berechnet ist. Der jüngst herausgekommene 21. Band enthält
Aufrufe, Memoranden, Verfassungsentwürfe und philosophische,
theologische und politische Fragmente aus den Jahren 1813 bis 1819,
also aus der Zeit der Befreiungskriege, des Niedergangs des
Napoleonischen Reiches, des Wiener Kongresses und der begin-nenden
"Restauration".
Wiederum erstaunt Friedrich Schlegel durch enzyklopädische
Vielseitigkeit, Interessenfülle und brillante, bisweilen provozierende
Formulierungen. So sagt er beispielsweise, daß der Begriff der
politischen Souveränität eine anmaßende "Gotteslästerung" sei, da im
Grund nur Gott als wirklich souverän angesprochen werden könne.
Er verwirft die Annahme, daß Amerika dazu berufen sei, "der Schauplatz
einer neuen Menschheit" zu sein. Eigentlich habe Amerika "seine
Geschichte schon vollendet", und diese bestand hauptsächlich darin,
Europas Entwicklung durch "Edelmetalle, Tabak und Kartoffeln"
verhängnisvoll zu forcieren. Als Diplomat mißtraute Schlegel Preußen
und Rußland, in welchen er Niederlassungen des "Antichrists" vermutet.
Bemerkenswert ist, daß er ausgesprochen föderalistische Grundsätze
verficht. Im politischen Zentralismus, in der "Vernichtung alles
Lokalen" erblickt er ein "Unglück". Nicht nur das Subsidiaritätsprinzip
der klassischen katholischen Soziallehre sowie der Ganzheitsphilosophie
Othmar Spanns findet sich bereits bei ihm, sondern auch der meist
ausschließlich Karl Marx und Friedrich Engels zugeschriebene Gedanke
eines möglichen (und wünschenswerten) "Absterbens des Staates".
Schlegel spricht ausdrücklich von einem Zustand, in dem "die
Menschheit sich selbst verwaltet, es gar keiner Regierung mehr
bedarf, der Staat aufhört und die Kirche alles in allem ist." Im Jahre
1818 notiert er ähnliches: "Der einzige Zweck aller jetzigen
Weltbewegungen ist die Wiederherstellung und Wiedervereinigung der
christlichen Konfessionen, welche zugleich aber ein Sieg der
katholischen sein wird, und eine Alleinherrschaft der Kirche, die dann
alles in allem sein wird." Gleichzeitig beklagt er die "Unfähigkeit
unseres Zeitalters zur Religion "die in furchtbarer Progression
steigende Weltlichkeit des Lebens." Der "Weg zur triumphierenden
Kirche" sei jedoch eine kampflose Evolution, vielmehr führe er durch
"eine große Weltzerstörung". Die moderne Lehre von der Absolutheit des
Eigentums dünkt Schlegel eine Ausgeburt der Hölle; nie dürfe der Mensch
"absoluter Eigentümer sein, sondern immer nur Nutznießer und
Lehensträger."
Hier nähert sich der katholische Romantiker, ähnlich wie seine
Zeitgenossen Adam Müller und Franz von Baader, ähnlich wie später Karl
Freiherr von Vogelsang (1818-1890), Anton Orel (1881–1959) und der
Zisterzienserabt Alois Wiesinger (1885-1955), einem
christlich-konservativen "Sozialismus der Freiheit". Interessanterweise
verwirft der von seinen Verächtern meist als Marionette Metternichs
schnöde abgetane Denker keineswegs gewaltfreien Widerstand gegen die
Staatsgewalt: "Nicht Volksaufstände, sondern stillschweigende
Opposition gegen den Staat überhaupt werden jetzt immer wirksamer
werden, bis endlich das neue Privatleben, die angewachsenen
Corporationen und die siegende Kirche dem Staat über den Kopf gewachsen
sein werden...". Bildung, Wissenschaft und Schule könnten weder durch
Anschluß an den Staat noch durch Botmäßigkeit unter "das Volk" genesen,
sondern nur durch freundnachbarliche Beziehungen zur wahren Kirche.
Schlegel erinnert daran, daß Christus, bevor er seine Kirche gestiftet
habe, als Lehrer aufgetreten sei und eine eigene "Schule" begründet
habe; nicht umsonst werden die Jünger in der Sprache der Liturgie
discipuli genannt: "Schüler" oder "Lehrlinge" des Herrn. Der wahre
Gelehrte müsse sich auch dann, wenn er kein Priester sei, "als Diener
des Wortes und als Geistlicher" verstehen. Das oft gedankenlos zitierte
Jesus-Wort "Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist", versieht Schlegel
als christlicher Platoniker mit dem geistvollen Zusatz: "Und gebet
Platon, was des Platon ist." Von den Wissenschaften hält er die
Geschichte für "eine durchaus christliche Wissenschaft". Dieses Wort
erinnert an das seines frühverstorbenen evangelischen Jugendfreundes
Novalis, da die Kirche "das Wohnhaus der Ge-schichte" sei. "Ist der
Faden der Überlieferung einmal abgerissen, so sinkt der Mensch in
Blödsinn" bemerkt Schlegel drastisch. Seine eigene höchstpersönliche
Aufgabe erblickt er nicht zuletzt darin, den Faden der Überlieferung
hochzuhalten, und in der "Zusammenknüpfung von Vernunft und Fantasie".
Unbedingt erwähnt werden muß, daß Schlegel sich gerade in seinen
letzten Jahren unermüdlich in die "Hieroglyphensprache der Apokalypse"
vertieft hat. Wie schon vor ihm Abt Joachim von Fiore, Kardinal Pierre
d'Ailly, die Franziskaner Alexander von Bremen und Nikolaus von Lyra,
wie der Physiker Isaac Newton, der Weltpriester Bartholomäus Holzhauser
und die Mystikerin Jeanne-Marie Guyon, versucht er in immer neuen
Ansäzen aufgrund der vielsinnigen Hinweise der Geheimen Offenbarung die
Dauer der Menschheitsgeschichte zu ergründen. Einmal heißt es: "Wir
stehen am sechsten Tag und am Ende des dritten Weltalters", wobei er
voraussetzt, daß die geschichtliche Zeit aus sieben "Tagen" und vier
"Weltaltern" besteht. An anderer Stelle behauptet er: "Wir stehen schon
am Anfang der letzten Epoche vor dem tausendjährigen Reich." Bei diesen
Spekulationen, die schon Clemens Maria Hofbauer nicht ganz geheuer
waren, scheint Schlegel das Christus-Wort denn doch zu wenig zu
würdigen: "Jenen Tag und jene Stunde weiß niemand, auch die Engel in
den Himmeln nicht" (Matthäus 24, 36). Allerdings ist dem
Apokalypse-Deuter und Endzeitkalkulator zugute zu halten, daß er seine
Berechnungen nur privatim, brieflich oder im Zwiegespräch mit einigen
vertrauten Freunden angestellt hat.
Ein erstaunlicher, ein in vielen Hinsichten anregender und beflügelnder
Autor ist zu entdecken. Ein Geistesheros aus dem Geschlecht jener
gottsucherischen Argonauten, von denen es heißt: "Sie zweifelten nicht,
daß sie, wenn auch hundertmal geblendet, dereinst das Antlitz der Sonne
berühren würden." Friedrich Schlegel war ausgezogen, um alle
Anschauungen, die ihm flach, einseitig oder falsch erschienen, mit
Witz, Ironie und Scharfsinn zu bekämpfen. Nach langem Ringen ließ er
das Banner der Empörung vor dem König der Ewigkeit sinken, um in seinem
Dienste sich zu verzehren.
Der Konvertit, Wahlösterreicher und Universalist Friedrich Schlegel
starb in der Nacht vom 11. zum 12. Januar 1829 in Dresden, wo er gerade
einen Vortragszyklus über die "Philosophie der Sprache und des Wortes"
begonnen hatte. Dieser sollte nach seinen Plänen von einem "System der
gesamten christlichen Philosophie" bekrönt werden. Schlegel starb, wie
er gelebt hatte und wie es auch von Platon seinem großen Vorbild,
erzählt wird: schreibend, mit der Feder in der erkaltenden Hand. Der
Tod holte ihn heim mitten in der Niederschrift des angefangenen Satzes,
der geradezu symbolisch seines Denkens tiefste Sehnsucht anklingen
läßt: "Das ganz vollendete und vollkommene Verstehen selbst aber..."
Gerd-Klaus Kaltenbrunner
LITERATURANGABE:
Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hrsg. von
Ernst Behler. Schöningh Verlag, Paderborn 1958 ff. - Jüngster Band:
Fragmente zur Geschichte und Politik. Zweiter Teil. Mit Einleitung,
Kommentar und Personen- sowie Sachregister. Band XXI, Paderborn 1996,
XLI, 548 S.
|