Aus den geistlichen Ansprachen
des
Diadochus von Photike (5. Jahrhundert)
Am Anfang ist dem Getauften die Gnade noch nicht spürbar. Sie wartet
die Selbstentscheidung der Seele ab. Wenn sich jedoch der Mensch ganz
dem Herrgott hingegeben hat, dann offenbart sich die Gnade dem Herzen
durch ein nicht mehr zu beschreibendes Gespür. Dann beginnt sie von
neuem die Bewegung der Seele zu beeinflussen. Sie gestattet dem Teufel,
mit seinen Winkelzügen bis in die Tiefe der Seele einzudringen, um sie
dann zu befähigen, Gott mit einer feurigen Entschlossenheit und
zugleich in demütiger Gesinnung zu suchen. Wenn der Mensch Fortschritte
macht in der Beobachtung der Gebote und in dem ständigen Jesusgebet,
ergreift das Feuer der heiligen Gnade auch immer mehr die äußeren Sinne
des Herzens. Es vernichtet den irdischen, schwankenden Taumel und
schenkt dafür ein sicheres inneres Gespür. In Zukunft erreichen die
Nachstellungen des Teufels nur entfernt die Ufer der Seele, und sie
treffen sie weniger und reizen nur ihre zur Leidenschaft neigende
Seite. Ist der Gotteskämpfer zur Übung aller Tugenden gelangt und
besonders zur vollkommenen Armut, so erleuchtet die Gnade alle Gebiete
seiner Natur durch ein sicheres Gespür und entzündet ihn mit einer
großen Gottesliebe. Die Pfeile des Teufels sinken zu Boden, bevor sie
die Sinne des Körpers erreicht haben. Der Sturm des Heiligen Geistes
treibt das Schifflein des Herzens unter friedlichen Winden und läßt die
Pfeile des Teufels fallen, bevor sie noch in die Luft schwirren.
Wenn wir uns am frühen Wintermorgen mit dem Blick nach dem Osten auf
freiem Felde befinden, dann wird die Sonne nur den vorderen Teil des
Körpers erwärmen und die Rückseite bleibt kalt, da der Sonnenstrahl uns
nicht senkrecht trifft. Genau so geht es denen, die noch im Anfang der
Wirksamkeit des Heiligen Geistes stehen und deren Herz von der heiligen
Gnade nur teilweise erwärmt ist. Das kommt daher, weil der Geist sich
zwar bemüht um die Frucht geistlicher Gedanken, seine niederen
Fähigkeiten aber noch nach dem Fleische streben. Da noch nicht alle
Gebiete des Herzens vom heiligen Lichte der Gnade erfüllt sind, es noch
nicht in die Tiefen eingedrungen und darum noch nicht spürbar ist,
daher kommen der Seele zugleich gute und schlechte Gedanken. So wie es
uns geht in dem oben angeführten Beispiel, wenn wir zugleich das
Frösteln der Kälte und das Angenehme der Wärme verspüren. Seit dem
Tage, an dem unser Verstand zu einer doppelten Erkenntnis abgeglitten
ist, muß er zugleich gute und schlechte Gedanken ertragen. (...) Wenn
wir uns bemühen, immer gute Gedanken zu haben, dann ist der einfallende
schlechte Gedanke eine Mahnung dafür, daß durch den Ungehorsam Adami
unser Gedächtnis in zweifache Gedankenreihen gespalten ist. Wenn wir
mit Begeisterung die Gebote Gottes beobachten, dann wird die Gnade mit
einem tiefen Gespür unsere seelischen Fähigkeiten durchdringen, unsere
eigenen Gedanken 'aufsaugen' und unser Gemüt im Frieden einer
unsagbaren Freundschaft mit Gott befestigen. Sie wird uns befähigen,
geistliche Dinge zu denken, keine fleischlichen. Wir werden unser
Gemüt, wenn wir uns der Vollkommenheit nähern, beständig in Sammlung
bewahren und in Erinnerung an die Gegenwart Jesu.
Der Geist muß allezeit in der Übung der göttlichen Gebote verharren und
in lebendiger Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit. Wenn das Herz mit
brennendem Schmerz die Pfeile des Teufels empfängt und der
Gotteskämpfer spürt, wie sie ihn getroffen haben, dann hat die Seele es
schwer, die Leidenschaften zu verachten, weil sie noch im Anfang ihrer
Reinigung steht. Wer die Schamlosigkeit der Sünde erfahren hat, der
weiß den Reichtum der göttlichen Verzeihung in überströmender Freude zu
schätzen. Wer sich um die Reinigung seines Herzens bemüht, der soll sie
durch die Übung der Gegenwart Jesu erwerben. Das sei seine einzige
Übung und sein ununterbrochenes Streben. Wenn man sich vor dem
Verderben bewahren will, dann heißt es in jedem Augenblick beten. Man
muß jederzeit beten und den Geist gesammelt halten, selbst außerhalb
der Gebetszeiten. Wer das Golderz schmelzen will, der darf keinen
Augenblick das Feuer im Schmelzofen ausgehen lassen, sonst behält das
Erz seine Härte. Dem, der sich bald an Gott erinnnert, bald nicht, geht
es ähnlich; denn er verliert durch die Unterbrechung, was er schon
durch das Gebet erlangt hat. Der Mensch, der die Tugend liebt, ist
derjenige, der unablässig durch die Erinnerung an Gott die irdischen
Schlacken des Herzens entfernt, damit das Böse sich langsam durch die
Erinnerung an das Gute verzehrt und die Seele zum vollkommenen
natürlichen und übernatürlichen Glanz gelangt.
(aus "Kleine Philokalie - Belehrungen der Mönchsväter
der Ostkirche über das Gebet" Einsiedeln 1956, S. 60 ff. - Aus der
Hundertspruchlehre über die geistliche Vollkommenheit - Diadochus war
Bischof von Photike in Alt-Epirus. In seinen asketischen Schriften
betont er die Freiheit und den Willen, ohne das Mitwirken der Gnade zu
schmälern.)
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