DAS UTRECHTER SCHISMA UND DER ALTKATHOLIZISMUS
von
Eugen Golla
Die Entstehung der Alt-katholischen Kirche der Niederlande ist eng mit
Bischof Cornelius Jansenius von Ypern (1585-1638) verbunden, dem
geistigen Urheber - zusammen mit seinem Freund Du Vergier - des nach
ihm benannten Jansenismus. Dieser ist als Reaktion auf die
nach-tridentinische Theologie und auf den in Frankreich vorherrschenden
religiösen Humanismus zu verstehen. Jansenius erneuert in seinem
posthum erschienenen Werk "Augustinus" in gewisser Weise die Irrtümer
des Bajus (1513-1589), der die Übernatürlichkeit des paradiesischen
Urzustandes leugnete, und vertrat dogmatisch eine auf der freien
Gnadenwahl Gottes beruhende, stark von Calvin beeinflußte
Prädestinationslehre, gemäß welcher Gott Seine Gnadengaben in Fülle nur
den Auserwählten gewährt, für die sie unwiderstehlich sind. Nach
Jansenius steht der durch den Sündenfall unfrei gewordene menschliche
Wille solange unter dem unüberwindlichen Einfluß der Lust zum Bösen,
als diese nicht durch die Lust zum Guten (Gnade) überwunden wird. Mit
dieser pessimistischen Theologie stand er im Gegensatz zur kath. Lehre
von der "gratia sufficiens" (hinreichenden Gnade), deren Existenz er
leugnete. Jansenius wollte so mit der zeitgenössischen, im großen
Gnadenstreit auf verschiedene Schulen festgelegten Theologie,
namentlich der, die die Jesuiten vertraten, brechen. In seinem
"Augustinus" befürwortete er die Wiederbelebung augustinischer Ideen
über Gnade und Freiheit, die seiner Meinung nach durch die Scholastik
mißverstanden oder vernachlässigt worden waren. Als weiteres Merkmal
des Jansenismus gilt die Wiederbelebung des Konziliarismus, wonach
einem ökumenischen Konzil die Oberhohheit über den Papst zuzusprechen
ist. Auf dem Gebiet der Moraltheologie sind für den Jansenismus seine
rigoristischen Anforderungen an den Empfang der hl. Kommunion
kennzeichnend: infolge unvollständiger Buße und wegen des Fehlens der
reinen Gottesliebe müßten nach Auffassung der Jansenisten fast alle
Gläubigen vom Empfang der hl. Kommunion ausgeschlossen werden. Durch
seinen Freund Du Vergier, der diese Ideen als Spiritual des Klosters
Port-Royal vertrat, gewann der Jansenismus - auch wegen der strengen
Vorschriften für den Sakra-mentenempfang - einen einflußreichen Kreis
von Anhängern.
1653 verurteilte Papst Innozenz X. durch die Bulle "Cum occasione" fünf
Sätze aus dem Buch des Jansenius. Als aber Papst Alexander VII. 1665
von den Jansenisten eine Unterwerfung unter dieses Urteil forderte,
verweigerten die meisten dessen Unterzeichnung oder sie relativierten
es durch Vorbehalte oder Einwendungen. Da die solchermaßen
vorprogrammierten Streitigkeiten nicht nur die Kirche, sondern auch den
Staat erschütterten, befand sich König Ludwig XIV. meist im Kampf mit
dieser beträchtlichen, häretischen Abspaltung, die besonders in
Frankreich viele Anhänger gewonnen hatte. Wegen der wohlwollenden
Duldung des Jansenismus durch eine nicht unbedeutende Anzahl der
französischen Bischöfe, die dieser Irrlehre eine gewisse Sympathie
entgegenbrachten (womit vornehmlich nur eine besondere Angewiesenheit
auf Gottes Heilswirken gemeint ist, welches durch den Kreuzestod
Christi bewirkt wurde - eine Haltung, die auch heute noch häufig in
Frankreich anzutreffen ist) vermochte aber der König dessen
Fortbestehen in seinem Stammland Frankreich nicht zu verhindern, zumal
viele und gerade die bedeutendsten Repräsentanten in Holland eine
Zufluchtstätte fanden, von wo sie ihre Lehre weiterverbreiten konnten.
Infolge der Reformation war die 1588 entstandene Republik der Vereinten
Niederlande, in deren südlichem Teil noch immer zahlreiche Katholiken
lebten, zum Missionsland geworden. Die kirchliche Aufsicht über diese
Sprengel übernahmen Apostolische Vikare, von denen Pieter Codde wegen
des Verdachts, Jansenist zu sein, nach Rom vorgeladen und 1702
abgesetzt worden war. Er wurde durch Theodor de Cock ersetzt, der schon
1704 wieder abberufen wurde. Danach begann eine Zeit der Verwirrung und
des Aufruhrs, die auf ein Schisma zusteuerte. 1708 bezeichnete der
Nuntius von Köln den Gottesdienst von Priestern, die mit dem
Jansenismus sympathisierten, als unerlaubt. Im Gegenzug verbot die
holländische Republik, die von den Jansenisten gegen den Papst zu Hilfe
gerufen worden war, dem neuen, von Rom eingesetzten Apostolischen
Vikar, sein Amt auszuüben. Infolge dieses gegenseitigen Blockierens
drohte der holländischen Kirche in absehbarer Zeit eine Zerreißprobe.
Gleichzeitig vermehrten sich unter den Jansenisten die Stimmen derer,
welche behaupteten, Rom habe seinerzeit zu Unrecht das Erzbistum
Utrecht infolge der Reformation für erloschen erklärt. Vielmehr seien
die Apostolischen Vikare bis 1702 in Wahrheit als Erzbischöfe von
Utrecht anzusehen. Die den jeweiligen Apostolischen Vikaren zugeteilten
Räte müßten deshalb auch als wahre Rechtsnachfolger des alten Utrechter
Metropolitankapitels betrachtet werden, denen die Wahl eines neuen
Erzbischofs zustehen würde.
Da erschien 1719 in Amsterdam gleichsam wie gerufen ein französischer
Missionsbischof, Dominique-Marie Varlet, der sich auf der Durchreise
nach Persien befand. 1678 in Paris geboren, empfing er 1706 die
Priesterweihe und promovierte. Als Anhänger des Jansenismus gefährdet,
zog er es nach einiger Zeit vor, sich nach Amerika zu begeben, wo er
sechs Jahre in der französischen Kolonie Louisiana im Missisippi-Gebiet
in der Indianer-Mission tätig war. Nach Europa zurückberufen, erhielt
er 1719 im Seminar der ausländischen Missionen in Paris die
Bischofsweihe und wurde mit dem Titel eines Bischofs von Askalon zum
Koadjutor des Bischofs von Babylon ernannt. In Amsterdam wohnte er bei
seinem Gesinnungsgenossen, dem Pastor Jakob Krys und ließ sich dazu
bewegen, 604 Gemeindemitgliedern die Firmung zu spenden. Als er auf der
Weiterreise bereits die Gegend um das Kaspische Meer erreicht hatte,
erhielt er vom Bischof von Ispahan die Mitteilung, er sei von Rom
suspendiert worden, weil er weder auf die Bulle "Unigenitus", die eine
scharfe Verurteilung des Jansenismus enthielt, den Eid abgelegt noch um
die Erlaubnis nachgesucht hatte, in den Niederlanden bischöfliche
Funktionen auszuüben. Varlet verzichtete darauf, sich von Persien aus
zu verteidigen und kehrte nach den Niederlanden zurück, von wo aus er
gegen die Suspension unter Berufung auf ein Allgemeines Konzil
protestierte.
Hierdurch fühlte sich das sogenannte Utrechter Domkapitel soweit
abgesichert, daß es trotz vielfach ungünstiger Gutachten, welches es
bei den Universitäten hinsichtlich einer durchzuführenden Bischofswahl
und -weihe eingeholt hatte, zur Wahl eines neuen Erzbischofs schritt.
Diese fiel auf Cornelius Steenhoven, einen ehemaligen Zögling der
Propaganda und einst Generalvikar des Apostolischen Vikars Codde.
Steenhoven wurde 1723 von Varlet zum Bischof konsekriert. Steenhoven
meldete den Vollzug der Weihe nach Rom, wobei er es nicht unterließ, um
das Pallium nachzusuchen. Natürlich erhob der Papst Einspruch und
erklärte 1724 die Wahl für ungültig, die Weihe für unerlaubt und
Steenhoven selbst für suspendiert. Unter Androhung sofortiger
Exkommunikation wurde ihm die Verwaltung/Spendung der Sakramente
verboten und den Gläubigen untersagt, mit ihm in kirchlicher
Gemeinschaft zu stehen oder Sakramente von ihm zu empfangen. Die
röm.-kath. Kirche der altbischöflichen Klerisei - so der offizielle
Name dieser schismatischen Abspaltung - hatte nun ihren Bischof in
apostolischer Sukzession. Die Utrechter fühlten sich im Recht.
Steenhoven starb bereits ein Jahr später.
Nachdem Varlet noch zwei Nachfolger Steenhovens die Bischofsweihe
erteilt hatte, starb er 1742 in Rhynwick bei Utrecht, von den
Katholiken als Rebell und Schismatiker kritisiert, von den Jansenisten
aber als neuer Johannes Chrysostomus gepriesen.
1742 bzw. 1758 wurden zusätzlich die in der Reformation erloschenen
Bischofsstühle von Haarlem und Deventer neu besetzt. Im Jahre 1763 fand
eine Provintialsynode zu Utrecht statt, deren Akten der Inquisition und
sogar dem Papst zugesandt wurden. Wenn sich auch Papst Klemens XIII.
anfangs nicht ganz ungünstig für eine Beilegung des Schismas aussprach,
da die Synode unter Berufung auf das Tridentinum ihre Rechtgläubigkeit
beteuerte und sich zur Versöhnung mit Rom bereit erklärte, erfolgte
dennoch 1765 ein Verwerfungsdekret, weil sie sich nicht eindeutig gemäß
den früheren päpstlichen Dekreten vom Jansenismus distanzierte.
Dennoch gab es unter Papst Klemens XIV. wiederum intensive
Reunierungsbemühungen, welche über den kaiserlichen Hof in Wien und
seine Kirchendiplomatie liefen. Als Klemens XIV. starb, wurden diese
Bemühungen von seinem Nachfolger, Pius VI., nicht weiter verfolgt. Daß
aber trotz dieses Rückschlags in der Utrechter Kirche das Verlangen
nach einer Versöhnung mit Rom nicht erlosch, kann z.B. daraus ersehen
werden, daß der Erzbischof aus Anlaß des Todes des Bekenner-Papstes
Pius VI. am 18. Oktober 1799 ein Pastoralrundschreiben herausgab, um
für ihn beten zu lassen.
Große Verbitterung herrschte in der röm.-kath. Kirche der
altbischöflichen Klerisei, als 1833 Korn. Kudw. de Wykerslooth wieder
als päpstlicher Vikar bestellt wurde und Pius IX. im Jahre 1853 im
Königreich der Niederlande die katholische Hierarchie unter Errichtung
des Erzbistums Utrecht sowie der vier Bistümer Breda, Haarlem, Roermond
und Herzogenbusch wieder herstellte und die Niederlande somit wieder
aufhörten, Missionsland zu sein. Die Utrechter Kirche bezeichnete in
einer Adresse an den König die Wiedererrichtung als eine sakrilegische
Usurpation und bat ihn, dieser Neubesetzung der Bischofsstühle durch
den Papst die Anerkennung zu verweigern. Anschließend sandte sie auch
ein Protestschreiben an den Papst. Natürlich konnten all diese
Bemühungen die Einführung der von Rom eingesetzten Bischöfe nicht
verhindern, aber die Utrechter Kirche erlangte das Recht, daß ihr
geistliches Oberhaupt offiziell den Titel eines Erzbischofs von Utrecht
(früher: Erzbischof zu Utrecht) führen durfte.
Für noch stärkere Emotionen sorgte im Jahr danach die Verkündigung des
Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Ein Hirtenbrief der
drei Bischöfe der Utrechter Union bemühte sich, sämtliche im Dekret des
Dogmas aufgeführten Argumente zugunsten der unbefleckten Empfängnis zu
widerlegen, wofür in ihm das Kriterium "was überall, zu allen Zeiten
und von allen geglaubt worden ist" des hl. Vinzenz von Lerin verwendet
wurde. Wir dürfen diesen Maßstab für die dogmatische Tradition nicht
geringschätzen, müssen aber berücksichtigen, daß die Interpretation
dieser aus der Frühzeit des Christentum stammende, für den
individuellen Gebrauch gedachten Regel dem Lehramt der Kirche zusteht,
das die Offenbarungswahrheiten weiter auslegt, aber dabei keine
substantielle Veränderung der Wahrheit durch- und einführt.
Die Utrechter protestierten natürlich auch gegen die auf dem
Vatikanischen Konzil 1870 verkündete päpstliche Unfehlbarkeit. Zudem
fühlten sie sich gekränkt, weil sie im Gegensatz zu den schon lange von
Rom getrennten Orthodoxen nicht zu diesem Konzil eingeladen worden
waren.
Für den als Protest gegen das neue Dogma entstandenen Altkatholizismus,
der trotz der Begünstigung, die ihm Bismarck wegen seiner Loslösung von
Rom zukommen ließ, nur relativ wenige Anhänger zählte, wurde es
lebensnotwendig, bald einen Bischof in apostolischer Sukzession zu
besitzen. Der gefeierteste Theologe Deutschlands, Ignaz Döllinger,
lehnte es ab, sich für dieses Amt zur Verfügung zu stellen, da er nicht
"Altar gegen Altar" setzen wollte. Der exkommunizierte
Theologie-Professor Hubert Reinkens ließ sich aber in Köln zum Bischof
wählen, worauf er 1873 vom schismatischen Bischof von Deventer,
Heykamp, konsekriert wurde. Reinkens weihte 1876 Eduard Herzog, einen
alt-katholisch gewordenen Pfarrer zum Bischof der Schweiz. In
Frankreich errichtete einige Jahre später Ch. Loyson die Eglise
catholique gallicane, die er ebenfalls der Jurisdiktion Utrechts
unterstellte.
Einen Markstein in der Geschichte des Alt-Katholizismus bildetet der
1889 erfolgte Zusammenschluß der holländischen Kirchengemeinden mit den
Alt-Katholiken in Deutschland und der Schweiz zur sogenannten Utrechter
Union, der heute auch die Polnische und Kroatische National-Kirche
angehören und in der dem Erzbischof von Utrecht ein Ehrenprimat
eingeräumt wurde.
Bis etwa 1900 zeigten die Utrechter noch immer dem Papst Wahl und Weihe
eines Bischofs an, die er stets mit der Exkommunikation des Weihenden
und des Geweihten beantwortete. Nun trafen sie aus ihrer vom
konservativen Geist geprägten Isolation heraus und beteiligten sich an
den Änderungen auf dem Gebiete der Dogmatik und der Liturgie, die
allmählich den Gegensatz zwischen ihnen und dem Katholizismus
vertieften und sie den Protestanten näherbrachten. Man muß aber dieser
schismatischen Union noch eine gewissen Kirchenbegriff bescheinigen,
der in der Folge jedoch bald aufgegeben wurde.
Die sog. Öffnung zur Welt zeigte sich bei der neu entstandenen
Utrechter Union vor allem auch in einer zunehmenden Bereitschaft,
Angehörigen verschiedener religiöser Gemeinschaften meist sehr dubiosen
Charakters Weihen zu erteilen, die, weil im Besitz der apostolischen
Sukzession, sehr be-gehrt waren. So weihte z.B. der altkatholische
Bischof der Schweiz, Eduard Herzog, die zwiespältigen Abenteurer Joseph
René Vilatte zum Priester, der später der 'Stammvater' zahlreicher
'Kirchen' geworden ist. 1909 erhielt Jan Kowalski, ein Angehöriger der
polnischen Sekte der Mariaviten, über die bereits 1906 von Pius X. der
große Kirchenbann ausgesprochen worden war, vom Utrechter Erzbischof
Gerhard Gul die Bischofsweihe. (Die Weihen der Mariaviten wurden 1950
wegen gravierender theologischer Irrtümer bezüglich des Priestertums
von der röm.-kath. Kirche für ungültig erklärt.) Die Altkatholiken
trennten sich zwar 1924 von den durch mystische Schwärmerei gespaltenen
Mariaviten. Am 4. Sept. 1938 konsekrierte aber Kowalski Marc Paul
Fatome, der am 30. Dezember 1906 von Bischof Herzog in der
alt-katholischen Kathedrale von Bern die Priesterweihe erhalten hatte,
zum Bischof der französischen Kustodie der Mariaviten. 1) Fatome weihte
dann am 9. Oktober 1949 in Mannheim Paul Norbert Maas zum Bischof 2),
den späteren Erz-bischof, der nach dem sog. Vatikanum II
überaus tätigen deutschen Kustodie der Mariaviten. 1908 erfolgte die
Errichtung einer altkatholischen Kirchenorganisation in England. Noch
im selben Jahr wurde Harris Arnold Mathew von Erzbischof Gerhard Gul
zum englischen Regionalbischof konsekriert. Auf ihn geht wohl die
größte Anzahl von Vagantenbischöfen zurück, obwohl die Altkatholiken
bereits 1910 ihre Gemeinschaft mit ihm wegen des Vorlegens falscher
Dokumente gelöst hatten. In der EINSICHT vom Nov. 1996 ist er auch auf
S. 17 in der Sukzessionsliste von Georg Schmitz / Villingen angeführt
(man vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen in diesem Heft). Nach
1910 fanden auch theosophische Anschauungen im Altkatholizismus
Eingang. Die Folge davon war, daß ein Hilfsbischof Mathews 1915 die
Priester R. Gauntlett und R. King zu Bischöfen weihte, von denen
Gauntlett Sekretär eines theosophischen Heiler-Ordens, Psychologe und
Astrologe war. 1916 erhielt der Theosoph J.J. Wedgwood, der Leiter der
neuentstandenen Liberal-katholischen Kirche, die Weihen. 3)
Bereits 1863 forderte Döllinger in einer Rede auf der
Gelehrtenversammlung zu München von der Theologie "die getrennten
Konfessionen einmal wieder in höherer Einheit zu versöhnen". Seine
ökumenische Aktivtät schuf 1874/75 die Bonner Unionskonferenz
altkatholischer, russisch-orthodoxer und anglikanischer Theologen,
deren greifbare Erfolge allerdings lange auf sich warten ließen. Eine
Annäherung an die orientalischen Kirchen hatte zur Voraussetzung die
Anerkennung der altkatholischen Weihen, welche erst 1931 erfolgte.
Zuerst kam eine Einigung mit den Anglikanern zustande. Nach der
Anerkennung der anglikanischen Weihen - entgegen den Bestimmungen Leo's
XIII. in "Apostolicae curae" - kam das Bonner Interkommunionsabkommen
von 1931 zustande, das die Zulassung von Mitgliedern anderer
Religionsgemeinschaften zur Kommunion gestattete, sofern sie am
Wesentlichen des Christentums festhalten würden. (Aufgrund dieser
Sakramentsgemeinschaft dürfte es deshalb den Alt-Katholiken nicht
schwer gefallen sein, nunmehr auch die bei den Anglikanern eingeführte
Frauen-Ordination in jüngster Zeit zu übernehmen.) Zum II.
Vatikanischen Konzil (1962 - 65) wurden auch altkatholische Beobachter
eingeladen. Ihre wohlwollende Beurteilung des Reform-Katholizismus ist
wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß auffallend viele Reformen
des "Aggiornamento" mit der altkatholischen Praxis übereinstimmen.
Abschließend eine kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte auf
dogmatischem und liturgischen Gebiet, in welchen sich die
altkatholische Kirche von der römisch-katholischen Kirche
unterscheidet, wobei man berücksichtigen muß, daß der allgemeine
Auflösungsprozeß in dogmatischer und moral-theologischer Hinsicht auch
bei den Altkatholiken weiter fortschreitet: panta rhei - alles ist im
Fluß.
Als Grundlagen des Glaubens werden nur die dogmatischen Entscheidungen
des ersten Jahrtausends anerkannt. Die disziplinären Entscheidungen des
Konzils von Trient werden abgelehnt; die dogmatischen nur insoweit
angenommen, wenn sie mit der Lehre der alten Kirche übereinstimmen und
ihr gegenüber auch keine Erweiterung enthalten. Das bedeutet
hinsichtlich des Meßopfers: Die eucharistische Zelebration ist keine
Erneuerung des Kreuzesopfers Christi, welches Er ein- und für allemal
am Kreuz dargebracht hat. Sie ist aber dessen immerwährendes Gedächtnis
mit realer Vergegenwärtigung des Kreuzestodes. Damit ist natürlich die
Lehre von der Transsubstantion verworfen und stellt eine gewisse
Annäherung an die protestantische Abendmahlslehre dar. Die Zelebration
der Messe in der Volkssprache setzte schon vor Ablauf des vorigen
Jahrhunderts ein. Auch wurden - wenigstens zeitweise - Messen gelesen,
in denen im "Confiteor" das "semper Virginis" (allzeit reine Jungfrau)
sowie im "Nobis quoque peccatoribus" des Canons die Namen der Heiligen
ausgelassen wurden. Als weitere Unterschiedsmerkmale lassen sich
anführen: Ablehnung der Gleichbehandlung von Schrift und Tradition;
letztere besitzt nur interpretative Autorität. Jede Mittlerschaft der
Gottes-mutter am Werke der Erlösung wird zurückgewiesen. Taufe und
"Abendmahl" sind - ähnlich wie bei den Protestanten - die eigentlichen
Sakramente, die übrigen sind nur von sekundärer Bedeutung. Die Ablässe
werden verworfen, ebenso die Verehrung der Reliquien und der Heiligen.
Letztere werden nur als Vorbilder und Zeugen angesehen. Die
Einzelbeichte wurde abgeschafft, weil es sie in der alten Kirche
angeblich nicht gegeben habe. An ihre Stelle traten Bußandachten. Nach
langem Zögern wurde 1923 die Verpflichtung zum Zölibat aufgehoben. Oft
wurde der Altkatholizismus polemisch "Neu-Protestantismus" genannt -
jetzt dürfte man - abgewandelt auf die reformerische Entwicklung nach
dem sog. II. Vaticanum - eher von einem "Neu-Katholizismus" sprechen.
Anmerkungen:
1) Vgl. Plazinski, Edmund: "Mit Krummstab und Mitra", S.65.
2) ibid., S. 69.
3) Vgl. Eggenberger, O.: "Die Kirchen, Sondergruppen und religiöse Vereinigungen", S. 203.
***
Literatur:
Algermissen, Konrad: "Konfessionskunde" Hannover 1939.
Bartmann, Bernhard: "Lehrbuch der Dogmatik" Bd. 1, Freiburg 1928.
Eggenberger, O.: "Die Kirchen, Sondergruppen und religiöse Vereinigungen" Zürich 1994.
Fahlbusch, E.: "Kirchenkunde der Gegenwart" Stuttgart 1979.
Haack, Fr. Wilh.: "Die freibischöflichen Kirchen im deutschsprachigen Raum" München 1980.
Heyer, Fr.: "Konfessionskunde" Berlin 1977.
König, G.: "Episcopi vagantes" in: "Lexikon der Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungen" Freiburg 1990.
Küry, U. und Chr. Oeyen: "Die altkatholische Kirche" Frankfurt 1982.
Meinhold, P.: "Ökumenische Kirchenkunde" Stuttgart 1962.
Nippold, F.: "Die altkatholische Kirche des Erzbistums Utrecht" Heidelberg 1872.
Pastor, Ludwig v.: "Geschichte der Päpste" Bde. XV-XVI/1, Freiburg 1930/31.
Plazinski, Edmund: "Mit Krummstab und Mitra" St. Augustin-Buisdorf 1970.
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