VOM PARADOX DES CHRISTENTUMS
von
Graham Greene
Schon in der Bergpredigt, einem eigentlichen Hauptportal zu unserem
Glauben, finden wir das Paradox des Christentums, indem uns verheißen
wird, daß ein geheimnisvolles Land den erwartet, der die Grenzen
überschreitet. Die Menschen fühlen sich oft zu unserm Glauben
hingezogen, weil sie sich einbilden, er sei eine Vereinfachung. Aber
die einzige einfache Lösung, die es in der Welt gibt, ist die
Glaubenslosigkeit. Der Existentialismus ist bei aller Gelehrtheit und
Subtilität der Werke, die ihn erläutern, doch nur eine Vereinfachung,
weil er alles beseitigt – mit Ausnahme der Willensfreiheit. Die
materialistische Deutung der Geschichte ist ebenfalls eine
Vereinfachung, weil sie das psychologische Moment und das Wunder außer
acht läßt.
Der Glaube verdunkelt, der Glaube macht uns empfänglich für die
Anwesenheit des Mysteriums, des Paradoxen. Der Glaube ist dem
Lichtstrahl eines Leuchtturms vergleichbar: er leuchtet mit
Unterbrechungen, und auf einem sehr begrenzten Feld erhellt er nur
Abschnitte einer unbegrenzten Landschaft. Wir können ein einfacheres
Leben führen und uns einbilden, daß wir mehr begreifen, wenn wir die
Augen schließen, um nicht längs des Lichtstrahls die Schatten und
ungewissen Formen zu bemerken, die den verstümmelten Statuen einer
unbekannten Kultur gleichen.
Das Bedürfnis zu erkennen und das Bedürfnis, eine einfache Lösung zu
finden, sind zwei tiefe, sich oft widerstreitende Bestrebungen der
menschlichen Natur. Dieses Verlangen nach einer einfachen Antwort
gestattet es manchmal Philosophen und Theologen, ihren Gedanken mehr
und mehr aufzuhellen, bis er schließlich als ein festes Dogma wie das
von der Dreifaltigkeit dasteht, das ebenso einfach wie geheimnisvoll
ist. Aber der Wunsch, eine einfache Lösung zu finden, drückt sich noch
öfter in der Flucht vor dem Mysterium aus, womit man die eine Hälfte
des christlichen Paradoxes unterschlägt."Wer sein Leben verliert, der
wird es gewinnen", – das ist es, was so schwierig zu verstehen ist.
"Sicherheit um jeden Preis" ist ein Schlagwort, das wir alle leicht
annehmen können. Es wendet sich an unsere natürliche und instinktive
Bereitschaft, zurückzuschlagen, wenn jemand uns auf die Wange schlägt.
Die Furcht vor dem dunkeln, unklaren Geheimnis läßt uns die Worte
unseres Herrn durch konkretere und verständlichere Begriffe ersetzen:
"Liebet eure Freunde und tut ihnen Gutes, denn dann besteht einige
Hoffnung, daß es euch zurückerstattet wird."
Heutzutage sehen wir ganze Völker, die ihre Existenz auf der
Abwesenheit des Paradoxes, auf der Vereinfachung aufgebaut haben. Ich
spreche hier nicht von Rußland. Im Herzen der schwärzesten Schatten
jenes kalten Kontinents, des Vaterlandes eines Tolstoj und
Dostojewskij, herrschen nach meiner Überzeugung Spannungen und
Paradoxe, die ihn uns zweifellos weniger fremd erscheinen lassen als
gewisse Länder, in denen Glück, Gerechtigkeit und Hygiene zu Hause
sind. Wir müssen auch an die Kehrseite der Medaille denken: die
Anbetung des Materialismus ist nur ein Lippendienst: man glaubt dort
auch an den Teufel. Man kann aber nicht an den Teufel glauben, ohne
auch zu glauben, daß Gott nahe ist.
Ich werde ein anderes Land als Beispiel nehmen und Sie bitten, mich im
Geiste in eine nordische Stadt zu begleiten, eine der schönsten Städte
Europas, deren Türme sich in schillernden Reflexen klarer Wasser
widerspiegeln und deren Herbstbäume alle Tönungen von Gelb, Gold und
Kupfer aufweisen, in die sich das Scharlachrot des Vogelbeerbaumes
mischt, ein Land, dessen Bevölkerung so gering ist, daß seine sozialen
Einrichtungen die vollkommensten von Europa sind, ein Land, dessen
gütige und großherzige Menschen auch eine väterliche Regierung haben,
die darüber wacht, daß eine gewisse Sittenstrenge geübt wird. Der
Katholizismus ist dort, um es offen zu sagen, so gut wie nicht
vorhanden. Der Protestantismus ist fast erloschen. Aber abgesehen von
der christlichen Religion findet man in diesem Land alles in bester
Ordnung: schöne Bauwerke, gute Ernährung, künstlerische Möbel,
Textilien und Porzellane. Man sorgt sich nicht um die Zukunft. Es gibt
weder Bettler noch Prostituierte.
Jetzt begleiten Sie mich in eine andre Stadt im äußersten Süden; sie
hat einer bestimmten Art von Katholizismus den Namen gegeben, einen
Namen, der sarkastisch gemeint ist. Ein großer Teil der Stadt ist durch
Bombardierungen zerstört worden. Schrecklich verstümmelte Menschen
betteln inmitten der Ruinen. Die überfüllten, hohen Mietskasernen
stellen eine Karikatur von New York dar, ein Bild dessen, was Amerika
nach Jahrhunderten von Krieg und Korruption werden könnte. (Vor einigen
Jahren geschah es hier, daß ein Fußgänger getötet wurde, weil ihm ein
Schwein vom Balkon des sechsten Stockwerkes auf den Kopf fiel: der
Balkon hatte so lange als Schweinestall gedient, bis er unter dem
Gewicht des Tieres nachgab.) Soziale Einrichtungen gibt es wenig,
Sicherheit keine, und die Menschen vermehren sich wie die Maden im
Gorgonzola. Allen Gesetzen zum Trotz betreiben Bordelle in dunklen
Gassen ihre Geschäfte. In den Kirchen drängen sich die Menschen um die
Beichtstühle wie Fliegen auf Fleischstücken... Kurz: hier herrscht
Armut, Prostitution, Unsicher-heit, Bettelei und Aberglaube. . . Und
doch ist in der zuerst geschilderten Stadt die Selbstmordziffer mit am
höchsten in Europa, während man in der andern Stadt nur Lachen hört.
Manchmal zieht eine Prozession mit einem wundertätigen Bild durch die
Straßen, und die staubigen Arbeiterhäuser erscheinen plötzlich wie
verwandelt, wenn an Stelle von Fahnen aus allen Fenstern Bettdecken
hängen. Ist es nicht doch möglich, daß dieses Bild gesprochen, daß jene
Statue sich bewegt hat? Hinter allem Schmutz spüren wir etwas wie das
Zittern einer Hoffnung, einer Hoffnung auf eine Zukunft, die besser ist
als die Gegenwart. In der nordischen Stadt spüren wir nichts als
Gleichgültigkeit: für die Hoffnung ist kein Raum, denn die Zukunft ist
ja schon da. Das Tausendjährige Reich ist bereits angebrochen, und es
kann nie besser werden.
Darin liegt also das Paradox, das wir nur durch Erfahrung und
Beobachtung zu durchschauen vermögen: wo Gott am stärksten gegenwärtig
ist, da ist es auch sein Feind. Und um gekehrt: an Orten, wo der Feind
nicht ist, scheint es uns fast unmöglich, Gott zu entdecken. Man fühlt
sich versucht zu glauben, daß das Böse nur der Schatten ist, den das
Gute in seiner Vollkommenheit wirft, und daß wir eines Tages sogar
dahin gelangen werden, sogar diesen Schatten zu begreifen. Der Christ
wohnt in einer Grenzzone zwischen Gut und Bös, und es ist ein Land der
Räuber. In jener vorhin beschriebenen glücklichen Stadt im Herzen eines
friedlichen Landes weit hinter der Kampflinie finden wir den Teufel
nicht, aber auch Gott finden wir nicht. Wir wissen, daß Gott bei seinen
Soldaten mitten in der Schlacht weilt.
Verkleinern wir nun das Blickfeld von der Stadt auf einen einzelnen
Menschen, wie ich es bei meinem mexikanischen Priester versucht habe.
Nichts ist neu an meinem Priester, denn ein belgischer Priester hat
sich als ein größerer Held erwiesen, als ein besseres Beispiel des
christlichen Paradoxes. Pater Damian de Veuster nimmt bei den
Engländern einen ganz besonderen Platz ein: um ihn zu verteidigen,
schrieb einer unserer berühmtesten viktorianischen Schriftsteller
seinen schönsten Essay. Ich meine den offenen Brief Robert Louis
Stevensons an den Reverend Dr. Hyde in Honolulu. In einer Sydneyer
Zeitung war ein Brief Dr. Hydes, eines wohlsituierten protestantischen
Pastors, veröffentlicht worden, und Stevenson, der nach dem Tode Pater
Damians die Leprasiedlung Molokai besucht hatte, las den Brief und
wurde von einer eisigen Empörung erfaßt, die seine Antwort bis zur
letzten Zeile durchkältet. Und hier taucht nun ein anderes Paradox auf:
dieser protestantische Ehrabschneider, den als advocatus diabolus zu
bezeichnen ein Kompliment wäre, begründet den Ruhm Pater Damians in
England. Denn indem er Pater Damians Ehre angriff, erreicht er, was
frommen Chronisten selten gelingt: er löst morlischen Widerstand,
Skeptizismus und Untersuchungsdrang aus, die nun ihrerseits das Bild
eines Mannes in seiner ganzen Lauterkeit zu Tage fördern.
Ich zweifle, ob der Brief Stevensons in Pater Damians Heimat Belgien
sehr bekannt ist, ganz zu schweigen von dem des Reverend Hyde, den
sicher kein Mensch kennt. Ich werde zunächst den Brief Hydes zitieren,
wenn auch nur, um zu zeigen, auf welchen Tiefstand das Mitleid sinken
kann. Ich möchte – wenn ich mich damit nicht zu sehr in den Vordergrund
dränge – daran erinnern, daß die gleiche Art Mitleid in einer Szene
meines Romans zu finden ist, wo die schamhafte Dame, die mit dem
mexikanischen Priester die Gefängniszelle teilt, über ihre
Schicksalsgenossen schockiert ist. Sie und der Reverend Hyde haben den
gleichen Hang zu vereinfachen.
"Mein lieber Bruder!
In Beantwortung Ihrer Fragen über Pater Damian kann ich Ihnen nur
sagen, daß wir, die wir den Mann kennen, über die maßlosen Lobreden in
den Zeitungen erstaunt sind, als wäre er ein Menschenfreund und ein
Heiliger gewesen. In Wahrheit war er ein schmutziger, grober und
starrköpfiger Frömmler. Er wurde nicht nach Molokai geschickt, sondern
ging unaufgefordert dorthin. Er wohnte nicht in der Leprasiedlung (ehe
er selbst krank wurde), sondern wanderte frei auf der ganzen Insel
umher, von der etwas weniger als die Hälfte für die Aussätzigen
reserviert ist, und er kam oft nach Honolulu. Er hatte keinerlei Anteil
an den neueren Reformen und Verbesserungen, die das Werk unsres
Gesundheitsamtes sind und je nach Notwendigkeit und vorhandenen Mitteln
durchgeführt wurden. Sein Verhältnis zu Frauen war nicht einwandfrei,
und daß er an der Lepra starb, muß seinen Lastern und seiner
Nachlässigkeit zugeschrieben werden. Auch andre Männer haben viel für
die Aussätzigen getan, vor allem unsere Pastoren, die Regierungsärzte
usw., ohne daß sie sich damit nach katholischer Art die ewige Seligkeit
erkaufen wollten."
Stevenson war nicht katholisch, aber ein Schriftsteller hat mit dem
Priester eines gemeinsam: daß er die Menschen studiert, nachdem er sein
eigenes Herz und Denken erforscht hat. Er muß andere verteidigen, und
sei es auch nur, um sich selbst zu verteidigen. Zu vereinfachen wagt er
nicht. Darum schickte Stevenson einer australischen Zeitung eine
Antwort an den Reverend Hyde, von dem er zuerst eine Beschreibung gibt,
wie er sich's in seinem hübschen Salon in einem schönen Haus Honolulus
wohlsein läßt.
"Pater Damian ist zu oft und nach bekanntem Muster mit dem üblichen
Heiligenschein geschildert worden. Die Menschen, die ihn so
darstellten, hatten weder Beobachtungsgabe noch Ausdruckskraft, um das
Individuelle wiederzugeben. Oder vielleicht waren sie blind und stumm
geworden vor lauter überwältigender Bewunderung, die ich ihnen fast
mißgönne und um die Sie, wenn Ihre Seele erleuchtet wäre, auf den Knien
beten sollten. Das ist der geringste Fehler dieser Art Porträtmalerei,
daß sie dem advocatus diabolus den Weg ebnet und dabei dem Verleumder
ein weites Feld von wahren Tatsachen zum Mißbrauch überläßt. Denn die
Wahrheit, die unsre Freunde nicht aussprechen, liefert dem Feind die
beste Waffe in die Hand. Vielleicht schuldet die Welt Ihnen – ganz
gegen Ihren Willen – Dank, weil Ihr Brief ein für allemal dazu
beigetragen hat, daß eine unwahre Wachsmaske ausgetauscht werden konnte
gegen eine glaubwürdige Ähnlichkeit. Denn wenn die Welt sich Ihrer
überhaupt erinnert, so tut sie es wegen einer einzigen Tat: wegen Ihres
Briefes an den Reverend H.B. Gage, – und zwar an dem Tage, wo Pater
Damian von Molokai heiliggesprochen wird."
Danach widerlegt Stevenson der Reihe nach die Behauptungen des Dr.
Hyde: "Pater Damian war grob, dickköpfig und ein Frömmler". Er begegnet
diesen Anschuldigungen nicht, indem er sie verneint, sondern indem er
sie als oberflächliche Wahrheiten entlarvt und die Medaille umkehrt.
"Pater Damian war schmutzig, gewiß. Stellen Sie sich die armen
Aussätzigen vor, die an ihrem schmutzigen Gefährten Anstoß nehmen – und
dann den sauberen Dr. Hyde, der sich in seinem schönen Heim an den
gedeckten Tisch setzt."
"Pater Damians Verhalten zu Frauen war nicht einwandfrei." Stevenson
erzählt, wie eines Tages in einer Kneipe in Apia ein Betrunkener die
gleiche Beschuldigung erhob, und wie die andern Betrunkenen es ihm
heimzahlten.
Er schließt seinen Brief an Dr. Hyde mit den Worten: "Ich fürchte, daß
Sie sich nicht klar sind, welchen Eindruck Sie auf Ihre Mitmenschen
gemacht haben. Und um es Ihnen begreiflich zu machen, will ich einmal
annehmen, Ihre Behauptung sei wahr. Ich will annehmen – und Gott
vezeihe mir diese Annahme –, daß Pater Damian auf dem schmalen Pfad
seiner Pflicht schwankte und strauchelte. Ich will annehmen, daß er,
der hundertmal mehr tat als er gelobt hatte, versagte in der
Buchstabenerfüllung seines Priestergelübdes, weil er gefangen war in
den Schrecknissen seiner Isolierung und vielleicht auch in den Fiebern
seiner heimtückischen Krankheit, – daß er, der ein so viel besserer
Mensch war als Sie und ich und vollbrachte, was wir nie zu träumen
gewagt hätten, – daß er, auch er, an des Menschen Schwäche teil hatte.
'O Jago, wie erbarmungswürdig!' Noch der Roheste wäre zu Tränen
gerührt, der Ungläubigste zum Gebet gezwungen. Doch alles, was Sie tun
konnten, war, einen solchen Brief an Reverend Gage zu schreiben.
Wird es Ihnen überhaupt klar, was für ein Bild Sie von Ihrem eigenen
Herzen entworfen haben? Ich will es Ihnen noch deutlicher machen. Sie
hatten einen Vater. Nehmen Sie einmal an, über ihn wäre solch ein
Gerücht verbreitet worden, und ein Zuträger hinterbrächte es Ihnen
mitsamt den Beweisen. Ich überschätze wohl nicht Ihr fühlendes Herz,
wenn ich annehme, daß die Sache Sie betrüben würde? Daß der Bericht
über eine solche menschliche Schwäche Sie umso grausamer treffen würde,
weil er den verunglimpft, dem Sie Ihr Leben verdanken? Und daß es Ihnen
nie in den Sinn käme, die Sache in religiösen Zeitungen bekanntzugeben?
Für mich ist der Mann, der vollbrachte, was Pater Damian tat, mein
Vater. Er ist auch der Vater des protestierenden Mannes in der Kneipe
in Apia. Er ist der Vater all derer, die das Gute lieben. Er wäre auch
Ihr Vater, wenn Gott Ihnen die Gnade des Erkennens verliehen
hätte."
Erlauben Sie mir, diese kurze Plauderei über die heldenhafte Gestalt
des Paters Damian abzuschließen, der als ein von der himmlischen Gnade
berührtes Menschenkind reich an Widersprüchen ist. Ich wüßte mir kein
besseres Beispiel für das wesentliche Paradox des Christentums, die
allmächtige, allumfassende Koexistenz des Bösen und des Guten, Gottes
und seines Schattens und für die Versuchung in der Wüste, die gleich
dem Abendmahl für immer Sakrament wurde im Leben des
Menschen.
(aus: Graham Grene: "Vom Paradox des Christentums" Zürich 1952, S. 33-46)
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