AUFRICHTIGE ERZÄHLUNGEN
EINES RUSSISCHEN PILGERS
"Gott will, daß wir als seine Söhne zu ihm kommen"
Vorwort:
Ein einfacher Mann aus dem russischen Volk begibt sich auf die
Pilgerschaft: "Betet ohne Unterlaß" - die Erfüllung dieses
Apostelwortes treibt ihn aus seiner Heimat fort, weg auch von den
verwandt-schaftlichen Bindungen. Er durchzieht die weiten Ebenen, immer
auf der Suche nach der Erfüllung des ständigen Gebetes, bis ihn ein
Priester das Jesus-Gebet ("Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner")
lehrt.
Auf seiner Reise begegnet er auch einem Büßer, der sich jahrelang
kasteit hat, ohne jedoch Ruhe zu finden, d.h.ohne die Zweifel,
verworfen zu sein, abwerfen zu können.
***
Hinter einem dicken Baumstamm trat ein Bauer in mittleren Jahren
hervor; er sah sehr elend aus und war blaß. Er fragte mich, wie ich
hierherkäme. Ich fragte dagegen, warum er sich hier aufhalte. Wir kamen
in ein freundliches Gespräch. Der Bauer lud mich in seine Erdhütte ein;
er teilte mir mit, er wäre Waldhüter und müsse diesen Wald bewachen, da
er bald abgeholzt werden solle. Er bot mir Brot und Salz an, und es
entspann sich zwischen uns eine Unterhaltung. "Ich beneide dich", sagte
ich, "daß du so bequem in der Einsamkeit, fern von den Menschen leben
kannst, nicht so wie ich, denn ich pilgre von einem Ort zum andern und
muß mit allerhand Volks zusammenkommen."
"Wenn du Lust hast", sagte er, "bleib hier meinethalben wohnen; drüben,
nicht weit von hier, ist eine alte Erdhütte, die der frühere Waldhüter
bewohnte; obwohl sie nun ziemlich baufällig ist, läßt sich doch noch im
Sommer darin wohnen. Einen Paß hast du, Brot hab' ich zur Genüge, man
bringt es mir wöchentlich aus unserem Dorfe; dort fließt ein Bächlein,
das nie versiegt. Ich selber nähre mich wohl schon seit zehn Jahren nur
von Brot und Wasser; sonst nehme ich nichts zu mir. Und nur eines ist
schlimm: wenn die Bauern im Herbst die Ernte eingebracht haben, werden
etwa zweihundert Holzfäller herkommen und diesen Wald abholzen; alsdann
werde ich selber hier nicht wohnen können, und auch dich wird man hier
nicht leben lassen."
Nachdem ich dieses alles gehört, erfüllte mich eine so große Freude,
daß ich ihm am liebsten zu Füßen gefallen wäre. Ich wußte nicht, wie
ich Gott für diese Gnade, die er mir erwiesen hatte, danken sollte. Wo
nach ich mich gesehnt, was ich gewünscht hatte, war mir nun unverhofft
zugefallen. Bis zum Spätherbst waren noch reichlich vier Monate, und so
könnte ich mich denn in dieser Zeit dem Schweigen und der ersehnten
Ruhe hingeben, um die "Tugendliebe" aufmerksam zu lesen und das
unablässige Herzensgebet zu erlernen und mir anzueignen. So blieb ich
denn voll Freude einstweilen in der Erdhütte, die man mir gewiesen
hatte. Ich kam noch mehr ins Gespräch mit ihm, der mich schlicht wie
einen Bruder aufgenommen hatte; er erzählte mir sein Leben und seine
Gedanken.
"Im Dorf", sagte er, "war ich nicht gerade der Letzte. Ich hatte ein
Handwerk; ich färbte Baumwollstoffe und Leinwand; ich hatte mein
Auskommen, wenn es auch nicht ohne Sünde abging: beim Handeln habe ich
viel betrogen, habe unnützlich Gottes Namen angerufen; ich habe auch
unflätig geschimpft, habe mich betrunken, war ein Raufbold. Wir hatten
in unserem Kirchdorf einen alten Psalmsänger; der besaß ein altes,
uraltes Buch über das Jüngste Gericht. Er pflegte die Rechtgläubigen zu
besuchen und aus dem Buch vorzulesen; dafür gab man ihm Geld; er kam
auch des öfteren zu mir. Gab man ihm zehn Kopeken und setzte ihm noch
einen Schnaps vor, so las er einem vom Abend bis zum ersten
Hahnenschrei vor. So kam es denn, daß ich ihm bei meiner Arbeit
zuhörte, und er las, was für Qualen uns in der Hölle bevorstehen, wie
sich die Lebenden wandeln werden, und die Toten werden auferstehen,
Gott selber wird herabsteigen zum Gericht, die Engel werden in die
Posaunen stoßen, und dann das Feuer, die Flammenglut, siedendes Pech,
und der Wurm wird die Sünder fressen. Als ich dies eine Zeitlang gehört
hatte, kam mich Furcht an. Ich dachte: 'Den Qualen werde ich nicht
entgehen! Halt, ich will mich daranmachen, meine Seele zu retten;
vielleicht werde ich meine Sünden ab büßen.' Lange überlegte ich hin
und her, gab dann mein Handwerk auf, verkaufte die Hütte und ging, da
ich Junggeselle war, als Waldhüter in den Wald unter der Bedingung, daß
mir die Bauern Brot, Kleidung und Wachskerzen für meine Andachten
liefern. So lebe ich denn hier schon über zehn Jahre; ich sättige mich
nur einmal am Tage und nehme auch dann nur Brot und Wasser zu mir; in
jeder Nacht erhebe ich mich mit dem ersten Hahnenschrei und bete dann
unter tiefen Verbeugungen bis zur Dämmerung; wenn ich bete, stecke ich
vor den Heiligenbildern sieben Kerzen an. Wenn ich aber am Tage den
Wald abschreite, trage ich zwei Pud (etwa 65 deutsche Pfund) schwere
Büßerketten am nackten Leibe. Ich schimpfe nicht mehr unflätig; Schnaps
und Bier trinke ich nicht, und mit keinem habe ich Raufereien; Weiber
und Mädchen habe ich mein Lebtag gemieden. Anfangs hat mir dieses Leben
mehr behagt, aber jetzt—gegen Ende—verfolgen mich unentwegt böse
Gedanken. Weiß Gott, ob es einem gelingt, seine Sünden abzubüßen, und
das Leben, das ich führe, ist doch so hart. Und stimmt es auch, was im
Buch zu lesen steht? Wie könnte ein Mensch auferstehen, sollte man
meinen! So mancher ist schon vor hundert Jahren gestorben oder länger
noch, und es ist nicht mal Staub von ihm übriggeblieben. Und wer weiß
denn, ob es eine Hölle geben wird oder nicht? Aus jener Welt ist doch
niemand zu uns gekommen; es scheint, wenn der Mensch stirbt und
verwest, so ist er auch spurlos verschwunden. Das Buch werden wohl die
Popen geschrieben haben und die Vorgesetzten, um uns Narren Angst zu
machen, damit wir gehorsam und bescheiden leben. So plackt man sich
denn auf Erden und findet keinen Trost, und auch in jener Welt wird es
nichts geben. Was folgt denn daraus? Vielleicht wäre es doch besser,
recht vergnügt und bequem auf Erden zu leben?—Dies sind die Gedanken",
fuhr er fort, "die gegen mich anrennen, und ich fürchte, daß ich
schließlich doch noch zu meinem alten Handwerk zurückkehre."
Als ich ihn so reden hörte, tat er mir leid, und ich dachte bei mir
selber: 'Man sagt, daß es Gelehrte und Weise gibt, die Freidenker sind
und an nichts glauben. Aber da nehme man unsereinen, den einfachen
Bauern, was der sich für Unglauben ersinnt! Wohl mag dem Reich der
Finsternis Zutritt zu allen gewährt sein, und es mag ihm ja auch
leichter fallen, gegen einfache Menschen aufzukommen. Gegen den Feind
der Seele muß man sich, sosehr man kann, mit dem Worte Gottes waffnen
und fest darin werden.' Und um diesem Bruder, sosehr ich konnte, zu
helfen und seinen Glauben zu stützen, holte ich aus meinem Beutel die
"Tugendliebe" hervor, schlug das hundertneunte Kapitel des heiligen
Isichios auf, las es ihm vor und begann ihm auseinanderzusetzen, daß
das Meiden der Sünde aus Furcht vor den Qualen weder gut noch fruchtbar
sei, und die Seele könne sich durch nichts anderes vor Gedankensünden
retten als dadurch, daß man über seinen Geist wacht und sich ein reines
Herz bewahrt. Dies alles nun ist durch das innere Gebet zu erlangen.
"Und zwar", fügte ich hinzu, "nicht etwa nur heiligmäßiges Leben aus
Angst vor den Höllenqualen, sondern auch gute Werke, die man tut, um
seine Seele zu retten, um das Himmelreich zu erwerben, nennen die
heiligen Väter ein Mietlingswerk. Sie sagen, Angst vor Qualen sei der
Weg der Knechte, und der Wunsch, das Himmelreich als Lohn zu empfangen
- der Weg der Mietlinge. Gott will aber, daß wir als seine Söhne zu ihm
kommen, das heißt, daß wir aus Liebe und Eifer um ihn ein ehrliches
Leben führen und uns der erlösenden Vereinigung mit ihm in der Seele
und im Herzen erfreuen. Du magst dich noch so sehr kasteien, du magst
die schwersten körperlichen Mühen und Werke auf dich nehmen, wofern du
aber nicht immer Gott sinnst und das unablässige Jesusgebet im Herzen
hast, wirst du nie Ruhe finden vor feindlichen Gedanken und wirst immer
zur Sünde geneigt sein, selbst beim geringsten Anlaß. Mach dich mal
dran, Bruder, das Jesusgebet unablässig zu sprechen; du kannst es ja
doch; und es geht auch an hier in dieser Einsamkeit; sehr bald wirst du
dich von seinem Nutzen überzeugen. Alsdann werden dir die gottlosen
Gedanken nicht mehr zusetzen, der Glaube wird sich dir erschließen und
die Liebe zu Jesus Christus; als dann wirst du es erfahren, wie die
Toten auferstehen, und das Jüngste Gericht wird sich dir so darstellen,
wie es in Wahrheit sein wird. Im Herzen aber wirst du durch das Gebet
eine solche Leichtigkeit und Freude verspüren, daß du staunen wirst,
und du wirst dich nicht mehr grämen, auch nicht mehr zweifeln wegen
deines frommen Lebens."
Dann erklärte ich ihm, so gut ich konnte, wie er mit dem unablässigen
Jesusgebet beginnen und darin fortfahren müsse und was das Wort Gottes
darüber sagt, auch was die heiligen Väter lehren. Scheinbar war er
hiermit einverstanden und wurde ruhiger. Nachdem ich mich alsdann von
ihm getrennt hatte, begab ich mich in die verfallene Erdhütte, die er
mir gewiesen hatte.
(aus: "Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers" hersg. von Reinhold von Walter, Freiburg 1959, S. 46 ff.)
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