MARIA UND DIE KIRCHE von H.H. Prof. Severin Grill SOCist
Es ist eine auffallende Tatsache, daß die messianischen Weissagungen und Vorbilder des Alten Testamentes sowohl auf Christus als auch auf die Kirche gehen. Christus wird nach seiner Menschwerdung im Erdenleben geschaut und in seiner Wirksamkeit als mystischer Christus in der Kirche gesehen. Dabei ist im einzelnen darauf zu achten, welche Verse auf den persönlichen Christus und welche auf den mystischen Gottesknecht gehen. Wenn z.B. vom Gottesknecht ausgesagt wird, daß er das Licht der Welt ist und die Sünden aller hinwegnimmt (Is. 49, 6; 53, 4-10), andererseits ihm vorgeworfen wird, daß er blind und taub ist und es an der Botschaft fehlen läßt (Is. 42, 18-26), so kann das nur von der Kirche gelten, die ihre Pflicht versäumt.
Was nun von Christus, dem Herrn, gilt, das kann in einem gewissen Abstand auch von Maria ausgesagt werden. Der mystische Christus ist in der Kirche, Maria ist Symbol der Kirche. Das ersehen wir besonders aus der Exegese über die Sonnenfrau (Offb. 12, 1-17). Die Verse haben nur dann einen Sinn, wenn wir sie von Maria und der Kirche auslegen. Aber auch hier ist zu unterscheiden zwischen den Eigenschaften der Herrlichkeit und der Niedrigkeit. Die geheimnisvolle Frau hat den Mond unter ihren Füßen und eine Sternenkrone auf dem Haupt. Sie ist also eine ganz hervorragende Gestalt in der Frauenwelt. Der hl. Bernhard sagt: Nicht die Sternenkrone verleiht Maria ihre Würde, sondern ihre Herrlichkeit überträgt sich auf die Sterne. Mit anderen Worten: sie ist die Königin des Himmels und, da wir in der Schrift oft unter diesem die Sterne und die Engel verstehen müssen, die Königin der Engel. Dieser Herrlichkeitsaussage steht die Schilderung der Schwäche gegenüber: die Frau liegt in Geburtswehen, sie muß in die Wüste fliehen, der Drache will ihr Kind (Singular für den Plural) verschlingen, er schleudert ihr auf ihrer Flucht das Wasser (Bild der Verfolgung) nach. Das kann sich alles nur auf die Kirche, nicht aber auf Maria beziehen. J. Kosnetter schließt seine hervorragende Untersuchung über die Sonnenfrau ab mit dem Resultat: die Sonnenfrau bedeutet die Kirche und Maria. (1)
Im 2. Brief an die Korinther, Vers 11, 2, nennt Paulus die Kirche eine keusche Jungfrau, die er Christus zuführen will. Diese Auffassung erinnert an die Vorstellung von der "Jungfrau Israel" und ihre Äquivalente im Alten Test Testament. Israel ist als auserwähltes Volk eine reine Jungfrau und Braut Gottes, die ihm die Treue halten soll. Sie steht unter seinem besonderen Schutze und siegt über ihre Feinde. "Die Jungfrau Tochter Sion verachtet dich und spottet dein, die Tochter Jerusalem schüttelt das Haupt dir nach" (Is. 37, 22; Kge. 19,21) (2). Wenn sie die Treue nicht hält, wird sie getadelt (Jer. 18,13; Ez. 16 und 23). Die Äquivalente für die Jungfrau Israel, die uns in der Literatur des Alten Testamentes begegnen, sind
a) das Weib (Gen. 3,15) Dieses bedeutet zunächst das Volk Israel, insofern es Gottes Wahrheit verkünden soll und verkündet und weiterhin die Kirche. Sie sticht die Schlange in die Ferse, d.h. sie wird verfolgt und verwundet. Aber am Ende zertritt sie den Kopf der Schlange, d.h. sie trägt den Sieg davon im Geisterringen.
b) Die Jungfrau (Is. 7,14). Der ungläubige Achaz glaubte nicht an die Kraft des vertrauensvollen Gebetes. Aber die "Jungfrau Israel" wird den Helden hervorbringen, der ein Wunderzeichen im Himmel oben (Gewittertheophanie) oder auf der Erde unten (Erdbeben) bewirkt und dadurch die Feinde besiegt.
c) Die Braut des Hohenliedes mit ihren Ehrenattributen: Schwester der Engel (1,6; 8,8) - gleichwertig gewachsen dem Kriegswagen des Pharao (1,9), dem Prototyp der Gottfeindlichkeit - angestellt im Weinberg des Herrn (1,6) - die Hauptfrau unter 60 + 80 Nebenfrauen, d.h., da "siebzig" die Symbolzahl für die Völker außerhalb Israels ist, also zweimal siebzig Völker = sehr viele Völker; aber unter diesen das auserwählte Volk. Alle diese Attribute der Braut bringen die einzigartige Würde der Jungfrau Israel zum Ausdruck, und alle diese Äquivalente der Jungfrau Israel, vorgebracht mit brennender Sehnsucht, daß die Mutter des Erlösers bald erscheinen und diesen Sohn gebären werde, haben ihre Erfüllung in Maria gefunden. Nun hat die Gebärerin schon geboren den großen Befreier (Mich. 5, 2), der auftritt und weidet in der Kraft des Herrn und vordringt als Sieger im Kampfe (Ps. 44, 4-5). Nun können die Völker schon eintreten durch die Pforte "Bathrabbim" "in die Stadt Gottes , welche die wahre Braut behütet hat als eine Mauer, und keine Tür ist offengelassen für das Eindringen eines Irrtums" (Hl. 8,9-10), auch nicht zu der Zeit, da die kleine Schwester der Engel (= die Kirche) angesprochen, d.h. umworben wird von ihren falschen Freunden.
Es ist tief bedauerlich, wenn es heute noch Protestanten gibt, die kein Verständnis haben für diese inneren Zusammenhänge und kein Gefühl für die Berechtigung, ja Notwendigkeit der Marienverehrung aufbringen. Wer den Sohn nicht ehrt, ehrt auch den Vater nicht. Wer Maria nicht verehrt, liebt auch die Kirche nicht.
Aber noch bedauerlicher ist es, wenn katholische Theologen das Geheimnis nicht erkennen und Maria herabsetzen.
Anmerkungen: (1) Theologische Fragen der Gegenwart. Festschrift für Kardinal Th. Innitzer, Wien 1952. (2) So ruft Israel dem geschlagenen Feinde, Senacherib von Assyrien, der Jerusalem erobern wollte (701 vor Christi Geburt) nach.
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